Die Euphorie unter Interimscoach Horst Hrubesch währte nur kurz. Mit der Niederlage beim VfL Osnabrück verpasst der Hamburger SV zum dritten Mal in Folge den Wiederaufstieg. Etabliert sich der „Dino“ nun endgültig als schnöder Zweitligist?
Auch das noch. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass der HSV wieder nicht aufsteigt, hat der Klub von der Elbe jetzt auch die Chance auf einen ewigen Zweitligarekord schon nicht mehr in der eigenen Hand. Bis gestern Mittag sah es so aus, als hätten die Rothosen am Ende dieser Saison genau zwei Optionen: Unter Interimscoach Horst Hrubesch die zwei noch verbliebenen Spiele gewinnen und je nach den Ergebnissen der Spielvereinigung Greuther Fürth entweder in die Relegation einzuziehen – oder mit dem KSV Hessen Kassel gleichzuziehen. Dem einzigen Klub in der 47-jährigen Geschichte der zweiten Liga, dem das etwas zweifelhaft Kunststück gelang, drei Mal in Folge eine Spielzeit (1983 bis ’85) auf dem undankbaren vierten Tabellenplatz abzuschließen. Und damit jeweils hauchzart am Aufstieg vorbeizuschlittern.
Doch nach der 2:3‑Auswärtsniederlage beim VfL Osnabrück ist der HSV auf den fünften Tabellenplatz zurückgefallen. Hrubesch fand unmissverständliche Worte für die Leistung seiner Mannschaft. „Das reicht so nicht“, sagte der 70-Jährige nach Abpiff, „Wir machen Türen auf und kriegen Gegentore, wo du dich wirklich hinterfragen musst. (…) Du musst es dir verdienen und du musst es in einem Spiel wie in Osnabrück auch wollen. Ich habe das mein Leben lang gemacht, hatte aber nicht das Gefühl, dass das bei allen so war. Wir haben es nicht verdient.“ Und damit ist eigentlich alles gesagt, was zu dieser Zweitligasaison des einstigen Erstliga-Dinos noch gesagt werden musste. Der HSV bleibt, wo er ist, weil der Klub zu mehr nicht im Stande war. Und das zum zum dritten Mal in Folge.
Und weckt nun sogar Assoziationen zu Hessen Kassel Was für ein bitterböser Vergleich! Der Verein aus Mitteldeutschland hat nie in der Bundesliga gespielt. Der KSV belegt Platz 37 der ewigen Zweitligatabelle. Der größte Erfolg in der 74-jährigen Vereinsgeschichte war das Erreichen des DFB-Pokal-Viertelfinals. Nach der Pleite musste der Klub Ende des Jahrtausends in der Bezirksliga neu anfangen und kickt heute in der Regionalliga Südwest. Was ist Hessen Kassel verglichen mit dem ruhmreichen Traditionsklub von der Elbe, bei dem allein drei Europapokale in Vitrine stehen? Und doch ist die Parallele angesichts der Lage mehr als nur an den Haaren herbei gezogene Schwarzmalerei.
Denn die tiefe Ernüchterung über die vergeblichen Anstrengungen im Aufstiegsrennen, die beim KSV Hessen bald in die Katastrophe führten, könnte sich auch beim Hamburger SV Bahn brechen. Sicher nicht in so extremen Ausmaßen wie in Kassel, aber zumindest in Ansätzen.
Wenn Fußball ein Geschäft mit Träumen ist, hat der HSV in drei Zweitligajahren so ziemlich jeden Bereich seines Unterbewusstseins in einer Art Wachkoma durchmessen: In der ersten Saison nach dem Abstieg hofften die Fans auf den bescheidenen Ex-Jugendtrainer Christian Titz. Dem mangelte es jedoch in den Augen des eitlen Vorstands Bernd Hoffmann an Strahlkraft, weshalb der Coach schon beim ersten Anflug von Krise seinen Hut nehmen musste. Hoffmanns Plan, in der Folge mit dem jung-dynamischen Hannes Wolf federnden Gangs zurück in die erste Liga zu flanieren, funktionierte nicht. Auch sein Versuch, in der zweiten Saison mit dem krisenerprobten Erstligacoach Dieter Hecking beim Aufstieg auf Nummer Sicher zu gehen, schlug fehl. Im Verlaufe der Spielzeit durfte auch der Vorstand seinen Hut nehmen.
Dem neuen HSV-Boss Jonas Boldt blieb vor dieser Saison nach fetten Etateinschnitten nur der Glaube an eine alternative Lösung des Problems: Er übergab die Verantwortung einem, der durch das Amt aufgewertet wurde und durch seine Erfolge beim VfL Osnabrück prädestiniert schien, einen ganz neuen, andersartigen HSV zu erfinden: Daniel Thioune. Der Kader wurde, soweit möglich, um Großverdiener dezimiert, deren Platz nun junge Talente einnahmen. Vereinsikone Horst Hrubesch kehrte als Nachwuchsdirektor zurück. Und auch wenn die neue Struktur noch keine Erfolgsgarantie war, sorgte doch der frische, unverbrauchte Wind, den die handelnden Personen fortan in Stellingen verbreiteten, zumindest wieder für ein positives Grundgefühl. Für Aufbruchsstimmung.
