In den Neunzigern war Heiko Herrlich einer der besten deutschen Stürmer. Bis Ärzte einen Hinrtumor bei ihm feststellten – und sich sein Leben radikal veränderte. Heute wird er 50 Jahre alt.
Wie sind Sie zu Ihrem Glauben gekommen?
Durch Jorginho, meinen Mitspieler bei Bayer Leverkusen. Als ich sah, wie dieser Mensch wirklich jeden Menschen mit der gleichen Freundlichkeit und Güte behandelte und dabei keinen Unterschied machte, ob es sich nun um Reiner Calmund oder die Putzfrau handelte, war ich fasziniert. Ich begleitete ihn zu den von ihm ins Leben gerufenen Bibelkreisen und entdeckte, was für einen Reichtum mir der unerschütterliche Glauben in jeder Lebenslage einbrachte. Während meiner Krebserkrankung habe ich davon sehr profitiert.
Was hat Sie in dieser Zeit aufgeheitert?
Meine Frau war mit unserem ersten Kind schwanger. Die Vorfreude auf meine Tochter hat mich häufig aus den Löchern der Depression befreit. Wobei: Dass ich meiner Frau in dieser für Sie so anstrengenden Zeit keine Hilfe sein konnte, noch schlimmer, selbst ein Pflegefall war, bedaure ich bis heute. Eine Frau ist eben nur einmal schwanger mit dem ersten Kind.
Wann hatten Sie das Schlimmste überstanden?
Die Bestrahlung dauerte ein halbes Jahr. Ein Vierteljahr benötigte ich, um mich physisch und psychisch wieder einigermaßen zu erholen. Meine Tochter wurde geboren und der Tumor war tatsächlich geschmolzen, wie es mir die Ärzte prophezeit hatten. Von da an ging es wieder bergauf.
Am 15. September 2001 feierten Sie schließlich Ihr Comeback: Beim Derby gegen Schalke wurden Sie nach 77 Minuten eingewechselt. Wie befreiend war es, wieder auf dem Platz zu stehen?
Befreiend ist vielleicht das falsche Wort. Profifußball war für mich immer knallharte Maloche, meine Existenz. Auf dieses Comeback hatte ich hingearbeitet. Es war eine Genugtuung.
Überall, wo Sie in diesen Monaten auftauchten, empfingen Sie Fans beider Lager mit einem warmen Applaus.
Kurz nach der Bekanntgabe meines Wechsels von Borussia Mönchengladbach zu Borussia Dortmund 1995 wurde ich von der „Bild“-Zeitung als geldgeiler Sack abgestempelt, in meinem ersten Jahr mit dem BVB wurde ich in jedem Stadion beschimpft. Obwohl ich mich meiner Meinung nach absolut korrekt verhalten hatte. Jetzt, nach meinem Comeback, bekam ich plötzlich landesweite Anerkennung für etwas, was ich selbst gar nicht beeinflusst hatte, sondern fähige Ärzte. Irgendwann gleicht sich alles wieder aus.
Sie wirken sehr sachlich und distanziert, wenn Sie über Ihr Comeback oder das Dasein als Profi sprechen. Ich hätte nostalgischere Gefühle erwartet.
Die habe ich auch. Aber nicht, wenn ich an Tore, Titel oder große Spiele denke. Das ist Schnee von gestern.
Sondern?
Die Stimmung kurz vor dem Spiel. Wenn du mit deiner Mannschaft in der Kabine sitzt, draußen die Masse brodelt und es gleich gemeinsam in die Schlacht geht. Es stinkt nach Angstschweiß. Du schaust nach rechts, da sitzt einer, hat die Augen geschlossen, hört Musik und ist im Tunnel. Links von dir hat ein Kollege die nackte Angst in den Augen. Und gegenüber sitzt ein Steffen Freund, du schaust ihm in die Augen und weißt, wer für dich den Krieg da draußen gewinnen wird.
