Heute wird Roberto Baggio 55 Jahre alt. Als Spieler war er ein kickender Widerspruch, der als tragisches Genie faszinierte – und die coolste Frisur aller Zeiten hatte.
Wie jedes große Turnier hat auch die WM 1994 Bilder produziert, die das Rad der Zeit überdauerten, Bilder, die sich in kollektive Fußballgedächtnis eingefräst haben. Diego Maradona, von einer Schwester händchenhaltend zur Dopingprobe geführt, gehört dazu, Roger Milla als nimmersatter Methusalem, die Babyschaukel der Seleção, auch der Mittelfinger von Stefan Effenberg.
Mir nicht mehr aus dem Kopf ging noch lange nach diesem amerikanischen Sommer ein kleiner Mann mit knotigem Rastazopf, der, die Hände in die Seite gestemmt, gen Rasen blickte und dann wieder hoch, diesem Ball hinterher, den er soeben über die Querlatte geschickt hatte. Um ihn herum schlugen gelbe Leibchen wilde Salti, Brasilien war Weltmeister und Roberto Baggio der einsamste Mensch der Welt.
Drei lächerliche Zöpfe
Er, der Italien im Alleingang ins Finale getanzt hatte, wurde mir im Moment des Scheiterns zum liebsten Spieler. Bis dato waren Enttäuschung und Scheitern Gefühle, die ich in meiner kindlichen Naivität weder kannte noch verstand. Baggio aber und die Leere in seinen Augen, da, am gekreideten Punkt, brachten mir bei, dass das Leben nicht nur aus Honig und Zuckerwatte besteht. Baggio bewies, was es bedeuten kann, zu enttäuschen – und enttäuscht zu werden. Eine Mischung aus Mitleid und Faszination nahm mich an jenem 17. Juli 1994 gefangen für die italienische 10.
In der Woche nach dem Finale, ich glaube, es war ein Mittwoch, stand im Kindergarten mal wieder der Friseurbesuch auf dem Programm. Meine Freunde ließen sich ihren Pony stutzen oder den Nacken ausrasieren, ich aber wollte, anders als sonst, keine Haare lassen, sondern welche dazugewinnen. Mit billigem Garn flocht mir die Friseuse drei lange Zöpfe in den Schopf, die ich mir fortan leger über die Schulter zu legen pflegte. Unwahrscheinlich lächerlich sah ich aus, natürlich, mehr abgewrackter Padawan denn Fußballsuperstar, aber das war mir egal. Ich fühlte mich Roberto Baggio nahe, il divin codino, dem göttlichen Zopf.
Liebling der Massen, anders als die Massen
Das Interesse an dem stürmenden Mittelfeldspieler sollte, einmal entfacht, bis zu dessen Karriereende anno 2004 andauern. Vor allem wegen der zahlreichen Widersprüche, die Baggio in seiner Person vereinte, zog er in den Bann. Er war nonkonform, aber trotzdem von jedermann (mit Ausnahme seiner Trainer) verehrt. Ein Liebling der Massen, weil er anders war als die Masse.
Ein praktizierender, meditierender Buddhist, und das im vatikanisch-katholischen Italien. Ein Entenjäger, der sein mörderisches Hobby mit dem Credo rechtfertigte, der Tod sei nur natürlich, andererseits aber auch überzeugt davon war, in einem früheren Leben selbst Ente gewesen zu sein. Ein Genie, ein Wahnsinniger, Hedonist, Philosoph, der letzte Hippie im Fußball. Einer, der, auf der Höhe des Hypes, sinnierte: „Mein Traum ist es, ein Bauer zu sein, bei mir zuhause in Caldogno, auf dem Feld zu arbeiten und dabei Radio zu hören, Fußballübertragungen.“