Es könnte der Sommer von Lorenzo Insigne werden: Erst den EM-Titel mit Italien gewinnen, dann Maradonas Nummer Zehn beim SSC Neapel überstreifen. Aber möchte er sie überhaupt haben?
Am 17. November 2017 schoss Neapels Lorenzo Insigne ein Traumtor. Er dribbelte am linken Eck des Strafraums zwei Verteidiger aus, zog dann nach innen und entfernte sich sogar etwas von der Sechzehnmeterlinie. Dann zog er mit rechts aus 23 Metern ab. Der Ball landete unhaltbar im Winkel von Andriy Pyatov, dem Torwart von Schachtar Donezk. Es war ein typisches Insigne-Tor. Es war eines dieser Tore, nach denen Reporter gerne behaupten, dass Hollywood sich das alles nicht hätte ausdenken kennen. Was natürlich Quatsch ist, denn Hollywood kann sich alles ausdenken, fliegende Untertassen, sprechende Hunde – und natürlich auch Traumtore aus 22 Metern.
Trotzdem, es war wirklich eine märchenhafte Geschichte, die einige Wochen zuvor begonnen hatte. Italiens Nationalmannschaft war in der Qualifikation zur WM 2018 hinter Spanien nur Zweiter geworden. Der Schuldige war Trainer Gian Piero Ventura. So sahen es jedenfalls die Führungsspieler Gianluigi Buffon und Daniele De Rossi, die nach einem 1:1 gegen Mazedonien den Aufstand geprobt hatten. Sie plädierten für ein 3 – 4‑3-System, um den formstarken Lorenzo Insigne in die erste Elf zu integrieren. Der Trainer ignorierte sie.
Im ersten Playoff-Spiel gegen Schweden ließ er den Napoli-Stürmer 76 Minuten auf der Bank schmoren, Italien verlor in Solna 0:1. Im Rückspiel stand es 0:0, als Ventura den defensiven Mittelfeldspieler De Rossi einwechseln wollte. Der war außer sich: „Warum zum Teufel soll ich rein? Wir brauchen kein Unentschieden, wir brauchen einen Sieg!“, schrie er Italiens Assistenztrainer an. Dabei zeigte er mehrmals auf Lorenzo Insigne, der, so wollte De Rossi signalisieren, in dieser Situation eher weiterhelfen könnte. Ventura blieb aber stur. Insigne kam nicht, das Spiel endete 0:0, und Italien verpasste das erste Mal seit 1958 eine WM. Eine Woche später schoss Insigne das Tor in der Champions League gegen Schachtar Donezk. Ein kleiner Gruß, ein dickes Ausrufezeichen. Sein Insigne.
Mittlerweile hat Insigne in der Squadra Azzurra einige Traumtore geschossen. Dass die Mannschaft im EM-Finale steht, verdankt sie auch seinen Signature-Moves und Signature-Toren. Im Viertelfinale gegen Belgien zog er nach innen und schlenzte den Ball ins lange Eck. In der Vorrunde gegen die Türkei zog er nach einem Anspiel direkt ab. Wieder ein Schlenzer von halblinks mit der Innenseite, wieder das lange Eck. Man staunt über diese Flugkurven, die so formschön sind, dass sie ihn in Italien „Il Magnifico“ nennen. Und man freut sich, dass ein Spieler, der von seiner Physis und Spielweise wie ein Zeitreisender aus den Achtzigerjahren wirkt, so einen Erfolg hat.
Denn normalerweise sortieren Nachwuchsleistungszentren Spieler aus, die X- oder O‑Beine haben, die zu dick, zu dünn oder zu klein sind. Barcelona bezahlte Lionel Messi einst eine Hormontherapie, damit er wächst. Kurzum: Der moderne Fußball ist kein Ort für Spieler, die nicht der Superathleten-Norm entsprechen, kein Ort für den unperfekten Spieler.
In den Achtzigern udn Neunzigern hingegen waren kleine Spieler oft respekteinflößend. Schon beim Warmmachen ahnte man – egal ob im großen Stadion oder beim Kreisligakick –, dass der Kleinste der Beste ist. Der Dribbler, der Magier. Sie hießen Thomas Häßler, (1,66 Meter), Diego Maradona (1,65), Pierre Littbarski (1,68), Wolfram Wuttke (1,72), Alessandro Del Piero (1,73) oder Zico (1,72). Gerade weil sie so klein waren und ihre Beine und Füße ein bisschen verrenkt aussahen, brachten sie Überraschendes ins Spiel. Sie waren gummihafte Fabelwesen, biegsam und quirlig, sie machten Bewegungen, bei denen sich ein gewöhnlicher 1,85-Meter-Vorstopper alle Kreuzbänder riss.
So ähnlich ist es auch bei Lorenzo Insigne. Er ist noch kleiner als all die legendären Mini-Zehner. 1,63 Meter misst er nur. Und wenn er am Ball ist, fühlt sich der Fußball kurz an, als würde jemand eine Uefa-Cup-Partie von 1987 im Fast-Forward-Modus abspielen.
