Rassismus hat sich von den Tribünen der Stadien in die Kommentarspalten der Social-Media-Kanäle verlagert. Wie gehen die Spieler damit um und was tun die Verantwortlichen der Plattformen dagegen?
Diese Reportage erschien erstmals in Ausgabe #231. Hier bei uns im Shop erhältlich.
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein prominenter schwarzer Fußballer. Einst kamen die rassistischen Beschimpfungen von den Rängen, und sobald Sie den Rängen entkommen waren, entkamen Sie den Beschimpfungen. Aber inzwischen folgen Ihnen die Beschimpfungen nach Hause. Ihre Social-Media-Konten werden von Kommentaren überflutet. Manchmal haben Sie nach einem Spiel hunderte Benachrichtigungen. Manchmal tausende. Es hört nicht auf. Die Übeltäter taggen Ihren Namen neben hasserfüllten Beleidigungen. Oder schicken Ihnen groteske Bilder. Oder posten Darstellungen, die jene Art von Gewalt suggerieren, die sie Ihnen antun möchten. Es ist unerbittlich.
Anfangs finden Sie die Beschimpfungen verstörend, aber bald stellen Sie sich darauf ein. Sie wenden sich an die Social-Media-Anbieter, auf Hilfe hoffend, eine Lösung, aber deren Reaktionen fallen enttäuschend aus, und die Attacken gehen weiter. So ist Ihr Leben jetzt halt, so wie für Watford-Stürmer Troy Deeney und die frühere Juventus-Stürmerin Eniola Aluko. Es ist der Preis, den Sie für Ihre Sichtbarkeit als bekannter schwarzer Fußballer zahlen müssen. Aber Ihre Freunde und Familie erleben es anders. Sie sehen wildfremde Menschen, die Sie unter den Familienporträts, die Sie auf Instagram teilen, als Affen bezeichnen und sind entsetzt. Wie kann jemand, der dem Spiel, das er liebt, so viel gegeben hat, von dessen Fans dermaßen verachtet werden? Ihre Familie bekommt es mit der Angst zu tun angesichts dieser Wut, Ihrer exponierten Stellung unter diesem hasserfüllten Vergrößerungsglas. Sie macht sich Sorgen, dass eines Tages jemand das Handy niederlegen und etwas viel Schlimmeres versuchen könnte.
Rassistische Mitteilungen können heutzutage mit der Präzision von Raketen auf schwarze Spieler abgefeuert werden. Social Media ist zu einer Waffe geworden, und der Rassismus im Internet nimmt zu. Das digitale Consumer-Intelligence-Unternehmen Brandwatch, das Studien für die britische Anti-Rassismus-Organisation Kick It Out durchgeführt hat, gab eine ernüchternde Reihe an Statistiken heraus. Untersuchungen des Zeitraums von November 2018 bis November 2019 ergaben insgesamt einen Anstieg missbräuchlicher Berichterstattung über Fußballteams im Internet, wobei die Sozialen Medien einen Anstieg um 600 bis 900 Prozent verzeichneten.
Die Beschimpfungen, in Form von Bildern, Beleidigungen und Drohungen, treten das ganze Jahr über auf, verstärken sich aber rund um wichtige Spiele. Im November 2019 zum Beispiel lagen die Beschimpfungen gegen Raheem Sterling von Manchester City und Virgil van Dijk vom FC Liverpool um 27 000 Prozent höher als üblich. Nachdem Marcus Rashford von Manchester United im August einen Elfmeter gegen Crystal Palace verschoss, wurde er auf Twitter wiederholt mit dem N‑Wort beleidigt. Dies nur wenige Wochen, nachdem sein Teamkollege Paul Pogba sich rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt sah, weil er einen Strafstoß gegen die Wolverhampton Wanderers verschossen hatte. Und im Juli 2020 machte Crystal Palaces Wilfried Zaha vor einem Spiel rassistische Drohungen öffentlich, die er über Twitter erhalten hatte, etwa Fotos vom Ku-Klux-Klan.
Interessanterweise stellte Brandwatch keinen starken Zusammenhang fest zwischen der Qualität der Leistung eines schwarzen Spielers und dem Ausmaß an rassistisch motiviertem Hass, den er daraufhin erfuhr. Meist reicht es schon, nur zu spielen, um online Ärger zu entfachen. Als Tyrone Mings von Aston Villa im EM-Qualifikationsspiel der Engländer gegen Bulgarien Zielscheibe rassistischer Gesänge war, stiegen gleichzeitig die Online-Beschimpfungen gegen ihn um 86 Prozent. Bei Rashford, der ebenfalls auf dem Platz stand, waren es 3000 Prozent.
Was steckt hinter diesem Anstieg an Online-Rassismus? Eniola Aluko, die 102 Mal für England gespielt hat, verweist auf das aktuelle soziale Klima. „Sehen Sie sich Trump, Brexit und Matteo Salvini an“, sagt sie. Salvini war während Alukos Zeit bei Juventus Ministerpräsident Italiens und gewann durch seinen Gebrauch rechtsextremer Rhetorik an Popularität. Sein Aufstieg, bemerkt Aluko, wurde begleitet von „einem Mangel an Interesse“ seitens der Behörden, Klubs für rassistische Gesänge bei ihren Spielen sowie Social-Media-Unternehmen für rassistische Botschaften im Netz zur Rechenschaft zu ziehen. Für Aluko ist dieses Desinteresse ein Symptom für die Akzeptanz von Vorurteilen in breiten Teilen der Gesellschaft. Vorurteile, die im Netz befeuert werden.
