Die DFB-Elf spielt ihre Vorrunde in der Ukraine, hat aber im polnischen Danzig ihr Quartier. Wir waren wenige Wochen vor EM-Beginn vor Ort, haben Lechia-Fans getroffen, Kneipen besucht und die Suite von Jogi Löw getestet.
Danzig hat sich hübsch gemacht. An den Laternen in der Altstadt hängen Willkommensschilder in den Sprachen der Teilnehmerländer, die Altglas- und Papiercontainer sind Fußbällen nachempfunden und die Mitarbeiter der Touristeninformation sprechen Englisch, manche sogar Deutsch. Zum Stadion? Bitte nehmen Sie Bus Nummer 13! Zur Altstadt? Folgen Sie mir bitte, ich muss eh dort hin! Paradiesische Zustände. Ist das hier Polen? Danzig?
Eine kleine alte Hansestadt, in dessen Altstadt enge Spaliere zur Promenade führen, am Langen Markt steht eine Statue des römischen Wassergotts Neptun, das Danziger Speymannhaus ziert eine manieristische Fassade mit goldenen Ornamenten. Wann wird hier der nächste Kostümfilm mit Veronica Ferres gedreht?
Schon lange war klar, dass die deutsche Nationalmannschaft in Danzig unterkommen würde, und das, obwohl sie die Vorrunde in der Ukraine bestreitet. Anfangs mag diese Entscheidung seltsam gewirkt haben, nun muss man sagen: Oliver Bierhoff hat seinen Job gemacht. Das 5‑Sterne-Hotel Dwor Oliwski, wo die DFB-Elf ihr Quartier hat, liegt im historischen Stadtteil Danzig-Oliva, ein paar Kilometer von der Altstadt entfernt. Ein prunkvolles Anwesen mitten in einem Waldgebiet, dahinter Felder, Einfamilienhäuser, ein paar Höfe und die Ul. Kwietna, eine Kopfsteinpflasterstraße, die zurück zu den Bus- und Straßenbahnstationen führt. Hier gibt es sogar einen Kiosk. Man bekommt Bier, Cola, Chips und Kaffee.
„Wir haben Erfahrung mit Prominenten“
Maja Lubomanska-Palarczyk, die Pressedame des Hotels, eilt durch die Gänge. Sie öffnet Türen von Luxus-Zimmern, von Luxus-Wellnessbereichen und einem Luxus-Weinkeller. Vor der Luxus-Suite bleibt sie stehen und sagt: „Bitte fotografieren Sie!“ Wird Jogi Löw hier übernachten? Oder Oliver Bierhoff? Maja zuckt mit den Achseln. Jogi Löw? Dann sagt sie: „Wir haben Erfahrung mit Prominenten.“ Sogar Rod Stewart war mal Gast im Dwor Oliwski.
An der letzten Weggabelung vor dem Hotel befestigen Bauarbeiter Straßenschilder, ein Mann, der sich besonders geschickt mit dem Pinsel anstellt, malt den Schriftzug „Dwor Oliwski“ mit roter Farbe auf einen Pfeil. Angrenzend an das Hotel entsteht auf Wunsch des DFB außerdem ein Sportplatz, der rechtzeitig zum Turnierbeginn fertig werden soll. Dieser Platz ist für spontane Trainingseinheiten vorgesehen.
Außerdem trainiert die DFB-Elf im alten Stadion von Lechia Danzig. Das MOSiR-Stadion, im Volksmund Lechii, ist mit der Straßenbahn zu erreichen. Vom Hotel benötigt man etwa 20 Minuten. Ein alter Betonkessel, der von Bäumen gesäumt wird. An einem Nebenplatz steht einer dieser neuen, aber schon berühmten polnischen Auswärtsblocks. Er ist komplett umzäunt und bietet Platz für 25 Zuschauer. Ein Hühnerkäfig in groß. Während des Spiels wird er von außen abgeschlossen.
