Es gab eine Zeit, da konnte Schalke in einem einzigen Spiel gegen den FC Bayern sechs Tore erzielen. Olaf Thon wird heute 55 Jahre alt. Hier spricht er über die vielleicht spektakulärste Partie seiner Karriere.
Hätte dieses Spiel überhaupt einen Sieger verdient gehabt?
Eigentlich nicht. Doch ich glaube, wenn es ein Elfmeterschießen oder eine Verlängerung gegeben hätte, wären wir als Gewinner vom Platz gegangen. Ich fand es damals ziemlich frustrierend, dass es an diesem Abend keine Entscheidung geben konnte.
Das Wiederholungsspiel verlor Schalke in München mit 2:3. Hätten Sie im Nachhinein das erste Spiel lieber 1:0 gewonnen oder ist Ihnen die Erfahrung dieses epochalen Spiels wichtiger gewesen?
Es war mir damals schon bewusst, dass dieses Spiel, so wie es letztlich gelaufen ist, viel bedeutender sein wird – für die Mannschaft und auch für mich persönlich –, als wenn wir gewonnen hätten. Deswegen hätte ich die Erfahrung dieses 6:6‑Spiels nie gegen einen schnöden 1:0‑Sieg eingetauscht.
Auch wenn Sie vielleicht den DFB-Pokal gewonnen hätten?
Und was wäre gewesen, wenn wir dann im Finale verloren hätten? Ich mag solche Gedankenspiele nicht. Das ist alles rein hypothetisch. Ich behalte bis heute einfach dieses 6:6 in meinem Herzen und freue mich, dass ich bis zu meinem Lebensende darüber philosophieren kann. (lacht)
Inwiefern war denn dieses 6:6 für den FC Schalke 04 von hoher Bedeutung?
Das Spiel rüstete uns für die 1. Bundesliga, es war die Generalprobe. Zumindest glaubten wir das. Als wir in der 1. Liga spielten, wurden wir tatsächlich ein wenig auf den Boden der Realität geholt. Die erste Saison schlossen wir als Achter ab, die zweite als Zehnter. Wir wurden sukzessive durchgereicht. Bis Schalke 04 dann, nach der Saison 1987/88, wieder abstieg. Dennoch wurde uns nach diesem 6:6 klar, dass, wenn wir in Topform sind, mit jeder Mannschaft mithalten können.
Sie wurden einen Tag vor diesem Pokal-Halbfinale 18 Jahre alt. Wie bereitete Sie Trainer Diethelm Ferner auf das Spiel vor?
Ich war natürlich noch längst kein gestandener Profi, doch auch nicht so frisch und naiv, wie vielen annahmen. In der Zweitligasaison 1983/84 machte ich alle Spiele – und erzielte dabei 14 Tore. Ich war zu dem Zeitpunkt ein gesetzter Spieler, ein Stammspieler. Zudem hatte ich das Glück, auf viele ältere und erfahre Spieler zu treffen, etwa die drei Köpfe des Teams: Bernard Dietz, Manni Drexler oder Klaus Täuber. Dann waren da noch Michael Jakobs oder Peter Stichler. An diesen Spielern konnte man sich als junger Spieler anlehnen. Der Trainer brauchte nicht mehr viel sagen – wir haben uns fast selbst gecoacht.
Heute wird immer wieder davon gesprochen, junge Spieler behutsam aufzubauen. Sie wurden sofort ins kalte Wasser geworfen: Würden Sie dies rückblickend als positiv bewerten?
Ich hatte den Vorteil, dass ich meine erste Saison in der 2. Bundesliga spielte. Das war mein Lehrjahr. Und es war einfacher als heute. Junge Spieler stehen heute von Anfang in steter Konkurrenz zu sehr starken Ausländern, die oftmals Nationalspieler ihrer Heimatländer sind. Den einzigen Ausländer, den wir damals in der Mannschaft hatten, war Pavel Macak, der zweite Torwart hinter Walter Junghans.
War es für Sie auch vorteilhaft, dass damals das mediale Interesse nicht so groß war wie heute?
