Am Dienstag streicht Jogi Löw noch vier Spieler aus seinem EM-Kader. Warum kommt Sané mit? Wieso wird es für Kimmich schwer? Und was ist mit Mustafi oder Podolski?
Leroy Sané
Der größte Bundesliga-Hype der vergangenen Monate hatte einen Namen: Leroy Sané. Der 20-jährige Schalker spielte aber auch eine mehr als ansehnliche Saison: Er schoss acht Tore und bereitete weitere sechs Treffer vor. Zwischenzeitlich stand so ziemlich jeder europäische Topklub bei seinem Vater, Ex-Bundesligastürmer Souleyman Sané, auf der Matte.
Aktuell wird der Marktwert des Filius auf 18 Millionen Euro taxiert. Der „Kicker“ berichtete jüngst von einer Ausstiegsklausel im Vertrag des Offensivspielers und davon, dass der FC Bayern im nächsten Jahr zuschlagen werde.
Trotzdem: Ist Sané, der zwar geniale Spielanlagen hat und für Überraschungsmomente sorgen kann, schon bereit für eine EM? Olaf Thon sagte im „Kicker“: „Von den Jungen ist er derjenige, der im Turnier zur echten Waffe werden könnte.“ Nach seinem zweiten Länderspiel am vergangenen Sonntag gegen die Slowakei sagte Sané allerdings selbst: „Bei mir war mehr drin! Ich habe nicht alles gegeben!“ Ehrlichkeit zahlt sich aus, sagt man. Vielleicht ja auch diesmal.
EM-O-Meter: 80 Prozent.
Julian Brandt
Der Leverkusener hat eine ordentliche Saison gespielt (neun Tore, fünf Vorlagen), und vor allem in der Schlussphase zeigte er, was für ein großartiger Kicker in ihm steckt. In seinen letzten neun Einsätzen war er an elf Toren direkt beteiligt, zwischen dem 27. und 32. Spieltag gelangen ihm sechs Treffer. Außerdem sammelte der 20-Jährige Champions-League- und Europa-League-Erfahrung.
Sein DFB-Debüt gegen die Slowakei ging aber mächtig in die Hose. Er spielte 45 Minuten, nach denen Löw sagte: „Man kann nicht zu viel von den jungen Spielern erwarten. Sie standen auch unter einem gewissen Druck.“ Seine Konkurrenz im offensiven Mittelfeld ist groß: Marco Reus, Mario Götze, Mesut Özil, Karim Bellarabi, Julian Draxler, André Schürrle, Leroy Sané.
EM-O-Meter: 20 Prozent.
Julian Weigl
Glück für die, die nicht im offensiven Mittelfeld spielen. Pech für die, die im defensiven Mittelfeld spielen. Denn dort ist die DFB-Elf mindestens genauso gut und dicht besetzt. Daher wird’s auch für Julian Weigl schwer werden, einen Platz im EM-Kader zu ergattern. Sein Spiel gegen die Slowakei ließ ebenfalls sehr viel Platz nach oben, was er selbst ähnlich sieht: „Ich hätte mir ein anderes Debüt vorgestellt. Die Platzverhältnisse waren sehr schwierig in der zweiten Halbzeit. Aber da muss man durch.“
Trotzdem: Weigl hat eine Saison gespielt, die nicht viele von ihm erwartet hätten. 2015 wechselte er für 2,5 Millionen Euro von 1860 München zum BVB und kam auf 25 Startelfeinsätze. In puncto Statistiken macht dem Sechser niemand was vor. Ein Beispiel: dritter Spieltag, BVB gegen Hertha, Passquote 94,5 Prozent, 109 Ballkontakte, Laufleistung 11,45 Kilometer.
Zum Vergleich: Nebenmann Ilkay Gündogan hatte in diesem Spiel nur 91 Ballkontakte, und Henrich Mchitarjan lief nur 10,19 Kilometer. Wer glaubt, dass dieses Spiel nur ein One-Hit-Wonder war, der irrt: Am Ende der Saison hatten nur drei Bundesligaspieler eine bessere Passquote als Weigl. Löw steht ja auf solche grundsoliden Kicker.
Trotzdem: Das EM-O-Meter schlägt nur auf 30 Prozent aus.