Talentspäher und Jugendtrainer sagten ihm früher, er sei ein toller Techniker, aber zu klein für das große Spiel. „Die Scouts wollen Spieler, die 1,90 groß sind, aber nicht mal den Ball richtig hochhalten können. Ich wollte eigentlich aufhören, ich hatte keine Lust mehr auf Fußball“, sagte Insigne mal. Aber vielleicht trieb es ihn an, dass der populärste Spieler seiner Heimstadt Neapel ebenfalls klein war: Diego Maradona. Und vielleicht dachten sie beim SSC Neapel ebenfalls: Was kümmert uns die Größe, wenn dieser Mann Zauberfüße hat. Sie riefen ihn Maradonino, den kleinen Maradona. Ein Trequartista, ein Spielmacher, der sich aber bewegte wie ein Stürmer. So sagte es sein Förderer Zdenek Zeman.
Aber es erinnert noch etwas anderes an die wilden Achtziger: sein Trick. Total effektiv, total simpel. Man mag es kaum fassen, dass er so schwer zu verteidigen ist, denn es ist immer dasselbe: Insigne, der Rechtsfuß, zieht von links nach innen und schlenzt aufs lange Eck – und bestenfalls landet der Ball im Netz. Die zwei großen Fragen des Verteidigers sind: Wann zieht Insigne nach innen? Und wann schießt er? Es erinnert, klar, vor allem an Arjen Robben, der diesen Lauf über Jahre perfektionierte, nur auf der anderen Seite.
„Wir hatten wir viele gute Spieler, Verratti oder Immobile, aber der Wichtigste war Lorenzo Insigne“
Insigne ist Neapolitaner. Geboren und aufgewachsen, mit 15 kam er aufs Internat, nachdem Juventus und Inter ihn verschmäht hatten. Anfangs schienen auch die Neapolitaner skeptisch, er wurde verliehen, Beim Drittligisten Foggia lernte er Zdenek Zeman kennen, der ihn mitnahm zu Pescara Calcio in die Zweite Liga. Dort brillierte er an der Seite von Marco Verratti und Ciro Immobile, nach einer Saison zerstreuten sie sich, aber sie kamen in der Nationalelf wieder zusammen und spielen dort bis heute.
Jedenfalls, der Tscheche Zdenek Zeman, damals Trainer bei Pescara, war immer schon ein Liebhaber des offensiven Spiels, Zemanlandia nannte es seine Anhänger mal. Mit Pescara stieg er auf, denn Insigne spielte grandios, schoss 18 Tore und legte zahlreiche auf. „Er ist besser als einige Spieler, die derzeit für Napoli spielen“, sagte Zeman. Auch später noch schwärmte er oft von diesem goldenen Pescara-Jahr: „Wir hatten viele gute Spieler, Verratti, Immobile, klar, aber der Wichtigste war Lorenzo Insigne.“ Neapel holte ihn 2012 zurück – und verlieh ihn nie wieder.
Seitdem hat Insigne über 300 Pflichtspiele für Neapel bestritten, zweimal gewann er mit dem Team die Coppa Italia, aber in der Meisterschaft scheiterten sie jedes Jahr aufs Neue. Viermal wurde Insigne mit Neapel schon Vizemeister. Ist das zu wenig für einen wie ihn, der Italien am Sonntag vielleicht zum EM-Titel schießen wird?
In seiner Heimat wird schon länger spekuliert, Insigne ist immerhin schon 30 Jahre alt. Sein Vertrag läuft bis 2022, aber er möchte ihn, laut einiger Medien, nach der EM verlängern. Angeblich wird er dabei sogar auf ein wenig Geld verzichten. Dafür kann er sich sicher sein, dass sie ihm ein Denkmal bauen. Er ist der Bilderbuch-Lokalheld mit einer From-zero-to-hero-Story, die sie gerade im Süden Italiens so lieben. Als Kind verkaufte er auf einem Trödelmarkt Kleidung, um sich die ersten Fussballschuhe zu kaufen, das Nike-Modell R9 des Brasilianers Ronaldo.
Und wenn er doch Wechselgedanken hat, könnte ihn der SSC Neapel mit einer Trikotnummer zum Bleiben überreden: der Zehn, die zu Maradonas Ehren seit 2000 nicht mehr vergeben wird. Insigne wurde schon oft auf sie angesprochen, meist wiegelte er ab, die 24, die er aktuell trägt, finde er auch ganz okay. Schließlich sei es der Geburtstag seiner Frau. Aber was machst du, wenn im Spind des SSC Neapel plötzlich die Zehn mit deinem Namen hängt? Maradona gab sie jedenfalls vor seinem Tod frei. „Wenn Insigne mehr Tore geschossen hat als ich, kann er sie haben.“ Maradona schoss (in allen Wettbewerben) 114 Tore für Neapel, Insigne steht bei 109. Jemand sollte das Trikot schon mal beflocken.