Troy Deeney möchte weiter zurückblicken. „Der Brexit hat Rassismus an die Oberfläche gespült“, sagt er. „Aber schauen Sie in die Vergangenheit: Für die Eltern und Großeltern vieler Menschen war Rassismus etwas ganz Normales. Und sie werden ihren Kindern beibringen, dass es akzeptabel ist. Was mir derzeit zu schaffen macht, ist, dass Leute sagen, es seien nur Neckereien. Aber Necken ist eine scherzhafte, liebevoll gemeinte Stichelei. Wenn man jemanden aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Überzeugungen, seiner Sexualität beleidigt, wo ist das Necken?“
Der britische Soziologe und Rassismusexperte Ben Carrington sagt, dass es für einen bedeutenden Teil der weißen Öffentlichkeit Tradition habe, meinungsstarke, schwarze Sportler zu verurteilen. Social Media ist seiner Auffassung nach nur die moderne Variante davon. „Der Online-Missbrauch ist eine Form sozialer Sanktionierung“, sagt er. „Es ist eine formelle Disziplinierung von schwarzen Fußballern und sendet außerdem eine Warnung an andere schwarze Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, dass es seinen Preis hat, sich zu bestimmten Themen rund um Rassismus und Politik zu äußern.“ Er führt das Beispiel des notorisch großmäuligen Jack Johnson an. Das Verhalten des amerikanischen Boxchampions der frühen neunziger Jahre zog, obwohl es auch nicht widerspenstiger war als das seiner weißen Kollegen, massive Kritik von weiten Teilen des weißen Publikums und der weißen Presse auf sich. Johnsons eigentliche Sünde, sagt Carrington und greift dabei auf Worte des großen Historikers W. E. B. Du Bois zurück, sei „seine unverzeihliche Schwärze“.
Im modernen Kontext entsteht ein düsteres Bild: In den Händen eines bigotten Fußballfans ist Social Media eine Art digitale Peitsche, mit der er widerspenstigen schwarzen Fußballern die Leviten lesen kann. „Was das Alleinstellungsmerkmal für diese schwarzen Spieler ist, ist die Manifestation dieses Missbrauchs“, sagt Carrington, „und manchmal auch das Ausmaß des Missbrauchs. Es zielt darauf ab, schwarzen Menschen zu zeigen, wo ihr Platz ist. Eines der Probleme ist die Sprache. Wir reden gerne über Diversität und Rassenbeziehungen, aber das sind Euphemismen, um über White Supremacy, über weiße Vorherrschaft zu sprechen, eine Gründungsideologie des Westens. Eine Hierarchie von Rassen, mit weißen Europäern an der Spitze und ausnahmslos mit schwarzen Afrikanern ganz unten.“
„Trump, Brexit oder Salvini haben zu diesem Klima beigetragen“
Aluko weiß das nur zu gut. Sie erzählt, wie sie nach ihren Heimatbesuchen am Flughafen in Turin empfangen wurde. „Turin ist kein großer Flughafen“, sagt sie, „man kennt mich also, man sieht mich dort andauernd mit Juventus durchkommen. Und jedes Mal werde ich angehalten und meine Taschen durchsucht. Und jedes Mal sage ich: ‚Aber Sie haben mich so viele Male hier gesehen.‘“ Jedes Mal sagen sie, dass sie nur ihren Job machen, aber Aluko weiß, dass mehr dahintersteckt. „Es ist ihre Art, dir zu zeigen, dass dies dein Platz ist, egal wie viel du leistest.“
Deeney wird in erster Linie auf Twitter ins Visier genommen, gefolgt von Instagram. Sein Account wird tagtäglich mit rassistischen Beleidigungen und Bildern von Affen bombardiert. Während er sich daran gewöhnt hat – „so ist es nun mal“, sagt er –, sorgt er sich weiterhin darum, welche Auswirkungen die Übergriffe auf seine Familie haben. „Das ist der schwierigste Teil“, sagt er. „Ich bin ein bisschen altmodisch und finde, dass der Mann des Hauses seine Familie zu beschützen und nicht in Gefahr zu bringen hat. Aber indem ich für meine Familie sorge, setze ich sie der Gefahr aus, online beschimpft zu werden.“ Auf die Frage, wie die Social-Media-Unternehmen dagegen vorgehen, sagt er unmissverständlich: „Denjenigen, die dort die Entscheidungen treffen, ist es völlig egal.“
Twitter wird von Spielern regelmäßig als die Plattform identifiziert, wo sie den hartnäckigsten Missbrauch erfahren. Von Unternehmensseite heißt es, dass mittlerweile mehr als die Hälfte potentiell missbräuchlicher Inhalte proaktiv zur Prüfung gekennzeichnet werden. Auf Nachfrage bekräftigte Twitter UK den Entschluss, mit einer Reihe von Partnern zusammenzuarbeiten, um das Problem anzugehen. Der Vorsitzende eines dieser Partner, Sanjay Bhandari von Kick It Out, ist verhalten optimistisch: „Es gibt keine Patentlösung, daher gibt es keine einheitliche Initiative oder einheitlichen Plan, aber es gibt eine einheitliche Denkweise, und die lautet, mehr zusammenzuarbeiten.“ Mit Social-Media-Firmen und den Führungsgremien im Fußball.