Es war schon ein Interesse da. Doch bei weitem nicht so groß, das ist richtig. Außerdem habe ich anfangs bewusst kaum Interviews gegeben. Als junger Spieler bat ich Rudi Assauer mich von Anfragen unbehelligt zu lassen, denn ich fühlte mich mit 17 oder 18 Jahren noch nicht bereit für Interviews. Nachdem ich etwas Routine für das Bundesligageschäft entwickelt hatte, nahm ich auch Einladungen zu Fernsehterminen wahr. Zum Beispiel zu einem Interview mit Ernst Huberty im WDR, dann folgte das Sportstudio. Alles wurde vorher abgesprochen, schön dosiert und gut vorbereitet.
Auf dem Platz waren Sie von Beginn an bei jedem Spiel dabei. Hielten Sie sich mit Ihren 17 oder 18 Jahren anfangs noch zurück?
Nein, denn ich wusste, dass ich mithalten konnte. Das merkte ich im Training. Vor Spielen wie dem Pokal-Halbfinale 1984 darfst du nicht vor Respekt in Ehrfurcht versinken, weil da vielleicht deine alten Stars rumlaufen. Ich konnte mich schon als junger Spieler mit gestandenen Profis wie Karl-Heinz Rummenigge oder Karlheinz Förster richtig zoffen. Natürlich war die 1. Bundesliga totales Neuland für mich. Da kommt etwa ein Uli Borowka noch vor dem Anpfiff zu mir und sagt: „Wenn du an mir vorbei willst, brech’ ich dir die Beine!“ Das war natürlich nicht ernst gemeint – eine typische Kampfansage. Ich konnte das richtig einordnen, denn die 2. Liga war eine harte Schule für mich…
Was machten Sie eigentlich nach dem Spiel?
Sie meinen, nachdem mich die Fans wieder von Ihren Schultern ließen? Ich fuhr zu meiner Freundin, meiner heutigen Frau. Dort warteten Freunde und Verwandte auf mich. Ich sagte: „Guten Abend.“ Die Leute applaudierten und beglückwünschten mich. Dann sagte ich: „Danke, das Spiel hat Spaß gemacht.“ Diese Feier, wenn man sie so nennen will, dauerte gerade einmal fünf Minuten. Als ich zu Hause war, legte ich mich sofort ins Bett. Ich habe nicht ans Biertrinken oder die große Sause gedacht. Eigentlich habe ich das gar nicht richtig genießen können. Aber das weiß ich erst heute. (lacht)
Sie haben das Spiel für sich im Stillen verarbeitet?
Ja. Ich habe am nächsten Tag lange geschlafen, natürlich ließ ich dieses Erlebnis ein wenig Revue passieren. Aber es ging dann sehr schnell weiter. Die Saison lief zu Ende, wir spielten drei Tage später gegen Wattenscheid. Dann stand natürlich das Wiederholungsspiel an, wenig später wurde ich Nationalspieler. Es blieb mir eigentlich gar keine Zeit, dass Spiel lange zu verarbeiten.
Haben Sie in Ihrer Karriere eigentlich ein Spiel erlebt, das annähernd die Dramatik dieses Halbfinales erreichte?
Nein. Das UEFA-Cup-Finale in Mailand 1997 war natürlich auch spannend. Doch es hatte nicht diese dramatischen Brüche wie das Spiel gegen Bayern. Das Halbfinale der WM 1990 war ein ebensolches Highlight für mich, auch weil ich den entscheidenden Elfmeter verwandelte.
Auf welches Spiel werden Sie denn am häufigsten angesprochen?
Vermutlich auf das Spiel gegen Bayern. Es waren zwar nur 70.000 Fans im Stadion, doch manchmal habe ich das Gefühl, dass die halbe Welt dort gewesen ist. Wer mir nicht schon alles erzählte, hautnah am Spielfeld gestanden zu haben. (lacht) Vielleicht ist dieses Spiel wirklich so eines, von dem sich jeder Fußballfan wünscht, dabei gewesen zu sein. Es einfach das beste Pokalspiel aller Zeiten.