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Heute wäre Stan Libuda 80 Jahre alt geworden. Libuda ver­starb am 25. August 1996 im Alter von 52 Jahren nach einem Schlag­an­fall. 

Der Herbst 1969 kam früher, als es den Deut­schen lieb war. Nach einem welt­his­to­risch bedeut­samen Sommer kehrte all­mäh­lich Alltag ein. In den Schau­fens­tern der Buch­hand­lungen lagen die ersten Bücher von der Mond­lan­dung aus, der Mond selbst war in jenen Tagen von der Erde aus aber nur schwer zu erkennen. Schon am 4. Oktober legte sich eine dichte Nebel­wand über Nord­deutsch­land und machte kei­nerlei Anstalten zu ver­schwinden. 18 unend­lich lange Tage gingen die Ham­burger mor­gens im Nebel zur Arbeit und kamen abends im Nebel zurück. Die Vor­freude auf das sport­liche Groß­ereignis des Herbstes konnte das nur unwe­sent­lich trüben.

Das ent­schei­dende Fuß­ball-Län­der­spiel in der Qua­li­fi­ka­tion zur WM 1970 in Mexiko sollte vor am 22. Oktober 1969 in ihrer Stadt statt­finden – gegen die bis dahin von Deutsch­land in sechs Spielen nicht zu besie­genden Schotten.

500.000 Kar­ten­wün­sche

Rund 500.000 Kar­ten­wün­sche gingen beim DFB ein, doch kein Sta­dion der Welt ist groß genug dafür. Am 10. Sep­tember 1969 gingen die Tickets in den Vor­ver­kauf – und am 10. Sep­tember 1969 waren sie auch schon weg. Alle 71.925. Der bil­ligste Steh­platz für sechs D‑Mark, der teu­erste Tri­bü­nen­sitz für 30 DM. Wer kein Ticket bekam, konnte sich trösten, denn das ZDF über­trug live. Keine Selbst­ver­ständ­lich­keit in jenen Tagen. Die Men­schen zählten die Tage bis zum Anpfiff und rei­hen­weise wurden Ver­an­stal­tungen abge­setzt, die mit diesem Termin lieber nicht kon­kur­rieren wollten. Man muss in der Erin­ne­rung schon weit zurück­gehen, um ein Bei­spiel ähn­lich magi­scher Anzie­hungs­kraft für ein Län­der­spiel auf deut­schem Boden zu finden.“, schrieb der Kicker.

Noch nie hatte eine deut­sche Mann­schaft ein WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel ver­loren, nun gab es den 22. Anlauf. Die Aus­gangs­lage war kom­pli­ziert: die Deut­schen hatten zwei Punkte Vor­sprung, nach dama­liger Wer­tung also einen Sieg, aber auch ein Spiel mehr. Würden sie nicht gewinnen, wären sie im letzten Gruppen-Spiel auf die Schüt­zen­hilfe der Öster­rei­cher ange­wiesen, die mit einer Heim­nie­der­lage gegen die Schotten den unge­liebten Nach­barn aus dem Rennen hätten werfen können.

Es gab nun allerlei theo­re­ti­sche Kon­stel­la­tionen, aber nur einen opti­malen Lösungsweg: ein Sieg! Im Hin­spiel (1:1) fehlten nur fünf Minuten dazu, dann gli­chen die Schotten Gerd Mül­lers Füh­rungstor in Glasgow noch aus und ihr Trainer Bobby Brown posaunte: Wir haben noch nie gegen die Deut­schen ver­loren. Wes­halb eigent­lich zum ersten Mal in Ham­burg?“

Vor den Bild­schirmen saßen 32 Mil­lionen Deut­sche

In sein Büro hatte er sich Por­träts von den deut­schen Spie­lern an die Wand gehängt und immer wenn einer seiner Schütz­linge hinein kam, deu­tete er auf eines und sagte: Schau hin, das ist dein Mann für Ham­burg.“ Spiel­vor­be­rei­tung in Zeiten vor dem Video­re­korder…

