In den Achtzigern tummelten sich auch am Millerntor Rechtsradikale – bis Linke und Punks den Klub für sich entdeckten und ein legendäres Fanzine gründeten. Heute wäre es 30 Jahre alt geworden.
Ein Urknall der deutschen Fanzine-Szene, eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Vor exakt 30 Jahren erschien die Nullnummer des Fanzines »Millerntor Roar«, und plötzlich war alles anders: Fans mischten sich in die Vereinspolitik ein; sie standen auf gegen die Rassisten in der Kurve; sie gründeten Fanprojekte, Fanläden und andere Fanzines; sie machten sich stark für Stehplätze oder Gleichberechtigung in der Kurve. Sie waren nicht mehr nur die zahlenden Kunden, sondern nahmen aktiv an einer sich wandelnden Fußballkultur teil. In unserem Bundesliga-Sonderheft lest ihr ein großes Interview mit den »Millerntor-Roar«-Gründern Giulia, Sven und Olav. Vorab hier eine kleine Retrospektive.
Die Nullausgabe des »Millerntor Roar« wurde erstmals beim Abschlusstraining vor dem 1. Spieltag der Saison 1989/90 verkauft. Als die Macher mit den Heften am Trainingsplatz auftauchten, wollte sie Geschäftsführer Manfred Campe davonjagen. Ein paar Rentner schritten ein. »Lass die Jungs doch machen«, riefen sie. »Oder wollt ihr mit allem Geld verdienen?« MR-Gründer Sven erinnert sich: »Danach durften wir weiterverkaufen, und wir realisierten: Der Verein ist lernwillig.«
Noch Mitte der Achtziger war am Millerntor vieles anders. Zu den Spielen kamen selten mehr als 6000 Zuschauer. »Der FC St. Pauli war ein alter Schnarchsack-Klub mit rechten Tendenzen«, erinnerte sich Dirk Jora, Sänger der Band Slime und ebenfalls Autor beim »Millerntor Roar«, in einem Interview mit 11FREUNDE.
Als Fanartikel wurden Aufnäher mit der Aufschrift »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« verkauft, in der Nordkurve machte sich der rechte Fanklub »United« breit, und auch sonst unterschied den Klub nicht sonderlich viel von anderen Vereinen…
In den Halbzeitpausen gab es Mitte der Achtziger auch am Millerntor das übliche Halligalli-Programm: Menschen, Tiere, Sensationen. Und manchmal traten sogar Militärkapellen auf.
Ende der Achtziger wurde es voller am Millerntor. Ein Grund war natürlich der Bundesligaaufstieg 1989. Ein anderer Torhüter Volker Ippig, der von 1983 bis 1986 Aufbauhelfer in Nicaragua gewesen war und nun in der umkämpften Hafenstraße wohnte. Freitags saß man zusammen, samstags ging man gemeinsam zum Fußball – die einen stellten sich auf die Gegengerade, der andere ins Tor. MR-Gründerin Giulia: »Viele sind erst zum FC St. Pauli gekommen, weil er einer von ihnen war: ein Mitbewohner aus der Hafenstraße, der nebenbei ganz gut Fußball spielte.«
Sportstudio-Moderator Bernd Heller war mit diesem atypischen Profi komplett überfordert: »Nicaragua, Hafenstraße, Fußballprofi – da habe ich ein bisschen Schwierigkeiten, das alles auf die Reihe zu bekommen.« Ippig antwortete: »Also, hab ich nicht die Schwierigkeiten, muss ich ganz ehrlich sagen.«
Die Achtziger waren in Hamburg hochpolitisch: Das Floratheater und elf Hafenstraßenhäuser sollten abgerissen werden, um Platz für Luxusimmobilien zu schaffen. Aktivisten und Bewohner besetzten die Gebäude und lieferten sich Kämpfe mit der Polizei. In jener Zeit träumte auch Klub-Präsident Heinz Weisener von einem Vorzeigeobjekt auf St. Pauli: der Mega-Arena »Sports Dome«. Er hatte die Rechnung aber nicht mit den Anwohnern im Viertel und Fans des Kiezklubs gemacht, die wochenlang gegen die Baupläne demonstrierten.
»Irgendwann wurde das Bauvorhaben (des Sports Dome, d. Red.) für gescheitert erklärt, und wir Fans spürten zum ersten Mal, dass wir etwas bewegen können«, sagt »Millerntor-Roar«-Gründer Sven im Interview. Kurz darauf schrieben er und seine Freunde einen Bericht über eine Auswärtsfahrt für das Stadionmagazin, der abgelehnt wurde, weil er zu kritisch war. »Da sagten wir uns: Lass es uns doch selbst machen! Das war die Geburt des Millerntor Roar!«
»Es war die Inkarnation einer neuen Szene«, sagt Sven. Eine aktuelle (sehr sehenswerte!) Ausstellung im Vereinsuseum nennt diese Zeit »Die zweite Geburt des FC St. Pauli« und stellt u.a. den Originalschreibtisch aus, an dem der »Millerntor Roar« entstanden ist.
