Wie schürt ein Trainer die Hoffnung, wenn seinem Team nur noch ein Wunder helfen kann? Werder Bremen hatte den Kampf gegen den Abstieg bereits verloren, als sich das Schicksal doch noch wendete. Ein Blick in das Logbuch der leidvollen Spielzeit 2019/20
Den Coach aber trifft der implizite Vorwurf, die sportliche Leitung lasse die Dinge mit einer gewissen Gleichgültigkeit passieren. „Ich habe das emotional nicht distanziert gekriegt“, sagt er, „den Vorwurf, ich würde nicht im Sinne von Werder handeln. Das hat sehr weh getan. Klar ist: Ich habe sicher nicht alles richtig gemacht, aber dass ich nicht alles probiert hätte, kann mir niemand vorwerfen.“
Vor der Pressekonferenz zum Auswärtsspiel in Freiburg blättert Kohfeldt durch die neuesten Artikel. Die beißende Kritik durch diejenigen, die keine Verantwortung tragen, lässt ihn kämpferisch aufs Podium treten. Und er sagt den Satz: „Ich sehe es so, dass ich aktuell nach wie vor der Beste auf dieser Position bin.“ Marco Bode muss schlucken, als er davon hört. „Er ging da ein hohes Risiko, für mich hörte sich das ein Stück weit nach All-In an.“
Eigentlich will Kohfeldt mit seiner Aussage signalisieren, dass er nach wie vor nicht ratlos bei seiner Arbeit und sicher ist, dass die Spieler ihm zuhören. Dass er Lösungsansätze für die prekäre Situation hat. „Ich habe einfach gesagt, was ich empfunden habe, habe nichts groß geplant“, sagt er, „doch wenn wir das Spiel in Freiburg verloren hätten, hätte ich bestimmt das Gespräch mit Baumi und Marco gesucht.“ Und nach kurzem Innehalten ergänzt er: „Und welches Ergebnis das gehabt hätte, ist im Nachhinein schwer zu sagen.“
Es hat stets eine stille Übereinkunft zwischen Frank Baumann und Marco Bode gegeben, an Kohfeldt festzuhalten. Während Männer wie Burdenski und Bratseth dies als Führungsschwäche oder gar als Harmoniesucht interpretieren, resultiert die Sichtweise der beiden aus den Erfahrungen ihrer eigenen Werder-Vergangenheit. Dem Glauben an die Magie der Kontinuität unter Trainern wie Otto Rehhagel und Thomas Schaaf. Männern, die auch deshalb Ewigkeiten in Bremen blieben, weil sie über ausreichend Befugnisse verfügten, um auch in Krisenzeiten integraler Bestandteil der Problemlösung zu sein. Kohfeldt sagt, er selbst habe in den schweren Wochen eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung in den Medien und seinem persönlichen Gefühl in der Stadt und in der Mannschaft ausgemacht: Fans schickten ihm Blumen und sprachen ihm Mut zu. Auch Marco Bode (Lieblingsbuch: „Schnelles Denken, langsames Denken“ von Daniel Kahneman) erinnert sich ausschließlich an positives Feedback, obwohl es zunehmend vorkommt, dass sich Passanten mit den Worten verabschieden: „Viel Erfolg, Herr Baumann!
„Nach der Niederlage in Mainz spürte ich kurzzeitig keinen Antrieb mehr in mir“
Nach dem Auswärtssieg in Freiburg scheinen die Dinge ins Lot zu kommen. Ohne die Kulisse im Weserstadion tut sich der Klub bei Heimspielen zwar nach wie vor schwer, aber auswärts sammelt Werder etliche Punkte, und nach der knappen 0:1‑Niederlage unter der Woche gegen den FC Bayern scheint auch eine Platzierung oberhalb des Relegationsrangs in Reichweite. Zumal am nächsten Abend die direkte Konkurrenz aus Mainz und Düsseldorf zu schweren Auswärtsspielen nach Dortmund und Leipzig fährt.
Der Trainer schaut die Partien gemeinsam mit seiner Gattin zu Hause auf dem Sofa. Anfänglich zappt er hin und her. Doch als er nach der Pause merkt, dass der BVB nicht mehr viel tut, um den 0:2‑Rückstand gegen Mainz aufzuholen, wechselt er zur Partie nach Leipzig, in der RB bis kurz vor Schluss mit 2:0 vorne liegt. Kohfeldt hört wie Sky-Reporter Martin Groß sagt: „In Bremen werden sie nun wieder größer auf der Couch!“ Es fühlt sich an, als spräche der Kommentator in diesem Moment persönlich zu ihm. Werder würde auf den rettenden Relegationsplatz vorrücken, wenn es so bliebe. Doch in der 87. Minute erzielt Fortuna den Anschlusstreffer. „Warum machen die das denn jetzt noch mal spannend?“, denkt Kohfeldt. In der 92. Minute bekommt Düsseldorf einen Eckball und André Hoffmann köpft den Ausgleich. „Nach Abpfiff habe ich eine halbe Stunde gar nichts mehr gesagt. Meine Frau sagte nur: ‚Ich gehe schon mal hoch, du kommst wahrscheinlich etwas später.‘“ Auch Frank Baumann sitzt nebst Gattin und Sohn paralysiert bei sich vor dem TV und kann es nicht fassen. „In der ganzen Saison war es uns nie gelungen, nach guten Spielen direkt nachzulegen. Jetzt kam es mir vor wie der absolute Tiefpunkt“, so der Geschäftsführer.
Blick ins Krankenlager: Kollektive Ermattung auf der Ersatzbank nach dem 1:3 in Mainz am 33. Spieltag.
Ein Auswärtssieg in Mainz am 33. Spieltag könnte die Stimmung wieder heben. Doch die Panik hat von einigen Werder-Profis Besitz ergriffen, der SVW scheitert krachend mit einer 1:3‑Packung. Nach Schlusspfiff scheint das Schicksal des Klubs besiegelt – der Abstieg unabwendbar. Hilflos starrt Kohfeldt auf der Bank auf den Liveticker seines Handys und hofft, das gelblich blinkende Feld bei der Partie Fortuna gegen den FCA würde endlich weiß unterlegt und das 1:1 damit als Endstand offiziell. Andernfalls stünde Werder als zweiter Absteiger fest.
Doch auch das Unentschieden setzt in dem Coach nun kein Gefühl der Hoffnung mehr frei. Ein Bild des Jammers bietet sich in der Trainerkabine dem Betrachter, wo Kohfeldt nebst Assistenten und Frank Baumann minutenlang wortlos am Boden kauert. Hoffnung ist nur noch ein Wort, wenn dir die Phantasie für das Gelingen abhandenkommt. „Wir hatten viel gelitten im Verlaufe der Saison, Mainz war das eine Mal zu oft“, so Kohfeldt. „Danach spürte ich kurzzeitig keinen Antrieb mehr. Sonst hatte ich nach jeder Niederlage sofort eine Idee, was sich ändern muss, aber danach tat sich für ein, zwei Tage eine große Leere in mir auf.“ Nun dringt auch beim Trainer ins Bewusstsein, dass er mit dem SV Werder aller Voraussicht nach den schmerzvollen Gang ins Unterhaus antreten muss.