Shireen Ahmed, Autorin, Aktivistin und Co-Moderatorin des feministischen Sport-Podcasts „Burn It All Down“, führt einen der Hauptgründe für die Zögerlichkeit von Social-Media-Unternehmen an: „Die Leiter der Organe, die die Entscheidungen treffen, sind weiße Männer, und sie werden nie das nötige Einfühlungsvermögen haben, weil sie es einfach nicht können. Ahmed verweist auf Organisationen wie die Footie Black List, die afrikanische und karibische Erfolge im britischen Fußball würdigt. „Wir erleben wieder, wie People of Colour ihre eigenen Communitys unterstützen und wiederherstellen, weil es niemand sonst tun wird.“
„Rassistische Beschimpfungen sind persönlicher“
Was zu selten diskutiert wird, sind die verheerenden Auswirkungen, die Rassismus auf Fußballer haben kann. Roberto Carlos, Weltmeister mit Brasilien, bekam im Laufe seiner Karriere alle möglichen Beleidigungen zu hören, aber es waren die rassistischen, die ihn besonders betroffen machten. Als er für Anschi Machatschkala in Russland spielte, wurde er von einem Fan eines gegnerischen Teams mit einer Banane beworfen, weswegen er Berichten zufolge in der Kabine in Tränen ausbrach. Trent Alexander-Arnold, englischer Nationalspieler vom FC Liverpool, stellt fest, dass es einen signifikanten Unterschied gibt zwischen rassistischen Beschimpfungen und anderen Formen abfälliger Kommentare, die er von den Rängen zu hören bekommt. „Rassistische Beschimpfungen sind persönlicher“, sagt er. „Wir können natürlich nicht kontrollieren, welche Hautfarbe wir haben, und es ist unfair, jemanden wegen etwas, das er nicht kontrollieren kann, zu verspotten und anzugreifen. Man gewöhnt sich an die feindselige Atmosphäre im Old Trafford oder bei Auswärtsspielen in Europa, in großen Stadien und wichtigen Spielen, aber es ist ein ganz anderes Gefühl, wenn diese rassistische Komponente mitschwingt.“
Alexander-Arnold hat glücklicherweise nur sehr wenig rassistischen Online-Missbrauch erfahren. Er stand aber mit Mings und Rashford im Spiel gegen Bulgarien auf dem Platz, das wegen Hassgesängen und Hitlergrüßen von einem Teil der Ränge beinahe abgebrochen wurde. Englands Nationaltrainer Gareth Southgate gebührt besondere Anerkennung. „Er fragte die Spieler, ob sie bereit seien, weiterzuspielen, obwohl er wusste, dass es nicht direkt seine Entscheidung war“, sagt Alexander-Arnold. „Dass er unter diesem Druck solche Entscheidungen traf, mit der Situation so umzugehen, verdient großen Respekt.“
Southgate hat für seine Anstrengungen genau deswegen Beifall erhalten, weil er darauf beharrt, Rassismus zu thematisieren, obwohl er selbst sagt: „Ich bin ein weißer Mann mittleren Alters, der über Rassismus spricht, es fällt mir nicht leicht, es anzusprechen.“ Der englische Trainer ist damit in der Minderheit, denn wenn es zu rassistischen Zwischenfällen kommt, fällt oft vor allem das Schweigen hochrangiger weißer Führungskräfte innerhalb des Sports auf. Wenn sich die Situation aber verbessern soll, sind ihre lautstarke und unmittelbare Verurteilung von Rassismus und ihr ebenso schnelles Handeln unerlässlich. Das Internet mag relativ neu sein, aber Rassismus ist ein System, das Jahrhunderte alt ist.
Dennoch sieht Iffy Onuora, ein ehemaliger Spieler und Trainer und heute Gleichstellungsbeauftragter der FA, Anlass für Optimismus. In seinem Kern, sagt er, sei „der Fußball eine Meritokratie – auf dem Platz geht es um Einsatz, Kameradschaft, Wettkampf und Zusammenhalt in reinster Form. Das Tolle am Spiel England gegen Bulgarien war die Solidarität. Ich habe zu einer Zeit gespielt, als es die Leute nach dem Spiel nicht einmal erwähnt haben, wenn ich rassistisch beschimpft wurde. Und diese Jungs – die Harry Kanes – sprachen es vor dem Spiel an.“ Wenn man diesen Geist in die Politik, in die Gesellschaft übertragen könnte, diesen Zusammenhalt einer Gruppe von Menschen, die mehr verbindet, als sie je trennen wird – „dann könnten wir Wunder bewirken“.