»Die Themen lagen alle vor uns«, erinnert sich Sven. »Wir kritisierten Manager Georg Volkert, der ein Anti-Rassismus-Spiel bei Türkiyemspor abgesagt hatte, weil es ihm zu politisch war. An anderer Stelle machten wir uns stark dafür, dass die Karten für Arbeitslose günstiger gemacht werden.« Außerdem befindet sich in der Nullausgabe ein Interview mit einem zum FC St. Pauli konvertierten HSV-Fan und natürlich der angeblich zu kritische Bericht über die Auswärtsfahrt nach München.
In der ersten Bundesligasaison nach der zweiten Geburt wurde der FC St. Pauli Zehnter. Das Millerntor-Stadion war nun oft ausverkauft.
Die Fanlieblinge hießen Ivo Knoflicek oder…
Leo Manzi.
Irgendwann in dieser Zeit brachte ein Hafenstraßen-Punk, der sich »Doc Mabuse« nannte, die erste Totenkopf-Flagge mit ans Millerntor.
Dirk Jora, »Millerntor-Roar«-Autor und Slime-Sänger, sagte im 11FREUNDE-Interview: »Die haben wir auf dem Dom gekauft, an einen Besenstil gehackt und dann ab ins Stadion. In der Kurve alle so: ›Wow, Alter!‹ Heute ist das Symbol der Kassenschlager. Hätte Mabuse sich das mal sichern lassen, dann würde er nicht von Hartz IV leben.«
Das Merchandise mit rechtsradikalen Motiven verschwanden bald aus dem Stadion. Und auch der rechte Fanklub »United« strich die Segel. »Millerntor-Roar«-Gründer Sven: »Nach dem WM-Halbfinale 1990 haben die mit anderen nationalistischen Hools unsere Kneipe angegriffen. Da war es für die vorbei. Wir haben dann deren Kneipe aufgesucht und sind zu denen in die Nordkurve. Sagen wir so: Wir waren in der Überzahl.«
Der Verein war allerdings auch nach der »zweiten Geburt« nicht so lernwillig, wie es sich die Fans erhofft hatten. 1991 tapste zum Beispiel ein Maskottchen namens »Wumbo« aufs Feld und machte Werbung für einen Freizeitpark. Die kommerzkritischen Fans reagierten mit Pfiffen und bewarfen den Bär »Wumbo« mit Gegenständen. Er traute sich nie wieder ans Millerntor.
Die Macher des »Millerntor Roar« veröffentlichten in unregelmäßigen Abständen neue Ausgaben. Bald erschien die Nummer 1. Natürlich mit einem Interview mit Volker Ippig.
Die Ausgabe 11 mit Coverboy Souleymane Sané, der damals in fast allen Bundesligastadien rassistischen Anfeindungen ausgesetzt war. (Für die Jüngeren: Souleymane Sané ist der Vater von Leroy Sané!)
In der deutschen Fußball-Fanzine-Landschaft stieß der »Millerntor Roar« anfangs auf Skepsis. MR-Gründer Sven erinnert sich: »Die wenigen Fanzines, die es vorher gab, glichen Rundbriefen. Es ging ums Saufen, Kotzen und Prügeln. Und wenn es politisch wurde, dann driftete es weit nach rechts. Einmal sind wir zu einem Fanzinemachertreffen nach NRW gereist. Es waren wirklich alle gegen uns. Der Vorwurf lautete: ›Ihr bringt die Politik in den Fußball!‹ Was absurd war, denn die war ja längst da. Die Nazis standen in allen deutschen Fankurven.«
Viele andere Fanzines, etwa das Offenbacher »Erwin« oder das »Schalke Unser«, gründeten sich in den frühen Neunzigern und ließen sich teilweise vom »Millerntor Roar« inspirieren. Der vom »Millerntor Roar« gedruckte Aufkleber und Aufnäher »St. Pauli Fans gegen Rechts« (der hier auf der Uniform eines Polizisten klebt) wurde ebenfalls oft adaptiert.
Und dann war Schluss: Das »Millerntor Roar« wurde 1993 nach 28 Ausgaben eingestellt. Es gab allerdings zwei direkte Nachfolger den »Übersteiger« und das »Unhaltbar«. Ersteren gibt es heute immer noch. Und sogar HSV-Fans lesen ihn.
Im Bundesliga-Sonderheft von 11FREUNDE erinnern sich die Gründer des »Millerntor Roar« noch einmal an die achtziger Jahre auf St. Pauli und das, was die Nullnummer, von der nur 1000 Exemplare gedruckt wurden, auslöste. Und ja, das ist Gregor Gysi auf dem Bild. Kurz nach der Wende besuchte er mehrmals die Redaktion des »Millerntor Roar«. Ein Spiel am Millerntor schaute er sich auch an. Im »Spiegel« erklärte er mal, dass er danach »Schwindelgefühle« gespürt habe – vom passiven Haschischrauchen.
Das Sonderheft findet ihr jetzt am Kiosk und bei uns im Shop. Und wie schon erwähnt: Besucht die Ausstellung »Kiezbeben – Die zweite Geburt des FC St. Pauli« im Vereinsmuseum direkt unter der Gegengeraden. Sie läuft noch bis Mitte August. Ein paar Highlights habt ihr in dieser Bilderstrecke gesehen. Und als Zugabe noch vier weitere…
Sofa, so good: Foto-Shooting 1991/92.
Spieler und Fans im Vereinsheim. Oder auch: Feiern bis kein Arzt kommt.
Bevor der »Millerntor Roar« über St. Pauli fegte: Fans am Millerntor in den achtziger Jahren.