Kol­lege Helmut Schön zog den 18er-Kader wie so oft vor wich­tigen Spielen in Malente zusammen. Dort sind wir wie zu Hause“, sagte der Bun­des­trainer und quar­tierte die Stars der jungen Bun­des­liga in Vier-Bett-Zim­mern ein. Sechs Tage lang. Eine gute Gele­gen­heit, angeb­liche Dis­so­nanzen zu berei­nigen, die zwi­schen Ham­bur­gern und Münch­nern auf­ge­kommen waren. Franz Becken­bauer und Willi Schulz riva­li­sierten teils öffent­lich um den Libero-Posten, Gerd Müller und Uwe Seeler um den Platz im Sturm­zen­trum. Denn Schön hatte den 31-jäh­rigen Seeler, der 1968 bereits zurück­ge­treten war, zum Come­back über­redet, wäh­rend Müller schon an dessen Stelle getreten war.

Und wie: Am 4. Oktober hatte der Bayern-Bomber sein 100. Bun­des­li­gator erzielt, mit 23 Jahren. Schön hatte noch ganz andere Sorgen und die hingen mit dem Nebel zusammen. Der ver­hin­derte, dass er seinen Ita­lien-Legionär Helmut Haller in Turin beob­achten konnte, das Flug­zeug durfte nicht starten. In den Zei­tungen wurden der­weil unscharfe Fotos gedruckt von deut­schen und schot­ti­schen Natio­nal­spie­lern, die in Malente und im Volks­park­sta­dion trai­nierten und weder Ball noch Mit­spieler erkennen konnten. DFB und FIFA machten sich am Tag vor dem Anstoß ernste Sorgen ob der Aus­tra­gung. So wurde ein worst-case-Sze­nario ent­worfen und als Aus­weich­termin der Don­ners­tag­nach­mittag gewählt. Um 15 Uhr, glaubte man, sei der Nebel wohl nicht so dicht wie am Abend.

Doch dann ging alles plan­mäßig am Mitt­woch ab 19.30 Uhr über die Bühne, weil sich der Nebel etwas lich­tete. Vor den Bild­schirmen saßen 32 Mil­lionen Deut­sche. 

Den­noch glaubte man­cher Zuschauer, nicht richtig zu sehen.

Wer stand denn dort auf Rechts­außen? Es war weder der Dort­munder Siggi Held noch der Neu-Braun­schweiger Bernd Dörfel? Nein, Schön inter­es­sierten die Pro­gnosen der Presse wenig. Er nomi­nierte den form­starken Schalker Rein­hard Libuda, den alle nur Stan“ nannten, weil er drib­beln konnte wie der legen­däre Eng­länder Stan Matthews. Und er sollte diese Ent­schei­dung nicht bereuen. Ebenso wenig, dass er Günter Netzer auf die Bank setzte. Er wäre in diesem Kampf­spiel voll uner­bitt­li­cher Härte“ (Kicker) wohl der fal­sche Mann gewesen.

Das Sta­dion platzte aus allen Nähten und manche bekamen Sitz­plätze, für die es keinen Preis gab – Hun­derte kau­erten dicht an der Aschen­bahn. Dann ging es los, der Nebel hatte sich ver­zogen. Dafür kam die kalte Dusche – für die Deut­schen.

Fuß­ball-Ger­manen und Kicker-Kelten bekämpften sich wie in früh-geschicht­li­cher Zeit“ 

Schon nach drei Minuten gingen die Schotten durch John­stone in Füh­rung, als Sepp Maier einen Fern­schuss nicht fest­halten konnte, und Schöns Elf brauchte eine halbe Stunde, um das zu ver­dauen. Immer wieder ging es hoch her vor dem deut­schen Tor, das 0:2 lag in der Luft und die Gäste-Fans machten sich bemerkbar. Dann traf der Schalker Ver­tei­diger Klaus Fichtel zum ersten und ein­zigen Mal im Natio­nal­dress. Nach einer von Haller per Kopf ver­län­gerten Libuda-Ecke sprang ihm der Ball im Straf­raum vor die Füße und mit etwas Glück lan­dete dieser, noch abge­fälscht, im Schotten-Tor. Das 1:1 (38.) war auch der Pau­sen­stand. Zur zweiten Hälfte kam der Schweizer Schieds­richter Droz im neuen Outfit, nun ganz in Schwarz. Sein helles Ober­teil war in der Kabine geblieben, die Zuschauer am Bild­schirm, damals gab es nur Schwarz-Weiß-Fern­sehen, dankten es ihm.

