Wie schürt ein Trainer die Hoffnung, wenn seinem Team nur noch ein Wunder helfen kann? Werder Bremen hatte den Kampf gegen den Abstieg bereits verloren, als sich das Schicksal doch noch wendete. Ein Blick in das Logbuch der leidvollen Spielzeit 2019/20
Die Woche vor dem letzten Saisonspiel gegen den 1. FC Köln avanciert unter diesen Vorzeichen zu einer kollektiven Trotzreaktion rund ums Weserstadion. Am Dienstag hat der Coach wieder zu sich gefunden. Noch einmal appelliert er in einer Rede an die Verantwortung, indem er nicht nur seine Spieler, sondern auch sich selbst fragt: Was macht es mit dir, wenn du verantwortlich bist, dass dein Klub das erste Mal nach vierzig Jahren absteigt? Was bedeutet es für den Verein, die Mitarbeiter, diese Stadt? Auf Kohfeldts Betreiben lässt der Klub zwei Motivationsvideos herstellen, die bei der Teambesprechung am Freitagabend eingespielt werden: Einen Zusammenschnitt der dramatischsten Saisonfinals der Erstligageschichte, in denen im letzten Moment noch der Turnaround gelang – angefangen bei der Rettung von Eintracht Frankfurt 1999 bis zur „Green-White Wonderwall“ im Jahr 2016. Gefolgt von einem Clip, in dem Werder-Legenden sich konkret an die Spieler wenden. Marco Bode, der in der Manier eines Staatsmanns sagt: „Vielleicht ist es schon zu spät, aber ihr habt oft genug bewiesen, dass es geht!“ Torsten Frings, der unter einem neckischen Baseballcap hervorlugt: „Fußballwunder passieren! Man muss nur dran glauben.“ Und Sonnyboy Clemens Fritz schmunzelt: „Männer, es ist eine beschissene Situation. Aber ihr liebt dieses Spiel.“
Beim Abschlusstraining im Stadion empfangen die Werder-Mitarbeiter die Mannschaft mit einer grünen Fotowand im Spielertunnel und einem Transparent in der Kurve. Aufschrift: „Wir glauben dran!“ Es zeigt Wirkung. Werder besiegt den willenlosen 1. FC Köln daheim mit 6:1. Im fernen Berlin helfen beim 1. FC Union mit Anthony Ujah und Felix Kroos zwei Ex-Bremer tatkräftig beim Klassenerhalt mit. Fortuna Düsseldorf unterliegt in der Alten Försterei mit 0:2 – und steigt ab.
Cool bleiben! Florian Kohfeldt braucht nach dem 0:0 im Relegationshinspiel dringend Abkühlung.
Doch der lange Leidensweg der Bremer ist noch nicht zu Ende. Das erste Relegationsspiel im Weserstadion gegen den Außenseiter aus Heidenheim endet 0:0. Und plötzlich fühlt sich der Trainer an Szenen aus der Adventszeit erinnert, als er bei einigen im Angesicht der stetig länger werdenden Niederlagenserie eine psychische Blockade ausmachte. „Nach diesem Kraftakt nun – bei allem Respekt – gegen Heidenheim abzusteigen, wäre schlimmer gewesen, als nach dem 34. Spieltag runterzugehen. Das hätte die ultimative Niederlage bedeutet“, sagt Kohfeldt. „Ich habe es deshalb vor dem Rückspiel als meine vordringlichste Aufgabe angesehen, die wiederaufkommende Panik zu verhindern.“
In den Tagen bis zum letzten Spiel in dieser endlosen Saison versucht der Coach, noch einmal alle Energien zu bündeln. Er schaltet tagelang sein Handy aus, liest keine Zeitungen mehr, fährt das Internet runter: „Mir war klar: Es kann nicht klappen, wenn wir den Kopf nicht in den Griff kriegen.“ Beim Team lenkt er die komplette Konzentration aufs Fußballerische, Keine Motivationsreden mehr zur Bedeutung des Spiels für Stadt, Land und Leute. Stattdessen seziert er das Hinspiel mit den Analysten und Co-Trainern bis ins letzte Detail. „Es ging nur noch um Fußball. Ich wollte auch an mich nicht mehr den Gedanken heranlassen, was eine Niederlage bedeuten würde.“
Am Nachmittag des 6. Juli steht Florian Kohfeldt am Fenster eines Heidenheimer Hotelzimmers, starrt hinaus und verflucht die späte Anstoßzeit um 20.30 Uhr. Seine Spieler halten Mittagsschlaf, es ist alles gesagt und getan, nun muss er noch fünf Stunden bis zum Spielbeginn überbrücken. „Du schaust raus, auf irgendein Schloss, und hoffst nur noch, dass es endlich losgeht.“
Als Felix Brych um 22.21 Uhr abpfeift, sickert bei Kohfeldt erst langsam das Gefühl seiner wiedererlangten Freiheit durch. Dass er nach Monaten nun aus dem Tunnel in seinem Kopf steigen und halbwegs ins zivile Leben zurückkehren kann. Während die Spieler in der Umkleide obligatorische Siegerfotos anfertigen, sitzt er mit einer Flasche Bier in der Ecke, auf dem Handy trudeln gefühlte 100 000 Nachrichten ein. Als er mit seiner Familie telefoniert, erwachen die Lebensgeister in ihm wieder. Als gegen vier Uhr morgens die Chartermaschine des SV Werder aus Schwäbisch Hall in Nordholz landet, erwarten 40 Fans die Mannschaft. Kohfeldt sieht erwachsene Männer vor Glück über den Klassenerhalt weinen. Es ist sein erster bewusster Kontakt zur Außenwelt seit drei Monaten.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden verliert sich die Spur von Florian Kohfeldt und der Mannschaft irgendwo im Bremer Ausgehviertel. Später wird der Trainer erzählen, er sei nach der Rückkunft so aufgedreht gewesen, dass er gar nicht nach Hause gewollt habe. „Also, ich hätte noch gekonnt“, lacht er, als sich die Gruppe im Morgengrauen auflöst. Frank Baumann liegt da schon einige Zeit daheim im Bett. Bereits vor Wochen hat er für den Tag nach dem Relegationsspiel einen Friseurtermin vereinbart. Wird Zeit, dass die Matte endlich runterkommt.