Auswärtsfanblock auf einem Nebenplatz des Stadions Lechii
Auf dem Weg zur Tribüne des Stadions befindet sich die Sterne eines „Walk of Fames“, darauf stehen die Namen von legendären Lechia-Spielern, dahinter die riesigen Flutlichtmasten, die Haupttribüne. Früher fasste das Stadion über 40.000 Zuschauer. So viele kamen zum Beispiel 1983, als Lechia im Pokalsieger-Cup gegen Juventus Turin 2:3 verlor. Michel Platini machte damals zwei Tore, den Siegtreffer für Juve erzielte der Pole Zbigniew Boniek. Doch das Ergebnis war damals beinahe Nebensache. Das Spiel ging als einer der Schlüsselmomente der Solidarnosc-Bewegung und der Demokratisierung des Landes in die Geschichte ein. Als Lechia-Anhänger während jener Partie bemerkten, dass etliche Aktivisten der Solidarnosc-Gewerkschaft im Stadion waren, skandierten sie patriotische und antikommunistische Wechselgesänge. Die polnischen Sender drehten prompt den Ton runter, doch die Gesänge waren über die italienischen Kanäle zu hören. Seitdem hängen bei den Spielen von Lechia Plakate mit der Aufschrift „Wir machen Geschichte“. Heute spielt hier die zweite Mannschaft von Lechia, was nach der EM mit dem Stadion passiert, steht dahin. Vielleicht wird es abgerissen.
Michal Nowosad arbeitet unweit des Stadions. Er hat es ein wenig eilig, denn er muss einen Pokal für ein Jugendturnier abholen und der Graveur schließt in wenigen Minuten seinen Laden. Michal ist Anhänger von Lechia Danzig und Leiter des hiesigen Fanprojekts. Ein Pionier.
Denn während es in Deutschland Fanprojekte schon seit den frühen Achtzigern gibt, sind sie in Polen noch Neuland. Bis heute haben gerade mal vier Klubs Fanprojekte: Bei Arka Gdynia, Slask Breslau, Polonia Warschau und eben bei Lechia Danzig, wo im Juni 2010 das erste Fanprojekt auf Initiative von Dariusz Lapinski entstand.
Anfangs musste Lapinski, der zuvor viele Jahre in Potsdam gelebt und dort das Fanprojekt von Babelsberg 03 geleitet hatte, mit vielen Vorurteilen aufräumen. Als er sich zum ersten Mal mit Michal Nowosad und Adam Klimowicz, dem heutigen Fanbeauftragten des Klubs, in einer Danziger Kneipe traf, schauten die beiden Jungs skeptisch drein. „Die dachten, da kommt ein Verbandsfunktionär im Anzug und will ihnen für ein paar Zloty ihre Kultur und Autorität wegnehmen“, sagt Dariusz. Einen Tisch weiter saßen die Alt-Fans von Lechia, Stiernacken, Kanten aus einer anderen Zeit, die das Szenario argwöhnisch beäugten. Doch sie alle merkten, dass Lapinski ähnliche Ansichten hatte wie sie, dass er auch Fan ist, einer, der sie nicht benutzen wollte, um seine eigene Position zu stärken. Heute spricht er von Adam und Michal wie von zwei Söhnen: „Die beiden haben eine fantastische Entwicklung gemacht.“
Die Arena ist zu groß für Lechia Danzig
Adam und Michal sind heute die treibenden Kräfte in Danzig. Sie halten sowohl zu den Fans als auch zum Verein Kontakt und haben trotzdem ihre Ideale nicht über Bord werfen müssen. Und das neue Stadion müssen auch sie nicht gut finden, sagt Adam. Ganz egal, wie groß und bombastisch es dort steht. Eine Multifunktionsarena, die von einer Art Wabe in Bernsteinfarben umhüllt ist. Sie soll glänzen wie das Gold der Ostsee. Hier passen knapp 44.000 Zuschauern hinein, zu den Ligaspielen kommen allerdings selten mehr als 12.000 Fans. „Es ist viel zu groß für uns“, sagt Michal. „Das alte Stadion hatte mehr Charme.“ Doch wie es so ist: Das alte Stadion war baufällig und entsprach nicht mehr den Fifa-Standards.
Adam und Michal sitzen in einem kleinen Zimmer hinter dem Stadionrestaurant, das der Verein den Fans zur Verfügung gestellt hat. An der Wand hängen Leinwände, auf denen opulente Fotos aus der Lechia-Historie zu sehen sind. Daneben einige Graffiti, auf dem einen sieht man eine Anzeigetafel. 3:0 für Lechia steht es dort, es läuft die 88. Minute. Es ist hier einfach eine Zahl. Doch bei der Uefa reagiert man dieser Tage höchst sensibel auf solche Details. Ein Funktionär wies neulich darauf hin, dass während der EM ein Uefa-Banner über der Zahl hängen muss, schließlich sei 88 der gängige Code für „Heil Hitler“. Adam schüttelt den Kopf. „Natürlich gibt es bei uns Idioten, wie in jedem Verein“, sagt er. „Doch es ist vieles besser geworden, seit es das Fanprojekt gibt.“ Heute scheint es tatsächlich wieder en vogue, Fan von Lechia zu sein. Sogar Polens Premierminister Donald Tusk weist bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass er Anhänger des Klubs seiner Geburtsstadt ist. „Damals, als es dem Verein richtig schlecht ging, wollte er nicht mit Lechia in Verbindung gebracht werden. Die Fans waren ihm unangenehm“, sagt Adam.
