Daniel Keita-Ruel knallte sein Leben komplett an die Wand. Doch nach vier Jahren im Knast schaffte er ein Comeback wie noch niemand vor ihm. Nahaufnahmen eines außergewöhnlichen Profis.
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Wenn eines Tages das Leben von Daniel Keita-Ruel verfilmt werden sollte – und Netflix hat zumindest schon mal angefragt – könnte der Film mit schweren Hip-Hop-Beats beginnen, in die sich das Geräusch eines Balls mischt, der gegen eine Wand knallt. Wenn dann die Kamera aufzieht, erkennen wir einen jungen Mann in Gefängniskleidung, der ihn gegen die Knastmauer schießt – wieder und wieder.
Dazu setzt der Rap von Jigzaw ein: „Sie warfen mich ins kalte Wasser, kein Thema, denn ich kann schwimmen / Aufgeben keine Option, bin da, nur um zu gewinnen.“ Um den Gefangenen wechseln die Jahreszeiten. Die schwache Frühlingssonne wird zum gleißenden Licht des Sommers, Herbstblätter fallen auf den Boden und bald der Schnee des Winters. Er hat sehr viel Zeit, den Ball gegen die Wand zu schießen.
Von den Stadion Katakomben in die Knast-Zelle
Diese Szene geht bald über in einen Flashback: die Erinnerung an den Verrat. Der Gefangene steht vor Gericht und wird gleich einen schicksalhaften Fehler machen. Er ahnt, dass etwas nicht stimmt. Denn als er zu sprechen beginnt, wendet der Mann, den er für seinen Freund hält, den Blick ab und starrt auf den Boden. Aber die Ahnung reicht nicht, um im letzten Moment noch das Richtige zu tun. Also wiederholt der Gefangene auf Nachfrage des Richters seine Lüge noch einmal. Nein, der andere sei nicht an den Raubüberfällen beteiligt gewesen.
Damit schnappt die Falle zu, denn der falsche Freund hat inzwischen gestanden, dass er dabei war. Für den Gefangenen ändert das alles. Eigentlich soll er in wenigen Tagen auf Bewährung gehen können, ein Fußballklub hat sogar schon die Kaution für ihn hinterlegt. Doch nun schlägt die Gefängnistür zu, und der Richter gibt ihm auf dem Weg in die Strafhaft noch mit: „Herr Keita-Ruel, ihre Fußballkarriere ist jetzt vorbei. Aber wenn sie herauskommen, können sie ja in Hollywood anfangen.“
Eine Geschichte von der man lernen kann
Keita, wie ihn alle nennen, sitzt an einem grauen Novembermorgen 2018 am Kopfende eines großen Holztisches und erzählt diese Geschichte. Er erzählt sie ohne Drama, eine größere innere Beteiligung ist ihm nicht anzumerken. Doch die Zuhörer wissen auch so, wie schnell man die falsche Abzweigung im Leben genommen hat und wie es einem dann geht. Sie haben selbst im Knast gesessen. Weil sie anschließend nicht weiter wussten, sind sie hier bei der Christlichen Initiative für Strafgefangene und Strafentlassene untergekommen, im Nürnberger Süden, gegenüber der Bahntrasse.
Als es darum ging, dass die Zweitligaprofis der SpVgg Greuther Fürth am „Sozialtag“ des Vereins zu diversen Einrichtungen ausschwärmen, hat Keita sich für diese entschieden. Seine Geschichte hat hier noch eine andere Bedeutung, geht es in ihr doch nicht nur um mangelnde Menschenkenntnis oder falsche Loyalität, sondern auch um unbeugsamen Willen und die Möglichkeit des Comebacks.
Mit 17 Jahren war Keita ein gefeiertes Stürmertalent in der Jugendmannschaft des Wuppertaler SV und hatte Angebote von Klubs aus ganz Deutschland. „Von meinen Freunden war ich der mit dem meisten Geld, und ich war der Beliebteste“, erzählt er dem Dutzend Zuhörern, die in Nürnberg am Tisch sitzen.
Er wechselte zu Borussia Mönchengladbach, wurde schließlich aber nicht zu den Profis übernommen. Gladbachs Manager Max Eberl verabschiedete ihn mit dem klassischen Urteil: „Bis zum Hals Weltklasse, darüber nur Kreisklasse.“ Unversehens fand Keita sich beim Bonner SC in der vierten Liga wieder und anschließend in Wuppertal – in der zweiten Mannschaft. Trainer Uwe Fuchs zog ihn zu den Profis hoch, die damals drittklassig spielten, aber zu mehr als ein paar Einwechslungen reichte es nicht. „Ich war noch nicht reif“, sagt Keita.
