Nach dem fantastischen Start rutscht der FCN wieder in den Keller. Die erste Krisenbesprechung steht an, Zweifel am Spielstil kommen auf. Und für die Spieler herrscht überall Abstiegskampf – auch am Kiosk.
Die Nürnberger haben zwar Erfolg, spielen aber nicht so gut wie zum Ende der Hinrunde. Der emotionale Sieg gegen Braunschweig überdeckt, dass die Eintracht erstmals ein Mittel gegen das Nürnberger System gefunden hat. Dortmunds Trainer Jürgen Klopp führt das fort: Der BVB lässt den FCN „tief spielen“, wie Klopp sagt, überlässt den Nürnbergern im Aufbau den Ball, verengt aber das Mittelfeld. Damit ist der Club überfordert, am Ende steht ein klares 0:3. Auch im folgenden Heimspiel stellt Werder Bremen hinten zu, Nürnberg verliert mit 0:2. Das Muster ist gleich: Ein Fehler im Spielaufbau und der Gegner überrumpelt die Defensive. Sie werden Opfer ihres eigenen Risikos. So verlieren sie die Spiele, und noch schlimmer: In Hamburg, bei einem direkten Kontrahenten, verlieren sie das Momentum. Ein konserviertes Gefühl des Überschwangs, des erstarkten Glaubens an sich.
Niederlage im „Überholspiel“
Hamburgs Trainer Mirko Slomka deklariert die Partie als „Überholspiel“ – der HSV zieht tatsächlich mit einem 2:1 am FCN vorbei. Martin Bader betritt mit versteinertem Gesicht die Kabine, die Spieler schneiden sich schweigend das auf einem Tisch aufgereihte Obst zurecht. Kapitän Raphael Schäfer sagt nichts, sein Unterkiefer arbeitet, seine Halsschlagader pocht. Es gibt wenige, die so laut schweigen können. Die Hamburger feiern, jauchzen in den Katakomben des Stadions ihre Freude heraus. Mirko Slomka deutet ein Tänzchen an, schwingt die Hüften.
Verbeek steht schnaubend etwas abseits und wartet auf seinen Kollegen für die gemeinsame Pressekonferenz. Er verschränkt die Arme. „Wir müssen unser Flugzeug kriegen“, brummt er.
Nach all den Verletzten muss Nürnberg zu viele Spieler durchziehen, weil diese zu unerfahren, zu lethargisch, zu eigensinnig, zu nervös oder alles zugleich sind. Sie haben sich vom HSV weit zurückdrängen lassen, das ist lange nicht mehr so eklatant vorgekommen.
Eine Stadt versinkt im Gemurmel
Diese Niederlage ist deswegen so bitter, weil die Zweifel durch die Kabinengänge kriechen. Die Fans wollen das Team aufbauen, eintausend kommen zum Abschlusstraining vor dem Spiel gegen Frankfurt.
Video: Fulvio Nicoletti
Doch der Club unterliegt gegen einen weiteren Konkurrenten – und zwar deftig mit 2:5. Nach einem 0:3 kommen sie noch einmal heran, doch die Aufholjagd reicht nicht. Nürnberg rutscht wieder auf den vorletzten Tabellenplatz.
Der Tag nach Frankfurt. Wolken über dem Valznerweiher und eine Stadt versinkt im Gemurmel. Die Nürnberger müssten vom vielen Kopfschütteln eigentlich längst Halskrausen tragen.
An den kleinen Kästen in der Fußgängerzone, aus denen die Lokalzeitungen klappen, steht in großen Lettern: „Ist der Club noch zu retten?“ oder „Die Angst vor dem Abstieg wächst“. Der Sky-Übertragungswagen mit der großen Satellitenschüssel auf dem Dach steht vor dem Trainingsplatz, ein Menetekel dramatischer Zeiten. Sonst schaut das Fernsehteam eher bei sich anbahnenden Trainerentlassungen vorbei. In den Kneipen zetern sie. Das Spielerische, von hinten rauspassen, dieses Verbeek- Ding, das kann man doch nicht machen, im Abstiegskampf. Im Fußball gibt es keine B‑Note. Eben.
Verbeek geht mit seinem Trainerteam am Montag in die Kabine zur Mannschaft. Heute gibt es keine Videoanalyse, keine langen Reden, sondern nur eine einzige Frage.
Wovor habt ihr Angst?
Der Trainer bekommt keine Antwort von den Spielern, nur betretenes Schweigen. Er wartet kurz, dann sagt er: „Ihr klärt das unter euch.“ Eine klare Ansage, Verbeek und seine Co-Trainer verlassen nach nicht einmal einer Minute die Kabine. Es ist der Moment der Aussprache, an den sich die Spieler noch später lebhaft erinnern. Doch auch als die Tür ins Schloss fällt, bleibt die Stille. So richtig will keiner den Anfang machen. Auch Raphael Schäfer zögert zuerst, er will hören, was seine Kollegen vorbringen. Keiner meldet sich, da bewegt der Kapitän seine Mitspieler zum Reden. Schließlich muss er dem Trainer Bericht erstatten, wovor die Mannschaft denn nun Angst habe. Plötzlich sprudelt es aus den Spielern heraus, selbst die Nachwuchsakteure, die sonst im Beisein des Trainers das offene Wort scheuen, erzählen drauf los. Mehr und mehr wird klar: Die Spieler haben gehörigen Respekt davor, den Ball im Spielaufbau zu verlieren. In ihren Köpfen hat sich festgesetzt, alles spielerisch lösen zu müssen.
