Im Oktober 1969 bangt die deutsche Nationalmannschaft um die Qualifikation für die WM 1970. Und muss unbedingt die schottische Auswahl schlagen – was zuvor noch nie gelungen ist. Ein Abend wie gemalt für den legendären Stan Libuda.
Dennoch glaubte mancher Zuschauer, nicht richtig zu sehen.
Wer stand denn dort auf Rechtsaußen? Es war weder der Dortmunder Siggi Held noch der Neu-Braunschweiger Bernd Dörfel? Nein, Schön interessierten die Prognosen der Presse wenig. Er nominierte den formstarken Schalker Reinhard Libuda, den alle nur „Stan“ nannten, weil er dribbeln konnte wie der legendäre Engländer Stan Matthews. Und er sollte diese Entscheidung nicht bereuen. Ebenso wenig, dass er Günter Netzer auf die Bank setzte. Er wäre in diesem Kampfspiel „voll unerbittlicher Härte“ (Kicker) wohl der falsche Mann gewesen.
Das Stadion platzte aus allen Nähten und manche bekamen Sitzplätze, für die es keinen Preis gab – Hunderte kauerten dicht an der Aschenbahn. Dann ging es los, der Nebel hatte sich verzogen. Dafür kam die kalte Dusche – für die Deutschen.
„Fußball-Germanen und Kicker-Kelten bekämpften sich wie in früh-geschichtlicher Zeit“
Schon nach drei Minuten gingen die Schotten durch Johnstone in Führung, als Sepp Maier einen Fernschuss nicht festhalten konnte, und Schöns Elf brauchte eine halbe Stunde, um das zu verdauen. Immer wieder ging es hoch her vor dem deutschen Tor, das 0:2 lag in der Luft und die Gäste-Fans machten sich bemerkbar. Dann traf der Schalker Verteidiger Klaus Fichtel zum ersten und einzigen Mal im Nationaldress. Nach einer von Haller per Kopf verlängerten Libuda-Ecke sprang ihm der Ball im Strafraum vor die Füße und mit etwas Glück landete dieser, noch abgefälscht, im Schotten-Tor. Das 1:1 (38.) war auch der Pausenstand. Zur zweiten Hälfte kam der Schweizer Schiedsrichter Droz im neuen Outfit, nun ganz in Schwarz. Sein helles Oberteil war in der Kabine geblieben, die Zuschauer am Bildschirm, damals gab es nur Schwarz-Weiß-Fernsehen, dankten es ihm.
Die Schotten kamen unverändert entschlossen aufs Feld zurück und trafen binnen vier Minuten zwei Mal die Latte. Dann kam nach 62 Minuten das obligatorische Müller-Tor, ausgerechnet nach Kopfballvorlage von Uwe Seeler – und Schön sah sich bestätigt. Es ging ja doch mit den beiden…
Rund 30 Zuschauer eilten in Hut und Mantel auf den Platz, um die Deutschen zu feiern. Das bekam ihnen nicht gut, schon 110 Sekunden später glückte Gilzean von Tottenham, einer von vier England-Profis, per Kopf der Ausgleich, die Abwehr hatte ihn sträflich allein gelassen. Nun kam Hektik ins Spiel, Berti Vogts und Willi Schulz wurden böse gefoult, auch Gerd Müller teilte aus und wurde verwarnt. Lokalmatador Schulz ging plötzlich ganz gebückt und erinnerte sich noch Jahrzehnte später an seine Bekanntschaft mit 1,90-Meter-Hüne Gilzean: „Der Ball war ganz woanders, da gab es einen Faustschlag auf die Leber, dass mir die Luft wegblieb. An diesem Tag habe ich gelernt: nie näher als einen Meter an den Mann ran gehen.“ Im Spiegel las man: „Fußball-Germanen und Kicker-Kelten bekämpften sich wie in früh-geschichtlicher Zeit vorwiegend Mann gegen Mann mit Fäusten und Füßen.“
„Mexiko, wir kooommen!“
Zum Glück wusste Stan Libuda auch in dieser Phase mit den Füßen noch etwas Besseres anzufangen. In der 78. Minute zog er nach einem Haller-Pass von der Mittellinie auf rechts los, schüttelte seinen Gegenspieler ab und erzielte mit links das ebenso herrliche wie wichtige Tor. „Ich spürte den Atem von Gemmel im Nacken. ‚Der foult’, dachte ich noch und sprang hoch. Gemmel trat ins Leere. Ich lief noch ein paar Meter. Irgendwie bekam ich den Ball an ihm vorbei“, berichtete der 1996 verstorbene Libuda über seinen größten Moment im DFB-Trikot. Und Günter Netzer, den Schön schon zum Warmlaufen geschickt hatte, setzte sich wieder hin. Dem Höhepunkt des Abends folgte noch ein trauriger Tiefpunkt: Gemmel machte regelrecht Jagd auf Haller, trat ihm brutal in die Beine und wurde vom Platz gestellt (88.). Dann tat Droz das, was alle ersehnten: er pfiff ab. Wieder stürmten Dutzende das Feld, darunter ein irgendwie verloren wirkender Mann im Mantel. Links trug er eine Aktentasche, rechts einen großen Blumenstrauß, den er wacker in die Höhe reckte – bloß fand er keinen Abnehmer im allgemeinen Jubelchaos.
Die kollektive Erleichterung sprang am nächsten Morgen aus der Schlagzeile von Bild: „Mexiko, wir kooommen!“
Das Hamburger Abendblatt bilanzierte sachlicher: „Schön war es nicht, gut war es auch nicht. Aber dramatisch, faszinierend. Eine Sache für harte Männer.“ Und einen großen Künstler namens Stan Libuda, der das Tor nach Mexiko schoss und öffnete. Zur vielleicht faszinierendsten WM aller Zeiten, bei der Deutschland gleich zwei „Jahrhundertspiele“ machte und auch als Dritter wie ein Weltmeister gefeiert wurde.