Start in unsere neue Serie der schönsten Orte der „Fußballrepublik Deutschland“, diesmal: Ostfrisia Moordorf ist ein legendärer Klub im nordwestlichen Niedersachsen. Hunderte Auswärtsfans fallen auf Provinzplätzen ein, Omas gehen auf Schiedsrichter los, Tore knicken um. Sollte jeder Fan gesehen haben, meint Tim Jürgens.
Heinz Harberts übernahm 1960 mit 23 Jahren den Vorsitz – auch eher aus Mangel an Alternativen. Als er 36 Jahre später abtrat, war der Ehrenamtler für Ostfrisia in so ziemlich allen Funktionen tätig gewesen: als Aktiver, Trainer, Vorsitzender, als Mitbegründer der Altliga und des Shanty-Chors. Seine drei Brüder und zwei Söhne waren ebenfalls lange Jahre aktiv für die Grün-Weißen. Seinen Hochzeitstag im Frühling 1968 legte Harberts auf den einzigen freien Tag, an dem er zufällig keine Verpflichtungen für den Verein hatte. Harberts hat Lieder über seine Heimat geschrieben. In „Mein Moordorf“ singt er: Inmitten von Ödland von Heide und Torf / da baute man Häuschen aus Lehm / und somit entstand einst das Hüttendorf / wo heut schöne Häuser nur stehn / ob Schule, ob Kirche, ob Kneipe, ob Sport / für jeden ist etwas dabei / so blüht heut das Leben in unserem Ort / wir leben hier fröhlich und frei.
Wenn er als Vorsitzender mitbekam, dass sein Klub irgendwo mal wieder als „Bauerntruppe“ verunglimpft wurde, retournierte der sonst eher spröde Ostfriese saftig: „Du kannst bei mir gern als Knecht anfangen.“
Ostfrisias natürlicher Lebensraum war meist die Bezirksliga. 1993 jedoch kamen für einige Jahre die Dinge in Unordnung. Mit dem Geld eines freigiebigen Blumenhändlers gelang es, Michael Schulz als Spielertrainer nach Moordorf zu lotsen. Der gebürtige Rostocker hatte zu DDR-Zeiten drei Meistertitel mit dem BFC Dynamo gewonnen. Kaum angekommen, stellte er fest, dass der Klub in der Fairplay-Tabelle auf dem letzten Rang stand. „Wenn im Spiel etwas danebenlief“, so Schulz, „fiel das Team auseinander – und es wurde geknüppelt.“ Er führte für Rote Karten eine Geldstrafe von 50 Mark ein. Wer zwei Mal durch Schiedsrichterbeleidigungen oder Nachtreten auffiel, brauchte nicht mehr wiederzukommen. Die Maßnahmen fruchteten. Schulz war überrascht, wie widerspruchslos die Moordorfer Spieler seinen Anweisungen folgten. Innerhalb eines Jahres wurde Ostfrisia zur fairsten Mannschaft der Bezirksliga. Die Spieler kamen oft schon eine Stunde vor Trainingsbeginn zum Platz. Auch nach stundenlangem Schusstraining mit dem schwachen Fuß meckerte keiner. „Man konnte sehen: Die waren heiß“, so Schulz. Die logische Konsequenz: Am Ende der Saison 1997/98 stieg Ostfrisia das erste und bis heute einzige Mal in die Landesliga auf. Ein großer Erfolg – der in der Rückschau für manchen Moordorfer jedoch einen Makel hat: Schulz hatte für den Aufstieg mehrere Spieler aus Aurich geholt.
Warum sich ein Besuch bei Ostfrisia auch bis in die Gegenwart lohnt, dass die Emotionen hier am Waller Weg für friesisische Verhältnisse noch immer außergewöhnlich leidenschaftlich sind, zeigt ein Besuch im August 2017: Ostfrisia in der Kreisliga gegen den FC Norden. Auch so ein Klub mit leicht versteifter Oberlippe aus einer Kreisstadt. Der enge Platz an der Schule, wo Zuschauer so nahe der Linie standen, dass man auf dem Rasen den korngetränkten Atem mancher Besucher roch, ist Geschichte. Der Klub unterhält nun entlang eines Maisfeldes zwei gepflegte Rasenplätze. Viele Zuschauer sitzen auf einer überdachten Tribüne mit grünen Sitzschalen.
Gegen die Norder läuft es nicht. Schnell liegt Ostfrisia mit 0:2 hinten. Der Fanklub, zehn Männer Mitte 50 in grünen Shirts, mit runden Bäuchen und kernigen Gesichtern, die sich in einer Ecke hinter ihrem Banner aufgebaut haben, schimpfen wie Rohrspatzen: »Spööl, du Nachtigall!« – »He löppt as en Aant«. Da verlässt Mike Kruse, ein bulliger Innenverteidiger mit gutem Auge, seine Position in der Viererkette, kommt an die Bande und weist die Meckerecke zurecht: »Wie wär’s, wenn ihr mal unterstützt? Ich dachte, ihr seid ein Fanklub.« Applaus von den Rängen. Die Männer sind augenblicklich still, nur einer gibt Kruse noch schwer verständliche Widerworte. Nebenan wird getuschelt. Der pöbelnde Anhänger ist niemand anderes als Kruses Vater.