Der Trainer denkt nach – oben auf der Burg
Sie sind wie Schüler, die einhundert Mal an die Tafel schreiben mussten: Ich darf keine langen Bälle spielen, ich darf keine langen Bälle spielen. Die Angst vor einem Fehlpass lähmt die Beine. Die Spieler sprechen nicht laut, aber schnell. Sie wollen alles loswerden, was sie sich vor dem Trainer nicht zu sagen trauen. Mehr als zwanzig Minuten geht das so. Als es dann wieder etwas ruhiger wird, blickt Kapitän Schäfer in die Runde. Keine weiteren Anmerkungen? Ok. Der Kapitän macht sich auf den Weg zur Trainerkabine, um Bericht zu erstatten. Verbeek ist verwundert. Er habe seinen Spielern nie verboten, lange Bälle nach vorne zu schlagen. Der Trainer besucht am freien Nachmittag die Nürnberger Burg, er muss nachdenken, oben über der Stadt.
Beim Geheimtraining am folgenden Tag ergreift der Niederländer Maßnahmen. Mittelfeldspieler José Campana zieht sich bei Ballbesitz weiter zurück, bietet sich den Verteidigern in der eigenen Hälfte an. So haben diese beim Spielaufbau eine Anspielmöglichkeit mehr. Außerdem rücken die Außen weit vor, die Verteidiger spielen die langen Bälle raus zu ihnen. Ja, sie dürfen es. Taktische Kleinigkeiten zwar, aber sie sind der doppelte Boden gegen die Angst.
Der Abstiegskampf zeigt sich auch auf der Bahnhofstraße. Mike Frantz fährt durch die Nürnberger Stadt, der Softdrink-Becher ruckelt in der Halterung.
Es ist Messe in Nürnberg, Fensterbau, die Hotels sind voll, die Autos stauen sich vor dem Bahnhof. „Es gibt wirklich nichts, was ich mehr hasse als Staus“, sagt Frantz, als der Wagen zum Stehen kommt. Die Sonne schält sich durch die Wolken, in 25 Stunden beginnt das Spiel gegen den VfB Stuttgart. Auf der linken Seite erhebt sich das Plakat der Nürnberger Kampagne: „Ich bereue diese Liebe nicht“, weiße Buchstaben auf schwarz-rotem Grund.
Weiter rechts, vor dem Le Méridien Grand Hotel, steht der Mannschaftsbus des VfB. Und irgendwo in diesem Hotel, an dem Frantz nur langsam vorbeifährt, hält sich sein Gegenspieler des morgigen Abends auf: Ibrahima Traoré. „Wir haben alle unseren Auftrag für morgen. Meiner ist: Traoré. Ich werd ihn aus dem Spiel nehmen, und zwar so, dass keiner im Stadion weiß, dass er überhaupt mitspielt. Der sieht keinen Ball. Wenn meine Mitspieler mir helfen, dann wird es so kommen.“ Frantz sagt es beiläufig, aber es klingt schon wie eine Motivationsrede kurz vor dem Spiel. Autosuggestion im Stau.
Mike Frantz singt ab und an während des Trainings Fangesänge vor sich hin. Er kommt nicht aus einem Fußballinternat, so wie viele andere seines Jahrgang. Er hat drei Jahre auf dem Bau gearbeitet, als Maler und Lackierer in der Firma seiner Eltern. Um halb sechs aufstehen, nach der Schicht zum Training, um zehn Uhr ins Bett. Er wurde in den folgenden Jahren auf vielen Positionen hin- und hergeschoben, Frantz ist ein Spätstarter. Erst Verbeek machte ihn zum zentralen Spieler vor der Abwehr. Der Mann, der die Bälle am eigenen Strafraum abholt.
Leute wie er sind das Antibiotikum der Fans gegen den modernen Fußball. „Ich möchte hier spielen, bis ich 34 bin. Aber wer weiß, was ist, wenn der Club mich verkaufen muss?“ Eigentlich weiß er nur eines sicher: Dass er im Sommer an einem Tag acht Stunden auf dem Bau malochen wird. So wie jedes Jahr. „Um wieder zu spüren, wie geil es ist, Fußballprofi zu sein.“ Doch jetzt zählt Stuttgart.
Er blickt auf ein Titelbild der „Nürnberger Nachrichten“, das überall aushängt. Darauf prangt ein Bild von Frantz mit herunterhängendem Kopf, darüber die Schlagzeile: „Mutlose Nürnberger taumeln dem Abstieg entgegen.“ Frantz schaut nur kurz hin. „Darauf gebe ich nichts“, sagt er. Manchmal stemmen sich Profis auch gegen die Auslagen am Kiosk.
Hier geht es zu Teil 2: Der Nürnberger Rütlischwur
Hier geht es zu Teil 3: Die Siegesserie: Vollrausch nach der Fastenzeit
Hier geht es zu Teil 4: Das Wahnsinnsspiel im Protokoll
Hier geht es zu Teil 6: Der letzte Sieg – Leuchtende Augen
Hier geht es zu Teil 7: Verbeek in seinem Waldhaus – Der Matschplan
Hier geht es zu Teil 8: Die Entlassung
Hier geht es zu Teil 9: Abstieg – Die Welt dreht durch