Am 18. Juni 1944 fand im Berliner Olympiastadion das letzte Meisterschaftsfinale während des Krieges statt. 70.000 Menschen kamen, um zu vergessen, dass draußen die Welt brannte.
Frühsommer 1944. Die alliierten Truppen sind bereits in der Normandie gelandet, die Rote Armee hat die deutschen Verbände im Osten fast bis an die Reichsgrenze zurückgedrängt, da spuckt die Propagandamaschine der Nazis „Kolberg“ aus, den mit 8,8 Millionen Reichsmark Produktionskosten teuersten Film seiner Zeit. Heinrich George in der Hauptrolle spielt den Volkshelden Joachim Nettelbeck, tausende Wehrmachtssoldaten wirken als Statisten mit, noch mehr Pferde, manche nurmehr Gerippe, sind von überall her zusammengezogen worden. Und um auch bei Temperaturen weit über dem Gefrierpunkt Schneeszenen drehen zu können, haben die Macher gut einhundert Eisenbahnwaggons voller Salz auf den pommerschen Acker kippen lassen. Allein dem Pyrotechniker Erwin Lange stehen 400.000 Reichsmark zur Verfügung, er verpulvert sie restlos.
„Kolberg“ wird der letzte in einer Reihe von Durchhaltefilmen sein, die die NS-Propaganda seit 1942 hat produzieren lassen. Die Geschichte der unbeugsamen Preußen, die sich 1806 nach erbittertem Kampf aus der Umklammerung der napoleonischen Truppen befreiten, soll die Deutschen nun, 136 Jahre später, im Kino auf den sogenannten Endkampf vorbereiten. „Aufgabe dieses Films ist es“, hat NS-Propagandaminister Joseph Goebbels bereits ein Jahr zuvor in einem Brief an den designierten Regisseur Veit Harlan geschrieben, „am Beispiel der Stadt, die dem Film den Titel gibt, zu zeigen, dass ein in Heimat und Front geeintes Volk jeden Gegner überwindet.“ Dafür war ihm nichts zu teuer, nichts zu pathetisch.
Doch als „Kolberg“ im Januar 1945 uraufgeführt wird, ist das Volk längst uneins, der Gegner übermächtig, die Lage aussichtslos, und keine Propaganda kann darüber noch hinwegtäuschen. Den Marinesoldaten im von den Alliierten eingeschlossenen U‑Boot-Hafen La Rochelle, denen das Machwerk als ersten zugemutet wird, muss es vorkommen wie eine unselige Mischung aus Kitsch und Wahn, die ihre verzweifelte Lage verhöhnt. In die Vorführungen im Berliner Tauentzienpalast, der 1053 Gästen Platz bietet, verirren sich kaum noch hundert.
In den „Meldungen aus dem Reich“, den Dossiers über die Stimmung in der Bevölkerung, die der SS-Geheimdienst erspitzelt, heißt es: „Im Anschluss an Stalingrad war es noch möglich, die aufgewühlten Massen zu Entschlüssen hinzureißen, um das am Horizont erscheinende Unheil durch gesteigerte Tatkraft abzuwenden. Die Herzen waren neuer propagandistischer Beeinflussung wieder geöffnet. Seit aber der Luftkrieg die städtische Bevölkerung unmittelbar mit dem Untergang bedroht, erwacht in jedem Einzelnen ein bisher nicht bekanntes Bedürfnis zu selbständigem Nachdenken.“
Die Trümmer rauchen, die Gedächtniskirche steht da wie eine leuchtende Brandfackel, im Zoo geben Wärter ihren schreienden Tieren den Gnadenschuss.
Seit Beginn des Jahres 1943 liegt Berlin nach wiederholten Bombardements der amerikanischen und britischen Luftwaffe in weiten Teilen in Schutt und Asche. Allein im November sterben mehrere tausend Menschen, hunderttausende werden obdachlos, die Trümmer rauchen, die Gedächtniskirche steht da wie eine leuchtende Brandfackel, im Zoo geben Wärter ihren schreienden Tieren den Gnadenschuss.
Naturgemäß lassen sich die wenigsten, die in einer solchen Umwelt vegetieren müssen, von Historienschinken wie „Kolberg“ noch zum Durchhalten motivieren. Aber aushalten wollen sie dieses Inferno, irgendwie. Überleben, weiterleben. Sie tun dies, indem sie inmitten des Chaos auf beinah grotesk anmutende Weise ihre Rituale pflegen, den Tanztee in den Ruinen, den Spaziergang durch die verwüsteten Straßen – und den Besuch eines Fußballspiels. Am Sonntag, den 18. Juni 1944, machen sich 70.000 Menschen ins Olympiastadion auf, als wäre nichts gewesen und würde nichts bevorstehen.
Nachdem die Ausscheidungsrunde nur noch behelfsmäßig durchgeführt werden konnte, stehen sich im Finale der traditionsreiche Dresdner SC und der erst 1942 von Wehrmacht-Oberst Fritz Laicher ins Leben gerufene Luftwaffen-Sportverein Hamburg gegenüber, Letzterer gespickt mit Stars wie Willy Jürissen im Tor, Außenläufer Robert „Zapf“ Gebhardt und Stürmer Ludwig Janda, die zuvor bei Renommierklubs Erfolge gefeiert haben. Da die Bomber seit dem 6. März auch tagsüber Angriffe fliegen, wird die Sportstätte am Maifeld, ein potentielles Ziel, erst am Sonntagmorgen als Spielort bekanntgegeben. Zwar dienen die Katakomben als Luftschutzkeller, doch Platz für 70 000 gibt es dort nicht. Ein Evakuierungsplan ist ebenso wenig vorhanden. Viertelstündlich wird über eine Sonderleitung zum Gaukommando die „Luftlage“ übermittelt. Sollte es Fliegeralarm geben, müssen sich die Massen laut einer Weisung aus dem Reichshauptamt „irgendwie zerstreuen“.
Gehen die Zuschauer davon aus, dass die Alliierten, vor allem die fußballbeflissene Royal Air Force, kein vollbesetztes Stadion bombardieren? Oder nehmen sie das Risiko auf sich, als Preis für ein Spiel, das sie 90 Minuten lang vergessen lässt, dass draußen die Welt brennt?