Talent ohne Struktur
Was das bedeutete, daran erinnert sich Uwe Fuchs noch genau: „Sein Spiel war das Abbild seiner Persönlichkeit, bei allem Talent fehlte jegliche Struktur.“ Keita kam zu spät zum Training, machte die Übungen nicht richtig und hielt sich im Spiel nicht an seine Aufgaben. Man könnte daraus schließen, dass der junge Nachwuchsprofi trotzig und unerreichbar auf dem Egotrip war, doch das Problem war ein anderes.
„Er war ein lieber Junge, der viel geträumt hat“, sagt Fuchs. Er erinnert sich auch an „eine unheimlich nette Mutter“. Sie betreibt seit vielen Jahren einen privaten Kindergarten, Keitas inzwischen verstorbener Vater arbeitete in einer Staubsaugerfabrik und machte in der Freizeit Musik. Er kam aus dem Senegal, die Mutter kommt aus Korsika.
Keita erzählt in Nürnberg voller Zuneigung von seiner Familie, trotzdem fühlte er sich von den falschen Leuten angezogen. „Ich komme aus einer guten, aber meine Freunde kamen aus einer schlechten Gegend“, sagt er. Warum das so war? So richtig weiß er es selbst nicht mehr.
Seine Freunde waren echte Gangster
Als Keita sein Leben an die Wand setzte, war er 21 Jahre alt. Die Freunde aus der schlechten Gegend waren nicht nur deutlich älter als er, sondern auch echte Gangster. Bei zwei Insiderjobs, inszenierten Raubüberfällen und einem bewaffneten Raub stand er Schmiere. Die Bande wurde gefasst, bei der Festnahme drohte ein Polizist, Keita ins Bein zu schießen, er erkannte den Fußballer. Der Kicker landete in Untersuchungshaft und wurde nach 18 Monaten zu fünfeinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Halb auf dem Weg nach draußen machte er sich mit der Falschaussage alles kaputt.
Der Richter, der ihm das Ende seiner Karriere vorausgesagt hatte, hatte natürlich recht. Wie lang kann eine Pause sein, nach der man als Fußballprofi noch zurückkommt? Ein Jahr vielleicht, zwei Jahre sind schon fast unmöglich. Bei Daniel Keita-Ruel sollten aber letztlich 1196 Tage zwischen zwei Pflichtspielen liegen, drei Jahre und drei Monate.
Normalerweise hat man in dieser Zeit alles verloren, was ein Spieler braucht: Kraft, Geschmeidigkeit, das Gespür für den Ball und den Raum. Doch so verträumt und leicht zu beeindrucken Keita gewesen sein mochte, es gab auch eine andere Seite: „Ich war immer brutal ehrgeizig.“ Hinter Gittern steigerte sich der Ehrgeiz zur Besessenheit.
Sein Jugendtrainer schickte ihm Trainingspläne ins Gefängnis
Er wurde Sportwart und konnte so die ganze Woche in den Trainingsräumen oder draußen auf dem Sportplatz der Haftanstalt verbringen. Beim Training ging er über alle Grenzen, lief noch mehr, zog noch mehr Sprints an, er legte noch mehr Gewichte auf und schoss den Ball noch hundertmal gegen die Wand. Keita powerte sich jeden Tag aus, um abends todmüde ins Bett zu fallen, meistens schlief er schon um neun Uhr ein.
So betäubte er das Gefühl des Eingesperrtseins, aber nicht nur das: „Mein Ziel war es, dass ich keinen Tag verliere, wenn ich draußen bin.“ Keita schaffte sich sieben Kilo Muskelmasse drauf und überzeugte die Anstaltsleitung, möglichst oft Mannschaften von draußen zu Spielen einzuladen. Peter Radojewski, sein alter Jugendtrainer, schickte ihm regelmäßig neue Trainingspläne, manchmal telefonierten sie.
Mit Extraturbo durch die Ligen
Eine Ermutigung brauchte Keita dabei nicht. „Im Gefängnis hat er sich eine Eigenschaft angeeignet: Er hat sich gestählt“, sagt Radojewski. Als es möglich wurde, holte er den Mann aus Stahl als Freigänger in sein Team, den FC Ratingen 04 in der fünften Liga. Für Keita war das Erlebnis, wieder draußen Fußball zu spielen, wie eine Erweckung. „Es war krass: Als wäre ich nie weg gewesen und hätte durch das Training im Knast sogar noch einen Extraturbo dazubekommen.“
Er begann durch die Ligen zu rasen und jedes Jahr aufzusteigen: von Ratingen in die Regionalliga zu Wattenscheid 09, weiter zu Fortuna Köln in die Dritte Liga. Als Zweitligist Greuther Fürth ihn verpflichtete, balgten sich bereits die Klubs um ihn. St. Pauli bot viel Geld und Holstein Kiel schickte sogar einen Privatjet. Keita entschied sich für den Klub, wo die Aussicht zu spielen am größten war.