Das klingt sehr martialisch.
So habe ich es aber wahrgenommen: als Krieg. Kennen Sie die Eröffnungsszene in „Der Soldat James Ryan“, in der die Soldaten in den Landungsbooten stehen und warten, dass die Luke runtergelassen wird? Die Stimmung in der Kabine vor einem großen Spiel lässt sich damit durchaus vergleichen. Ich erinnere mich gerne daran.
Sie haben nach Ihrem Comeback nie wieder zur alten Form finden können und beendeten 2004 Ihre Karriere. Wie sehr hat der Krebs in diesen Jahren eine Rolle in Ihrem Leben gespielt?
Es hat gedauert, bis ich mich von den Spätfolgen der Erkrankung erholt hatte. Psychisch, nicht physisch. Natürlich hatte ich Angst, dass der Krebs zurückkehren könnte. Kurz nach meiner Genesung füllte ich mit unserem Mannschaftsarzt einen Fragebogen bezüglich der Invalidität aus. Er klärte mich auf, dass ich für den Rest meines Lebens offiziell als chronisch krank gelten werde. Das haut schon rein. Ich musste mich auch anderweitig neu orientieren. Früher bin ich schon durchgedreht, wenn ich ein Trainingsspiel verlor. In den ersten Monaten nach dem Comeback dachte ich: „Was ist schon so ein verlorenes Übungsspiel dagegen, dass du weiterleben darfst?“ Mit so einer Einstellung bist du allerdings nicht gesellschaftsfähig, gerade im Profifußball.
Sie wurden Trainer, arbeiteten in Dortmund, für den DFB, in Bochum, Unterhaching und für die U17 des FC Bayern. Welche Erkenntnisse aus Ihrer aktiven Karriere wollten Sie an den Nachwuchs weitergeben?
Ich sagte meinen Jungs immer: „Es gibt für mich vier Leistungsfaktoren: Technik, Taktik, Athletik und Persönlichkeit.“ Die Persönlichkeit ist häufig entscheidend, ob ein Spieler den Sprung zu den Profis schafft. Du kannst noch so talentiert sein, wenn du in diesem Sport nur an dich denkst, hast du schon verloren. Eine erfolgreiche Mannschaft besteht für mich aus elf Dienern – da will jeder dem anderen helfen. Steffen Freund war für mich der Inbegriff des Dieners. In meiner ersten Zeit als U19-Trainer von Borussia Dortmund sprach ich häufig von der „Steffen-Freund-Mentalität“. Das kann ich heute leider nicht mehr machen.
Warum?
Weil die Jungs dann mit den Augen rollen und denken: „Jetzt erzählt der Trainer wieder vom Mittelalter!“ (Lacht.) Das vermittle ich heute anders. Indem ich zum Beispiel immer mit anpacke, wenn die Tore vom Platz geschleppt werden müssen. Da stehen dann die verwöhnten Teenager und gucken mich schräg an. Ich sage: „Ruh dich ruhig aus, ich habe kein Problem damit.“ Dann haben die Spieler verstanden.
Haben Sie heute noch Angst vor dem Krebs?
Nein. Die letzte Untersuchung hatte ich vor drei Jahren. Ich bin vielleicht nicht mehr so unbekümmert wie vor der ersten Diagnose, aber das macht nichts. Ich habe vieles gewonnen durch die Krankheit. Vor allem die alltägliche Dankbarkeit dafür, wenn die Menschen um mich herum gesund sind. Alles andere ist ohnehin zweitrangig. Sehen Sie: Ich war Champions-League-Sieger, Weltpokalsieger, Nationalspieler, Fußballprofi mit einem gut gefüllten Konto. Dann wurde ich krank und wollte nur noch überleben.
Das haben Sie zum Glück geschafft.
Und deshalb darf ich mich in meinem Leben über mangelndes Glück eigentlich nie wieder beschweren.