Ende Januar 2021 belegte der HSV nach dem 19. Spieltag mit vier Punkten Vorsprung die Tabellenspitze. Die jungen Spieler hatten sich gut in den laufenden Betrieb eingefügt. Auch die, die lange Zeit hinter den Erwartungen zurückgeblieben waren, etwa Sonny Kittel oder Aaron Hunt, schienen wieder Spaß am Fußball zu empfinden. Und Simon Terodde lieferte pflichtgemäß das, was sich das Management bei seiner Verpflichtung erhofft hatte: Tore. Doch eine echte, fruchtbare Hierarchie im Team entwickelte sich nie, was auch daran lag, dass Spieler wie Toni Leistner und Klaus Gjasula, die vor der Saison als Korsettstangen geholt worden waren, den hohen Erwartungen nicht gerecht werden konnten.
Wie seinen Vorgängern gelang es auch Daniel Thioune nicht, den stetig steigenden Druck zu kanalisieren. In der Rückrunde verlor seine Mannschaft den soliden Groove aus der Hinserie. Nur drei Siege aus 14 Rückrundenspielen, allein die letzten fünf Partien unter dem gerade noch so selbstbewussten Coach endeten sieglos. Es war wie in den beiden vorangegangenen Spielzeiten: Als der Wiederaufstieg keine diffuses Fernziel, kein schöner Traum mehr war, sondern langsam aber sicher Gestalt annahm, bekamen nicht nur die Spieler kalte Füße, sondern der gesamte Apparat gleich mit.
Jonas Boldt setzte alles auf eine Karte. Der Vorstandschef nahm Abstand von all seinen rationalen Planspielen, von nachhaltigen Ideen und Strukturfragen, und setzte mit der Entlassung des glück- und zunehmend ratlosen Trainers drei Spieltage vor Schluss – und der Beförderung von Horst Hrubesch – alles auf die Karte mit der Farbe „Emotion“. Nach dem Unentschieden gegen den KSC war klar: Wenn der Wiederaufstieg noch irgendwie gelingen soll, muss ein Ruck durch die Mannschaft gehen. Und in Ermangelung von Geld für die Verpflichtung eines Feuerwehrmanns, der für den erfolgreichen Abschluss seiner Mission – wie beispielweise Friedhelm Funkel in Köln, der bei Klassenerhalt eine halbe Millionen Euro kassieren würde – noch einen satten Obulus erhält, überredete Boldt den 70-Jährigen zum Gang in die Profikabine, damit der Alte dem verhuschten Kader in seiner kumpelig-bollerigen Art mal gehörig die Ohren durchpustet.
Denn allen Beteiligten war klar: Wenn es wieder nicht klappt, verschwindet der HSV langsam aber sicher aus der Phalanx designierter Erstligisten. Dass Hrubesch den verunsicherten Kader stützen konnte, wurde am vergangenen Montag beim 5:2‑Kantersieg gegen den „Club“ sichtbar. Plötzlich war wieder Spielfreude und Selbstbewusstsein erkennbar. Die Rochaden bei der Aufstellung und auch das leicht veränderte taktische Konzept überraschten den Gegner. Doch die gute Laune hielt nur wenige Tage an. Seit gestern Nachmittag ist sicher: Der HSV wird auch in der kommenden Saison in der zweiten Liga spielen. Sportlich und wirtschaftlich ein Fiasko. Keine Frage. Was das erneute Scheitern aber in den Köpfen der Spieler, Funktionäre und auch im Umfeld anrichtet, ist derzeit schwer abzusehen. Denn es ist ein schweres Trauma. Zukünftig wird jedes Mal, wenn sich am Volkspark die Chance auf den Aufstieg ergibt, bei allen das Kopfkino anspringen. Und sie werden sich fragen: Wie war das noch beim letzten Mal? Und beim vorletzten? Am 19. Spieltag auf Aufstiegskurs? Obacht, schlechtes Omen!
Fußballspiele gewinnt man eben doch zuerst im Kopf. Und wohin sich Vereine manövrieren, die über Jahre alles nur einem hehren Ziel unterordnen und darüber das rationale Denken einstellen, ist auf Schalke (Ziel seit 1958: Deutsche Meisterschaft) und in Kaiserslautern (Ziel seit 2012: Bundesliga) wie bei einem Laborversuch minutiös zu besichtigen. Diese Klubs haben über ihre Ambitionen irgendwann die Realität vergessen. Nun werden sie – katalysiert durch die Begleiterscheinungen der Corona-Krise – beinhart mit der Wirklichkeit und ihren wahren Maßstäben konfrontiert. Und in beiden Fällen ist unabsehbar, ob bei ehrlicher Berechnung aller Gegebenheiten ein Fortbestehen für diese Vereine im Profifußball überhaupt noch möglich ist.