Ein großer Stürmermoment
Der Turbokurs durch die Ligen wäre allein schon erstaunlich genug, aber Keita schoss gegen jede Logik mit jedem Aufstieg mehr Tore als zuvor in der Spielklasse darunter. In Ratingen hatte er alle 256 Minuten getroffen, in Fürth waren es zuletzt schon alle 158 Minuten. Dazu quält er die gegnerischen Verteidiger durch eine fast pathologische Laufbereitschaft. Man wird schon müde, wenn man ihm dabei zuschaut. Immer wieder läuft er an, zwanzig Mal im Spiel, und wenn es sein muss auch öfter. „Nach Abpfiff sind schon Gegner zu mir gekommen und haben gesagt: ‚Du bist krank!‘ Aber mich pusht das.“
Im Spiel gegen den VfL Bochum läuft die Nachspielzeit. Fürth liegt zurück, und Keita hatte bislang noch keine richtige Torszene, so sehr er auch in diesem Spiel wieder geackert hat. Doch auf einmal kommt der lange Ball in den Strafraum, und alles geht ganz schnell. Zwei Bewegungen und der Bochumer Verteidiger ist aus dem Spiel, im Fallen trifft Keita zum Ausgleich. Ein großer Stürmermoment ist das und am elften Spieltag sein siebtes Tor für Greuther Fürth, das insgesamt 45. in Punktspielen, seit er aus dem Knast entlassen wurde.
Fürth verpflichtete Keita aber nicht nur als Goalgetter oder Laufwunder. „Unsere Hoffnung war es, dass er die Bereitschaft, an sich zu arbeiten, in die Mannschaft hineinträgt“, sagt Manager Rachid Azzouzi. Viele Spieler sind noch jung und teilweise unbedarft, für sie ist gerade der Ex-Knacki das Vorbild.
Im Training muss ihn Trainer Damir Buric oft bremsen; und wenn es um professionelles Verhalten bei Ernährung, Pflege oder ausreichend Schlaf geht, setzt Keita in Fürth sowieso die Standards. Wenn ein junger Spieler sich nach dem Training eilig verdrückt, ruft er ihm nach: „Warum geht Cristiano Ronaldo trainieren und du nicht?“
Keita will ein Star sein
Doch ein biederer Musterschüler ist Keita nicht. Viele, die im Knast waren, machen sich danach klein, um nicht aufzufallen. Keita nicht. Er will ein Star sein. Man merkt das beim Fotografieren. Nach jedem Bild bietet er der Kamera einen anderen Gesichtsausdruck an, wie ein professionelles Model. Für das Streetwearlabel des Rappers Farid Bang, mit dem er befreundet ist, hat er schon mehrfach Modeshootings gemacht. Doch diese Extrovertiertheit ist nicht mehr ungebremst.
Den ehemaligen Strafgefangenen in Nürnberg begegnet er ausgesprochen freundlich, geduldig und aufmerksam. Aber Keita wahrt auch eine kaum merkliche Distanz, selbst als er mit ihnen das Gemüse und die Zwiebeln fürs Mittagessen kleinschneidet. „Ich musste lernen, wen ich an mich ranlasse und wen nicht“, sagt er auf dem Weg nach draußen.
„Die Persönlichkeitsentwicklung kam aus mir selber.“
Das Gefängnis als Schule der Menschenkenntnis hat ihn vor allem gelehrt, erst mal auf Distanz zu bleiben. Oder auch für immer: Die Mitglieder der Bande von damals hat er nie mehr gesehen und alle Kontaktaufnahmen abgewehrt.
„Der Typ motiviert wirklich“, sagt einer der Strafentlassenen, der bei Keitas Besuch sogar ein Fürth-Trikot trägt. Aber was kann man aus der Geschichte dieses Comebacks lernen, die fast wie ein Märchen klingt? Vielleicht auch das: Keita hatte das Glück, dass seine Familie weiter zu ihm hielt. Menschen wie sein alter Coach unterstützten ihn. Oder Colin Quaner, der heute bei Huddersfield Town in der Premier League spielt und als einziger Fußballspieler die ganze Zeit den Kontakt hielt. Doch letztlich ist Keita davon überzeugt, dass er es war, der sein Leben in einen Hollywoodfilm verwandelt hat: „Die Persönlichkeitsentwicklung kam aus mir selber.“
Um träumen zu können muss man wach sein
Keita liebt Musik, vor allem Hiphop. Der Song, der ihm am meisten über sein Leben sagt, ist „Hype“ von Jigzaw. „Ich hab’ meinen Traum festgehalten und gehofft, ich werde fliegen“, heißt es da. Keita fliegt jetzt, und nichts soll den Flug unterbrechen. „Die Story wird jedes Jahr interessanter“, schreibt er noch per WhatsApp.
Seine Story, letztlich kann sie nur in die Bundesliga führen. Es gibt nur eine Angst: die vor der Verletzung. Keita ist 29 Jahre alt, die Zeit läuft unerbittlich, und die verlorenen Jahre kommen nicht zurück. Aber jetzt weiß er zumindest, dass man wach sein muss, um träumen zu können.