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Früh­sommer 1944. Die alli­ierten Trup­pen sind bereits in der Nor­mandie ge­landet, die Rote Armee hat die deut­schen Ver­bände im Osten fast bis an die Reichs­grenze zurück­ge­drängt, da spuckt die Pro­pa­gan­da­ma­schine der Nazis Kol­berg“ aus, den mit 8,8 Mil­lionen Reichs­mark Pro­duk­ti­ons­kosten teu­ersten Film seiner Zeit. Hein­rich George in der Haupt­rolle spielt den Volks­helden Joa­chim Net­tel­beck, tau­sende Wehr­machts­sol­daten wirken als Sta­tisten mit, noch mehr Pferde, manche nur­mehr Gerippe, sind von überall her zusam­men­ge­zogen worden. Und um auch bei Tem­pe­ra­turen weit über dem Gefrier­punkt Schnee­szenen drehen zu können, haben die Macher gut ein­hun­dert Eisen­bahn­wag­gons voller Salz auf den pom­mer­schen Acker kippen lassen. Allein dem Pyro­tech­niker Erwin Lange stehen 400.000 Reichs­mark zur Ver­fü­gung, er ver­pul­vert sie restlos.

Kol­berg“ wird der letzte in einer Reihe von Durch­hal­te­filmen sein, die die NS-Pro­pa­ganda seit 1942 hat pro­du­zieren lassen. Die Geschichte der unbeug­samen Preußen, die sich 1806 nach erbit­tertem Kampf aus der Umklam­me­rung der napo­leo­ni­schen Truppen befreiten, soll die Deut­schen nun, 136 Jahre später, im Kino auf den soge­nannten End­kampf vor­be­reiten. Auf­gabe dieses Films ist es“, hat NS-Pro­pa­gan­da­mi­nister Joseph Goeb­bels bereits ein Jahr zuvor in einem Brief an den desi­gnierten Regis­seur Veit Harlan geschrieben, am Bei­spiel der Stadt, die dem Film den Titel gibt, zu zeigen, dass ein in Heimat und Front geeintes Volk jeden Gegner über­windet.“ Dafür war ihm nichts zu teuer, nichts zu pathe­tisch.

Als wäre nichts gewesen und würde nichts bevor­stehen

Doch als Kol­berg“ im Januar 1945 ur­aufgeführt wird, ist das Volk längst uneins, der Gegner über­mächtig, die Lage aus­sichtslos, und keine Pro­pa­ganda kann dar­über noch hin­weg­täu­schen. Den Mari­ne­sol­daten im von den Alli­ierten ein­ge­schlos­senen U‑Boot-Hafen La Rochelle, denen das Mach­werk als ersten zuge­mutet wird, muss es vor­kommen wie eine unse­lige Mischung aus Kitsch und Wahn, die ihre ver­zwei­felte Lage ver­höhnt. In die Vor­füh­rungen im Ber­liner Tau­ent­zi­en­pa­last, der 1053 Gästen Platz bietet, ver­irren sich kaum noch hun­dert.

In den Mel­dungen aus dem Reich“, den Dos­siers über die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung, die der SS-Geheim­dienst erspit­zelt, heißt es: Im Anschluss an Sta­lin­grad war es noch mög­lich, die auf­ge­wühlten Massen zu Ent­schlüssen hin­zu­reißen, um das am Hori­zont erschei­nende Unheil durch gestei­gerte Tat­kraft abzu­wenden. Die Herzen waren neuer pro­pa­gan­dis­ti­scher Beeinflus­sung wieder geöffnet. Seit aber der Luft­krieg die städ­ti­sche Bevöl­ke­rung unmit­telbar mit dem Unter­gang bedroht, erwacht in jedem Ein­zelnen ein bisher nicht bekanntes Bedürfnis zu selb­stän­digem Nach­denken.“

Die Trümmer rau­chen, die Gedächt­nis­kirche steht da wie eine leuch­tende Brand­fa­ckel, im Zoo geben Wärter ihren schrei­enden Tieren den Gna­den­schuss.

Seit Beginn des Jahres 1943 liegt Berlin nach wie­der­holten Bom­bar­de­ments der ame­ri­ka­ni­schen und bri­ti­schen Luft­waffe in weiten Teilen in Schutt und Asche. Allein im November sterben meh­rere tau­send Men­schen, hun­dert­tau­sende werden obdachlos, die Trümmer rau­chen, die Gedächt­nis­kirche steht da wie eine leuch­tende Brand­fa­ckel, im Zoo geben Wärter ihren schrei­enden Tieren den Gna­den­schuss.

Natur­gemäß lassen sich die wenigsten, die in einer sol­chen Umwelt vege­tieren müssen, von His­to­ri­en­schinken wie Kol­berg“ noch zum Durch­halten moti­vieren. Aber aus­halten wollen sie dieses Inferno, irgendwie. Über­leben, wei­ter­leben. Sie tun dies, indem sie inmitten des Chaos auf beinah gro­tesk anmu­tende Weise ihre Rituale pflegen, den Tanztee in den Ruinen, den Spa­zier­gang durch die ver­wüs­teten Straßen – und den Besuch eines Fuß­ball­spiels. Am Sonntag, den 18. Juni 1944, machen sich 70.000 Men­schen ins Olym­pia­sta­dion auf, als wäre nichts gewesen und würde nichts bevor­stehen.

90 Minuten lang ver­gessen

Nachdem die Aus­schei­dungs­runde nur noch behelfs­mäßig durch­ge­führt werden konnte, stehen sich im Finale der tra­di­ti­ons­reiche Dresdner SC und der erst 1942 von Wehr­macht-Oberst Fritz Lai­cher ins Leben geru­fene Luft­waffen-Sport­verein Ham­burg gegen­über, Letz­terer gespickt mit Stars wie Willy Jürissen im Tor, Außen­läufer Robert Zapf“ Geb­hardt und Stürmer Ludwig Janda, die zuvor bei Renom­mier­klubs Erfolge gefeiert haben. Da die Bomber seit dem 6. März auch tags­über Angriffe fliegen, wird die Sport­stätte am Mai­feld, ein poten­ti­elles Ziel, erst am Sonn­tag­morgen als Spielort bekannt­ge­geben. Zwar dienen die Kata­komben als Luft­schutz­keller, doch Platz für 70 000 gibt es dort nicht. Ein Eva­ku­ie­rungs­plan ist ebenso wenig vor­handen. Vier­tel­stünd­lich wird über eine Son­der­lei­tung zum Gau­kom­mando die Luft­lage“ über­mit­telt. Sollte es Flie­ger­alarm geben, müssen sich die Massen laut einer Wei­sung aus dem Reichs­hauptamt irgendwie zer­streuen“.

Gehen die Zuschauer davon aus, dass die Alli­ierten, vor allem die fuß­ball­be­flis­sene Royal Air Force, kein voll­be­setztes Sta­dion bom­bar­dieren? Oder nehmen sie das Risiko auf sich, als Preis für ein Spiel, das sie 90 Minuten lang ver­gessen lässt, dass draußen die Welt brennt?