Die Schotten kamen unver­än­dert ent­schlossen aufs Feld zurück und trafen binnen vier Minuten zwei Mal die Latte. Dann kam nach 62 Minuten das obli­ga­to­ri­sche Müller-Tor, aus­ge­rechnet nach Kopf­ball­vor­lage von Uwe Seeler – und Schön sah sich bestä­tigt. Es ging ja doch mit den beiden…

Rund 30 Zuschauer eilten in Hut und Mantel auf den Platz, um die Deut­schen zu feiern. Das bekam ihnen nicht gut, schon 110 Sekunden später glückte Gil­zean von Tot­tenham, einer von vier Eng­land-Profis, per Kopf der Aus­gleich, die Abwehr hatte ihn sträf­lich allein gelassen. Nun kam Hektik ins Spiel, Berti Vogts und Willi Schulz wurden böse gefoult, auch Gerd Müller teilte aus und wurde ver­warnt. Lokal­ma­tador Schulz ging plötz­lich ganz gebückt und erin­nerte sich noch Jahr­zehnte später an seine Bekannt­schaft mit 1,90-Meter-Hüne Gil­zean: Der Ball war ganz woan­ders, da gab es einen Faust­schlag auf die Leber, dass mir die Luft weg­blieb. An diesem Tag habe ich gelernt: nie näher als einen Meter an den Mann ran gehen.“ Im Spiegel las man: Fuß­ball-Ger­manen und Kicker-Kelten bekämpften sich wie in früh-geschicht­li­cher Zeit vor­wie­gend Mann gegen Mann mit Fäusten und Füßen.“

Mexiko, wir kooommen!“

Zum Glück wusste Stan Libuda auch in dieser Phase mit den Füßen noch etwas Bes­seres anzu­fangen. In der 78. Minute zog er nach einem Haller-Pass von der Mit­tel­linie auf rechts los, schüt­telte seinen Gegen­spieler ab und erzielte mit links das ebenso herr­liche wie wich­tige Tor. Ich spürte den Atem von Gemmel im Nacken. Der foult’, dachte ich noch und sprang hoch. Gemmel trat ins Leere. Ich lief noch ein paar Meter. Irgendwie bekam ich den Ball an ihm vorbei“, berich­tete der 1996 ver­stor­bene Libuda über seinen größten Moment im DFB-Trikot. Und Günter Netzer, den Schön schon zum Warm­laufen geschickt hatte, setzte sich wieder hin. Dem Höhe­punkt des Abends folgte noch ein trau­riger Tief­punkt: Gemmel machte regel­recht Jagd auf Haller, trat ihm brutal in die Beine und wurde vom Platz gestellt (88.). Dann tat Droz das, was alle ersehnten: er pfiff ab. Wieder stürmten Dut­zende das Feld, dar­unter ein irgendwie ver­loren wir­kender Mann im Mantel. Links trug er eine Akten­ta­sche, rechts einen großen Blu­men­strauß, den er wacker in die Höhe reckte – bloß fand er keinen Abnehmer im all­ge­meinen Jubel­chaos.

Die kol­lek­tive Erleich­te­rung sprang am nächsten Morgen aus der Schlag­zeile von Bild: Mexiko, wir kooommen!“

Das Ham­burger Abend­blatt bilan­zierte sach­li­cher: Schön war es nicht, gut war es auch nicht. Aber dra­ma­tisch, fas­zi­nie­rend. Eine Sache für harte Männer.“ Und einen großen Künstler namens Stan Libuda, der das Tor nach Mexiko schoss und öff­nete. Zur viel­leicht fas­zi­nie­rendsten WM aller Zeiten, bei der Deutsch­land gleich zwei Jahr­hun­dert­spiele“ machte und auch als Dritter wie ein Welt­meister gefeiert wurde.