Joshua Kimmich
„Im defensiven Mittelfeld waren wir phasenweise ein bisschen offen. Neben Sami war links und rechts relativ viel Platz, da war es schwer. Also konnten wir den Gegner bei der Ballannahme und im Spiel nach vorne nicht entscheidend stören.“ Das sagte Jogi Löw nach dem Test gegen die Slowakei. Und das war vor allem eine Kritik an Joschua Kimmich, der am Sonntag sein erstes Länderspiel bestritt. Auch Jerome Boateng kritisierte die Defensive: „Nach hinten hat es von Anfang an nicht gestimmt. Wir haben keine Zweikämpfe angenommen und sind zu sehr hinterhergelaufen.“
Immerhin hat Kimmich in der vergangenen Saison einen großen Fürsprecher gehabt: Pep Guardiola. Der Katalane schwärmte regelmäßig von dem Defensivallrounder. Und Kimmich schwärmte von seinem Trainer: „Wenn er mich, einen jungen und unerfahrenen Spieler, immer wieder in der Innenverteidigung bringt, eine unbekannte Position für mich, hat er Eier. Oder?“ Trotzdem: Kimmich hat bislang gerade mal zwölf Bundesligaspiele über die komplette Spielzeit bestritten.
EM-O-Meter: 25 Prozent.
Karim Bellarabi
Ein Bundesligadauerbrenner und im Gegensatz zu den bisher genannten ein alter Hase. Der 26-Jährige bringt seit Jahren ordentliche Leistung. Nur drei Spieler – Mchitarjan, Costa und Junuzovic – bereiteten in der vergangenen Saison mehr Treffer für ihre Teams vor als der 26-jährige Offensiv-Allrounder.
Nun zog er sich allerdings eine Zerrung zu, und es ist fraglich, ob Löw neben Schweinsteiger, Reus und Hummels noch einen angeschlagenen Spieler mit nach Frankreich nimmt. Schade wäre es, zumal sich der Leverkusener für das Turnier extra schick gemacht hat. Laut „Bild“ ließ er sich in der Privatklinik „Pearl of Aesthetic“ in Düsseldorf Haare transplantieren.
EM-O-Meter: 50 Prozent.
Antonio Rüdiger
Wird oft mit Jerome Boateng verglichen, was verschiedene Gründe hat. Zum einen wirkte er zu Beginn seiner Karriere oft zu ungestüm, weswegen er in seinen ersten vier Profijahren viermal vom Platz flog. Spielt andererseits dieselben Positionen wie Boateng (Innen- und Außenverteidiger) und nennt den Bayern-Spieler sein großes Vorbild.
Außerdem wird ihm eine optische Ähnlichkeit mit Boateng nachgesagt. Als wir ihn darauf in unserem Interview für das 11FREUNDE-EM-Sonderheft (jetzt am Kiosk) ansprachen, sagte er nur: „Stimmt nicht! Jerome sieht ja aus wie ein Model. Er ist der Chris Brown der Nationalmannschaft.“
Da Mats Hummels verletzt ins Turnier startet und eventuell die ersten Spiele verpassen wird, kann man sich kaum vorstellen, dass Löw auf einen Innenverteidiger der Marke Rüdiger verzichtet. Zumal dieser eine gute Saison beim AS Rom gespielt hat und 29 von 30 Spielen über 90 Minuten bestritt.
EM-O-Meter: 80 Prozent.
Sebastian Rudy
„Allzweckwaffe oder erster Streichkandidat?“, fragte der „Kicker“ Ende Mai 2016. Man könnte meinen, dass auch Sebastian Rudy zu Löws Streichkandidaten zählt. Allerdings ist er der einzige Spieler, der in allen acht Spielen nach der WM 2014 nominiert war und sechsmal zum Einsatz kam.
Vielleicht weil Löw seine besonnene Art schätzt. Seine Arbeiter-Mentalität. Seine Bodenständigkeit. Seine Flexibilität. Denn gefühlt hat der Hoffenheimer schon auf jeder Position gespielt – außer im Tor. Auch sein Trainer Julian Nagelsmann findet: „Er passt gut ins Anforderungsprofil von Joachim Löw.“ Als die DFB-gewordene Antithese zu Max Kruse hat Rudy beste Chancen auf Frankreich.
EM-O-Meter: 80 Prozent.
Oder lässt Löw ganz andere Spieler zu Hause? Lukas Podolski, der zwar mit zwölf Toren in der Türkei glänzte, aber seinen Zenit überschritten hat? Julian Draxler, der mit dem VfL Wolfsburg eine katastrophale Saison gespielt und in der Nationalelf bislang noch nie richtig glänzen konnte? Emre Can, der in Liverpool zwar zum „Young Player of the Season“, aber im dicht besetzten defensiven Mittelfeld der DFB-Elf nicht mal eine Chance auf einen Kurzeinsatz hätte? Und was ist eigentlich mit Shkodran Mustafi, der Weltmeister und Champions-League-erfahren ist, aber nicht unbedingt als der stabilste Mann im Defensivverbund gilt?
Bis Dienstag um 24 Uhr muss Löw sich entscheiden. Bis dahin können wir nur eines sicher sagen: Heiko Westermann wird nicht nachnominiert werden. Auch wenn er in der vergangenen Saison recht gut spielte und sogar ein Tor für den FC Barcelona schoss. Als erster Deutscher seit Bernd Schuster. Und der war immerhin Europameister von 1980.