„Unser Vorbild ist Rudolf Heß“
Früher waren rassistische Vorfälle in der Lechia-Kurve allerdings nicht unüblich. Vor sechs Jahren kam es zu einem Eklat bei einem Spiel gegen Pogon Stettin, der über die Landesgrenzen hinaus Wellen schlug. Pogon hatte damals 16 Ausländer in seinen Reihen, viele aus Afrika. Die Lechia-Fans empfingen die Spieler mit Affengebrüll, Bananen und dem Schlachtruf: „Unser Vorbild ist Rudolf Heß.“
Das Büro des Fanprojekts befindet sich in einem kleinen Häuschen unweit des Lechii Stadions. Hier gibt es einen Freizeitraum mit Kickertisch, ein Konferenzzimmer, ein Regal mit Zeitschriften und Fanzines, einen Materialraum für die Ultras. Hier sitzt außerdem Agnieszka Mazurkiewicz, die früher in der Stadtverwaltung arbeitete und immer noch gute Kontakte zu den Behörden hat. Es erleichtert vieles. „Polen ist in Sachen Fanarbeit immer noch weit entfernt von deutschen Standards, doch wir arbeiten“, sagt Michal. Damit meint er den gesamtpolnischen Fußball, aber vor allem Lechia Danzig.
Die Neugründung von Lechia Danzig
2001 musste der Verein ganz unten, in der 6. Liga, neu beginnen. Der KS Lechia Danzig war finanziell nicht mehr zu retten. Mit Hilfe der Fans gründete sich ein neuer Verein, OSP Lechia Danzig. „Es gab nichts! Keine Trikots, keine Schuhe, nicht mal Spieler!“, sagt Adam. Die Fans begannen selbst zu kicken, und nach und nach kam der Erfolg zurück. Der heutige Sportdirektor des Klubs, Blazej Jenek, war bei der Neugründung Präsident, er arbeitete für nicht mal 400 Euro im Monat. Jenek zog den Verein gemeinsam mit der Unterstützung der Fans wieder nach oben. „Natürlich hat er heute eine andere Position“, sagt Michal. „Er kann nicht mehr aus reiner Fan-Perspektive denken.“ Doch manchmal, wenn ihm eine Choreographie oder eine Pyroshow gefällt, schickt er den Ultras eine SMS. „Great Job“, schreibt er dann.
Gegen 17 Uhr müssen Adam und Michal wirklich los. Der Graveur hat noch einmal angerufen. Und der Abend ist schon verplant, denn dann läuft das Pokalhalbfinale in Polen. Legia Warschau spielt gegen Arka Gdynia. Nur: Wo wird es übertragen? Sportsbars sind rar in Danzig. Laut Reiseführer betreibt Dariusz Michalczewski eine Pub mit dem Namen „Tiger Pub“. Doch dort, wo sich dieser eigentlich befinden soll, steht nun ein Kiosk. „Lange her“, sagt die Dame hinter dem Tresen. Sie weist den Weg zu einem Irish Pub in der Danziger Altstadt.
Über den Bildschirm flimmert das Spiel Bayern gegen Dortmund, es läuft bereits die 42. Minute, es steht noch 0:0. In der 77. Minute der Schuss aus der Distanz, die Hacke Lewandowskis, 1:0. Der BVB hat nun sechs Punkte Vorsprung auf den FC Bayern. Die Bar ist wie leergefegt, auch am Ufer keine Menschen, niemand. Auf dem Kopfsteinpflaster die Lichtkegel der Laternen, am Ufer ein Dreimaster, das Wasser plätschert an die Kaimauer. Morgen früh werden die deutschen Touristen wieder ihre Fotoapparate zücken. „Ein bisschen wie Lübeck“, sagen sie dabei gerne. Ein sicherer kleiner Hafen.