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Frei­tag­abend in Sout­hampton, 25. Oktober 2019. In den Kata­komben des St. Mary‘s Sta­dium wird Trainer Ralph Hasen­hüttl von der BBC zum größten Heim-Debakel in der Geschichte der ersten eng­li­schen Liga befragt. Der FC Sout­hampton hat soeben mit 0:9 zuhause gegen Lei­cester City ver­loren. Der groß­ge­wach­sene Öster­rei­cher ist plötz­lich ganz klein. Geknickt, fast schon beschämt schaut er auf den Boden. Nervös kaut er auf der Lippe herum und sucht nach Worten. Schließ­lich erklärt er: »Es war ein Desaster. Ich muss mich ent­schul­digen, ich habe noch nie ein Team sich so ver­halten sehen, es gab keinen Kampf, nichts.«

Nur 78 Tage später sieht die Welt an der Süd­küste Eng­lands kom­plett anders aus – auch wegen dieses Abends. Eine Chro­no­logie.

Tage 1 – 14: Selbst­er­kenntnis

Diese 0:9‑Klatsche war ein neuer Tief­punkt in der 134-jäh­rigen Ver­eins­ge­schichte. Von der Euphorie, die der 52-Jäh­rige bei seiner Ankunft nicht nur mit 19.000 Frei­bier für die Fans bei seinem Debüt aus­löste, war keine Spur mehr.

Der einst munter spru­delnde Tal­ent­brunnen der Saints-Aca­demy, der Spieler wie Gareth Bale her­vor­ge­bracht hatte, schien aus­ge­trocknet. Und auch die ver­hal­tenen som­mer­li­chen Inves­ti­tionen auf dem Trans­fer­markt unter Besitzer Gao Jis­heng konnten den Kader nicht wesent­lich ver­stärken. Doch bereits in der Saison zuvor, die Sout­hampton auf Platz 16 abge­schlossen hatte, stand die Mann­schaft nicht für indi­vi­du­elle Qua­lität. Das ein­zige, worauf sich der FC Sout­hampton seit Dezember 2018 wirk­lich ver­lassen konnte, war Hasen­hüttls Pres­sing-ori­en­tierte Spiel­phi­lo­so­phie, die über indi­vi­du­elle Schwä­chen hin­weg­täuschte.

Nun aber, im Herbst 2019, schien auch diese zu brö­ckeln. Auf die Schmach gegen Lei­cester folgten für die sicht­lich ver­un­si­cherte Mann­schaft Nie­der­lagen gegen Man­chester City und Everton. Nach zwölf Spiel­tagen stand Sout­hampton mit ledig­lich acht Punkten auf dem vor­letzten Tabel­len­platz der Pre­mier League. »Auch ich musste selbst­kri­tisch sein und zugeben, dass ich auf dem fal­schen Weg war«, blickte Hasen­hüttl auf der Pres­se­kon­fe­renz vor dem Rück­spiel gegen Lei­cester auf die größte Krise seiner Saints-Kar­riere zurück. Jene Selbst­er­kenntnis war es, die Hasen­hüttl und seine Truppe wieder auf die rich­tige Bahn. führen sollte. Die ent­spre­chenden Kor­rek­turen unter­nahm er in der fol­genden Län­der­spiel­pause.

Tage 15 – 29: Kor­rek­tur­phase

Was also lief falsch? »Wir wurden nicht sta­biler, indem wir uns immer tiefer und tiefer auf­stellten«, erin­nerte sich Hasen­hüttl. Sout­hampton presste noch immer, aller­dings nicht mehr so früh und nicht mehr mit der Inten­sität und der Ent­schlos­sen­heit der Vor­saison. Die Abwehr, die sich seit dem Abgang Virgil Van Dijks nach einem Sta­bi­li­sator sehnt, wurde regel­recht über­flutet. Der Angriff wirkte leblos. 11:29 Tore – das schlech­teste Tor­ver­hältnis der Liga – spra­chen Bände.

»Also mussten wir Vollgas geben«, erklärte der Trainer und ergänzte: »In der Län­der­spiel­pause haben wir ein paar Knöpfe gedrückt und ich glaube es waren die rich­tigen.« Wenn­gleich er nach geschei­terten Expe­ri­menten mit einer Drei­er­kette zu seinem aus Leipzig-Zeiten erprobten 4−4−2÷4−2−2−2 zurück­kehrte, die Sys­tem­wechsel waren für ihn aus­schlag­ge­bend: »Es war nicht wirk­lich die For­ma­tion. Es war das Ver­halten nach Ball­ver­lusten, nicht über Fehler zu dis­ku­tieren, son­dern sich mehr auf das Gegen­pres­sing zu kon­zen­trieren.«

