Das Jahr 2017 war für Dortmund ein Jahr der Extreme. Anschlag überlebt, Pokal gewonnen, Trainer entlassen. Was hat das mit dem Verein gemacht? Die Antwort gibt es wie immer in den Trinkhallen der Stadt.
Zwei Straßen weiter, im bekannten „Adler59“-Kiosk, steht ein tätowierter Mann mit gelbem Shirt und kahlem Kopf hinter einem Verkaufsregal, links von der verwaisten Kasse. Er lehnt die knochigen Hände auf einen Stapel von Bierkästen, wiegt den Kopf vorbei an einem Spielzeugauto und einer alten Küchenwaage im Regal vor ihm, blinzelt angestrengt Richtung Tür. Der Verkäufer ist gerade hinten im Hof beschäftigt, als die Postbotin mit drei Paketen hereinkommt. Der Mann am Bierkastenstapel sagt ruhig: „Stell ab, passiert nix, ich bin hier.“ Die Postbotin schaut verdutzt. „Du bis’ neu hier, wa? Ich bin hier Detektiv, wat meinse, wat hier geklaut wird.“
Der Mann will nicht, dass sein Name irgendwo auftaucht, außerdem muss er gleich los. Er hat keine Zeit. Aber für den BVB, da nimmt er sich noch eine Dreiviertelstunde, um Kommentare abzugeben. „Watzke, Watzke – klar labert der viel. Aber der hat den Verein am Kacken gehalten. Ohne den und den Rauball wär’n wir fünfte Liga. Und hör mir auf mit dem Tuchel …“
„Den konnt ich noch nie leiden!“, ruft ein Mann mit einem BVB-Schlüsselanhänger um den Hals, der gerade an der Kasse eine Packung TrumpetTabak kauft. „Der war irre, wie der die Mannschaft umgekrempelt hat und dat System. Da war imma Streit, imma Terz. Jede Woche. Hat der gewürfelt oder wat?“ Der selbsternannte Detektiv fügt vom Bierkastenstapel aus an: „Wie mittem Sahin im Finale.“ „Siehse, dat wusste no’ nimmal die Mannschaft. Und wenn ich dann sehe, wie se Krämpfe kriegen. Ich hab früher auch beim BVB gespielt, inne Jugend. Da bin ich vom Bau mit Blasen anne Finger hin auf’n Platz.“
An diesem Punkt kippt das Gespräch in einer Trinkhalle für gewöhnlich in einen biografischen Exkurs, der wie auf einem Buchrücken kurz abgehandelt und mit einem Zitat garniert wird. Marc („Vorname reicht“), der Mann mit dem BVB-Schlüsselanhänger, erzählt also, wie er in der Jugend vom BVB spielte, das Zeug für ganz oben hatte, aber dann ein paar Bierchen zu viel trank. Er hatte einen Autounfall und lag im Koma, danach änderte er sich. Zitat: „Der liebe Gott hat gesacht, den kann ich hier oben nich gebrauchen. Und der Teufel wollte nich, datt ich ihm unten alles wegsaufe. Da hab ich überlebt. Nächstet Jahr bin ich zehn Jahre trocken. So, ich muss los.“
Ein gespaltener Klub
Die zwei Trinkhallen liegen nicht weit auseinander, wohl aber die Meinungen ihrer Besucher. Die einen gegen Watzke, die anderen gegen Tuchel. Die Eruptionen im Verein haben deutliche Risse durch die Dortmunder Basis gezogen. Das Fanzine schwatzgelb.de, der verlässlichste Seismograf für die Anhängerschaft, hielt fest: „Watzke und Tuchel haben gemeinsam den Verein enteint. Borussia Dortmund 2017 ist Pokalsieger und Champions-League-Teilnehmer – und ein gespaltener Klub.“
Für die einen war Tuchel der kalte Analytiker, der zu wenig Respekt und Hingabe für die Leute im Verein aufbrachte, wenn nicht sogar für den Verein selbst. Für die anderen ist Watzke der eitle Patriarch, der den kritischen Trainer willkürlich abgesetzt hat. Dabei, das muss gesagt werden, stellten sich auch Sportdirektor Michael Zorc und etablierte Spieler gegen Tuchel. Doch der breite Zorn richtete sich gegen Watzke. Als er auf der Leinwand beim Pokalfinale zu sehen war, kamen aus dem BVB-Block unüberhörbare Pfiffe. Ein solcher Unmut gegen einen der Retter bei der Beinahe-Pleite 2004 war lange undenkbar.
Der interne Konflikt beim BVB schwelte schon monatelang, doch er bekam eine besondere Dynamik durch den 11. April. An diesem Tag zündeten drei Sprengsätze am Mannschaftsbus unmittelbar vor dem Teamhotel. Die Spieler, Trainer und Betreuer überlebten diesen Anschlag nur mit Glück. Bereits am folgenden Tag musste der BVB das Champions-League-Spiel gegen Monaco nachholen. Diese Ansetzung verursachte den bekannten „Dissens“ zwischen Watzke und Tuchel. Ende Mai teilte der Geschäftsführer dem Trainer dessen Beurlaubung mit. In jenem Teamhotel, vor dem auch Tuchel um sein Leben gezittert hatte. Noch zweieinhalb Monate später, an diesem Freitag im Juli, ist die Schwere des Anschlags vor dem Hotel sichtbar. Die Hecken, in denen die Sprengsätze steckten, wirken noch immer wie rasiert.