Auch der HSV wird durch den Verbleib in der zweiten Liga in dem Versuch einer Konsolidierung erneut zurückgeworfen. Der Umsatz wird in dieser Saison – die wider Erwarten ohne ein einziges verkauftes Stadionticket zu Ende geht – von zuletzt 95,7 Millionen Euro um gut die Hälfte einbrechen. Allein 25 Millionen Euro fehlen den Rothosen nach Berechnung des „Hamburger Abendblatt“ durch fehlende Zuschauereinnahmen. In der zweiten Liga erhält der HSV kommende Saison rund 17 Millionen Euro TV-Geld, in der ersten Spielklasse wäre es knapp doppelt so viel. Auch beim Sponsoring würden im Ligavergleich rund fünf Millionen Euro fehlen. Der Vertrag mit Trikotsponsor Orthomol garantiert den Hamburgern im Unterhaus für die kommende Saison zwei Millionen Euro, in der ersten Liga könnte sich der Klub hingegen einen neuen Partner suchen und geschätzt sieben, acht Millionen erlösen.
Entsprechend weniger ist für die Lizenzabteilung übrig. Nachdem der Personaletat vor der Saison 2020/21 bereits von 30 Millionen Euro auf 24 Millionen reduziert wurde, werden die Ausgaben nun wohl um weitere vier Millionen eingedampft. Dass sich die Verbindlichkeiten des Klubs von rund 74 Millionen Euro bedingt durch Geisterspiele und die allgemeine Fußballdepression in den vergangenen Monaten nur unwesentlich abgebaut haben, versteht sich von selbst. Anderen Vereinen geht es da noch weitaus schlechter.
Immerhin musste der HSV bislang keine Staatshilfen beantragen, so wie die Erstligisten aus Schalke, Stuttgart, Frankfurt, Bremen und Köln. Der Verein hat in Stellingen ein 75 000 Quadratmeter großes Grundstück an die Stadt verkauft, für das in Kürze 23,5 Millionen Euro fließen werden, die für die Sanierung des Volksparkstadions vorgesehen sind. Das vereinseigene Stadion schützt den Klub bis auf weiteres vor dem Fall ins Bodenlose.
Bleibt zu hoffen, dass die Führung um Jonas Boldt und Manager Michael Mutzel nach der Schmach des verpassten Wiederaufstiegs nicht vorzeitig aufgibt und ihren Weg der Konsolidierung – sportlich, wirtschaftlich, psychologisch – weitergehen kann. Auch wenn die sportlichen Ziele verpasst wurden, hat der Vorstandschef für eine neue Leichtigkeit auf der Geschäftsstelle gesorgt und den Filz der Jahrzehnte abgebaut. An Boldts Personalie hängt auch der Verbleib von Horst Hrubesch als Nachwuchsdirektor. Welche Sogkraft das einstige „Kopfballungeheuer“ hinsichtlich des positiven Grundgefühls im Verein und beim Umfeld entwickelt, war in den vergangenen Tagen unübersehbar. Und nichts braucht der HSV in seine Situation dringender als Optimismus und Charaktere, die es ehrlich mit dem Klub meinen.
Denn die Wahrscheinlichkeit des Wiederaufstiegs nimmt mit jedem Jahr rapide ab. In der neuen Saison wird der HSV mit mehr als einem halben Dutzend dümpelnder Traditionsklubs um einen Aufstiegsplatz konkurrieren. Mit Vereinen, die sich allesamt als etablierte Bundesligisten verstehen.
Angenommen neben dem FC Schalke 04 würden der 1. FC Köln und der SV Werder absteigen, hätte es der Klub von der Elbe mit drei Rivalen zu tun, deren wirtschaftliche Spielräume deutlich größer sind. Wie sehr die Schere inzwischen aufgeht, beweist der Wechsel von Simon Terodde, der ab Sommer in Königsblau auflaufen wird. Der in die Jahre gekommene Stürmer verdient im strukturschwachen Ruhrgebiet weitaus besser als im betuchten Hamburg.
Schalke wird nach dem Verkauf etlicher Leistungsträger in der zweiten Liga Schätzungen zufolge mit einem Spieleretat von 40 Millionen Euro die überlebensnotwendige Mission „Wiederaufstieg“ angehen. Die Kölner und die Werderaner würden mit einem Budget zwischen 25 und 30 Millionen Euro versuchen, eine direkte Rückkehr in die erste Liga umzusetzen. Und sollte es darüber hinaus Hannover 96, dem 1. FC Nürnberg, Fortuna Düsseldorf oder zum allem Überfluss dem FC St. Pauli gelingen, an alte Erfolge anzuknüpfen, ist nicht auszuschließen, dass der Hamburger SV sich demnächst im Zweitligamittelmaß wiederfindet. Die aktuelle Saison hat gezeigt, wie nah gerade im Unterhaus die Leistungsdichte beieinander liegt. Wer wüsste besser, dass in der zweiten Liga jeder jeden schlagen kann, als der einst große Hamburger SV.