Tage 30 – 77: Umset­zung

Mit dem hart erkämpften 2:2 gegen den FC Arsenal am 23. November begannen die Saints dann end­gültig mit der kon­se­quenten Umset­zung ihrer Kor­rek­turen. Eine wort­wört­lich zen­trale Rolle spielte dabei Eigen­ge­wächs James Ward-Prowse. Mit der Sys­tem­um­stel­lung kehrte der schmäch­tige Mit­tel­feld­dy­namo engültig von der Außen­bahn ins Zen­trum zurück und konnte hier mit tat­kräf­tiger Unter­stüt­zung des jüngsten Kapi­täns der Liga, Ex-Bayern-Spieler Pierre-Emile Höjb­jerg, die wie­der­ent­deckte Marsch­route vor­geben. Die eng­lisch-däni­sche Kom­bi­na­tion beackerte plötz­lich uner­müd­lich die Plätze der eng­li­schen Liga und erstickte durch rasantes Zustellen und knall­harte Tack­lings die geg­ne­ri­schen Schalt­zen­tralen. »Als der Trainer kam, hatten wir direkt eine Iden­tität in unserem Spiel – mit und ohne den Ball – und ich glaube das hatten wir etwas ver­loren«, gestand Ward-Prowse auf der ver­eins­ei­genen Web­site im Dezember.

Und siehe da, im Ver­gleich zu den ersten zwölf Spielen erzwangen die Saints in den neun Par­tien nach der Län­der­spiel­pause im Schnitt vier Ball­ver­luste mehr pro 90 Minuten (25,58 zu 29,4). Die Defen­sive wurde ent­lastet, was auch zu deut­lich weniger Gegen­toren führte. Kas­sierte Sout­hampton vor dem 23. November noch 2,41 Tore pro Spiel, waren es jetzt nur noch 1,0 – der dritt­beste Wert der Pre­mier League. Doch das effi­zi­en­tere Pres­sing wirkte sich auch auf die Offen­sive aus. Ganz nach Hasen­hüttls Motto »der beste Spiel­ma­cher ist der Bal­ler­oberer« kam Sout­hampton durch die frühen Ball­ge­winne auch öfter und in fort­ge­schrit­te­neren Posi­tionen zu Tor­chancen. Hier kommt nun Danny Ings ins Spiel, der im Hasenhüttl‘schen System als anti­zi­pa­tions- und abschluss­starke Sturm­spitze fun­giert.

Einst mit viel Hoff­nung zum FC Liver­pool gewech­selt, ist der Eng­länder mit dem Schlaf­zim­mer­blick und dem nahezu kom­plett täto­wierten Ober­körper nach unzäh­ligen Ver­let­zungen nun die Über­le­bens­ver­si­che­rung der Saints. 14 der 27 Klub­tore gehen auf das Konto des 27-Jäh­rigen – die größte Abhän­gig­keit der Pre­mier League. Alleine acht der 14 Treffer Sout­hamp­tons in den letzten neun Spielen – die viert­meisten der Liga über diesen Zeit­raum – erzielte Ings. Ins­ge­samt holte die Hasen­hüttl-Elf seit der Län­der­spiel­pause auf diese Art 17 Punkte, dar­unter Siege gegen Chelsea und Tot­tenham. Nur Liver­pool, Man­chester City und Lei­cester haben seither eine bes­sere Aus­beute vor­zu­weisen.

Tag 78: Bestä­ti­gung

Trotz der grau­samen Erin­ne­rungen an das Hin­spiel hatten die Saints am 11. Januar 2020 also jeden Grund, selbst­be­wusst die Reise zum Rück­spiel nach Lei­cester anzu­treten. Es dau­erte jedoch keine 14 Minuten, da wurde die mühsam auf­ge­baute Sta­bi­lität auf die Probe gestellt. Trotz domi­nanten Beginns geriet Sout­hampton durch den ersten geg­ne­ri­schen Tor­schuss mit 0:1 in Rück­stand. Anders als beim ersten Auf­ein­an­der­treffen, folgte aller­dings keine Implo­sion. Die mutigen Gäste pressten unbe­irrt weiter, erzwangen stolze 36 Ball­ver­luste und drehten mit­hilfe des Sieg­tref­fers von Danny Ings das Spiel. Für Lei­cester war es erst die zweite Heim­pleite der Saison. »Wenn man gegen eine Mann­schaft, die gegen dich zuvor neun Treffer gemacht hat, das erste Tor kas­siert, muss man mental stark sein, um zu ant­worten«, betonte Hasen­hüttl nach dem Spiel gegen­über der BBC.

78 Tage nach dem 0:9 prä­sen­tiert sich den Medien ein ganz anderer Ralph Hasen­hüttl. Das einst so glatte Gesicht des Trai­ners ist von einem ergrauten Drei­ta­ge­bart geziert. Die größte Ver­än­de­rung ist aller­dings in Gestik und Kör­per­sprache aus­zu­ma­chen. Plötz­lich blickt er mit breiter Brust und vor Stolz strah­lenden Augen in die Kamera. »Wir wollten keine Rache«, beteuert der Trainer, »wir wollten uns selbst zeigen, wie weit wir in unserer Ent­wick­lung gekommen sind.« Rück­bli­ckend ist er sogar dankbar für das Debakel vom 25. Oktober 2019: »Das war ein ganz wich­tiges Spiel für uns in dieser Saison. Wir haben unsere Men­ta­lität kom­plett ver­än­dert und haben so hart gear­beitet, um einen erfolg­rei­chen Weg zu finden.«

Mitt­ler­weile sind die Abstiegs­plätze sieben Punkte ent­fernt. Die Krise ist vor­erst gemeis­tert.