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Das Inter­view erschien erst­mals in 11FREUNDE #154, im Sep­tember 2014. Das Heft findet ihr hier. Heute wird Heiko Herr­lich 50 Jahre alt.

Heiko Herr­lich, im Herbst 2000 wurden bei Ihnen ein bös­ar­tiger Hirn­tumor dia­gnos­ti­ziert. Welche Rolle spielte der Fuß­ball in dieser Zeit?
Gar keine. Von da an ging es für mich nur darum zu über­leben.

Wie haben Sie auf die Dia­gnose reagiert?
Nach dem ersten Schock sagte ich zu meinem Arzt: Ein Tumor? Dann lasst uns das Ding raus­holen. Kopf auf, Kopf zu, fertig.“ Doch mein Arzt schaute betreten zu Boden und sagte: Heiko, an der Stelle geht das nicht.“ Der Tumor saß an einer so ungüns­tigen Stelle, dass ich mit großer Wahr­schein­lich­keit nach einer Ope­ra­tion schwerst­be­hin­dert gewesen wäre. Eine erneute Unter­su­chung sollte mehr Ergeb­nisse bringen, aller­dings erst fünf Wochen später. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.

Wie sind Sie damit umge­gangen?
Ich konnte es zunächst nicht begreifen. Hatte ich nicht alles dafür getan, um nicht krank zu werden? Keinen Alkohol getrunken, keine Ziga­retten geraucht, keine Drogen aus­pro­biert. Gesunde Ernäh­rung, ein Leben als Hoch­leis­tungs­sportler. Warum pas­sierte das nun aus­ge­rechnet mir? Aber ich bin ein sehr gläu­biger Mensch. Ich weiß noch, was ich zu meiner Frau sagte: Es hat noch keiner geschafft, ewig auf Erden zu bleiben. Irgend­wann müssen wir doch alle gehen. Ob mit oder ohne Hirn­tumor. Was mit mir pas­siert, liegt jetzt in Gottes Hand.“

Hatten Sie keine Angst vor dem Tod?
Natür­lich. Aber auch dabei hat mir mein Glauben Halt gegeben. Ich dachte: Okay, lieber Gott, jetzt kommt ein harter Weg. Keine Ahnung, was du mit mir vor­hast, aber ich glaube daran, dass du bei mir bist.“

Sie konnten zu diesem Zeit­punkt nicht wissen, wie lange Sie noch zu leben hatten. Gab es Dinge, die Sie unbe­dingt erle­digen oder los­werden wollten?
Das war einer meiner ersten Gedanken: Dir bleibt viel­leicht nicht mehr viel Zeit, also bring die Ange­le­gen­heiten ins Reine, die dich beschäf­tigen. Jemand, der mit 150 Sachen gegen den Baum knallt und sofort tot ist, hat so eine Gele­gen­heit nicht. Ich schon. Und für diese Chance war ich dankbar. Ich sprach mich mit meinen Brü­dern aus. Klärte gewisse Dinge mit meinen Eltern. Und dann war da die Geschichte mit einem Scout von Borussia Dort­mund, die mir wirk­lich schwer zu schaffen machte.

Bitte erzählen Sie davon.
Dazu muss man wissen, dass ich vor den Spielen immer eine Vier­tel­stunde vor meinen Kol­legen zum Essen gegangen bin, um mich noch mal zu sam­meln. Diese Ruhe war mir heilig. Am vor­letzten Spieltag vor meiner Krebs­dia­gnose traf ich am Buffet auf besagten Scout. Er machte Small­talk, und ich merkte, dass er gerade jemanden zum Reden suchte. Mir ging er aber in diesem Moment auf den Wecker. Ich speiste ihn mit ein paar Phrasen ab und suchte mir einen ein­samen Tisch.

Was war daran so schlimm?
Das Ding ist: Ich wusste, dass er ein Jahr zuvor an Magen­krebs erkrankt war. Den hatte er zwar besiegt, mit den Nach­wir­kungen hatte er aller­dings noch immer zu kämpfen. Als ich kurz nach meiner eigenen Dia­gnose an diese Szene dachte, brach es mir fast das Herz. Da hat einer so viel Leid durch­ge­macht, möchte ein­fach kurz plau­dern, sich ablenken, und ich bin so ego­is­tisch und stoße ihn vor den Kopf.

Was haben Sie gemacht?
Gleich am nächsten Tag habe ich ihn ange­rufen und mich ent­schul­digt. Er hatte das gar nicht so wahr­ge­nommen wie ich, war aber trotzdem sehr glück­lich über meine Reak­tion. Ähn­lich ver­hielt ich mich auch mit anderen Dingen. Nach einer Woche hatte ich mein Gewissen erleich­tert. Ich wollte nicht oben anklopfen und vom lieben Gott zu hören bekommen: Ich habe dir doch genü­gend Zeit gegeben. Warum hast du das nicht aus­ge­nutzt?

Wie ging es weiter?
Die Ver­ant­wort­li­chen von Borussia Dort­mund boten an, mir einen ruhigen Platz in den USA zu suchen, um mich dem Stress in der Heimat nicht aus­setzen zu müssen. Aber ich wollte von Beginn an reinen Tisch machen. Also ging ich mit meiner Krank­heit an die Öffent­lich­keit. Der erhoffte Effekt trat ein. Die Neu­gier der Men­schen war gestillt, man ließ mich in Ruhe.

Hat man sich nicht mehr für Sie inter­es­siert?
Im Gegen­teil: Ich bekam mehr als 2000 Karten und Briefe, viele Men­schen spra­chen mich auf der Straße an und wünschten mir Glück. Das hat mir gut getan. Dann hatte die War­terei ein Ende. Ich fuhr in eine Klinik nach Hei­del­berg. Und wurde ein zweites Mal unter­sucht.

Wie lief das ab?
Man führte eine Biopsie bei mir durch. Eine lange Nadel, die ins Gehirn vor­dringt. Wäre dabei ein Gefäß beschä­digt worden, wäre ich ver­blutet. Das Ergebnis war krass, in vie­lerlei Hin­sicht: Der Tumor war zwar bös­artig und für einen Euro­päer in meinem Alter auch extrem selten. Aber sehr gut zu behan­deln. In den Worten meines Arztes: Dieser Tumor schmilzt unter Bestrah­lung wie Butter.“ Außerdem blieb mir die Che­mo­the­rapie erspart. Das war die Gnade Gottes. Andere würden sagen: ein Sechser im Lotto. Ich hatte unglaub­li­ches Glück.

Wie haben Sie die Strah­len­the­rapie erlebt?
Ich habe mich voll­kommen ver­schätzt. Bevor es los­ging, hatte ich Geschichten von über­ge­wich­tigen Frauen mitt­leren Alters gehört, die nach sol­chen Behand­lungen ein wenig Kopf­schmerzen hatten, sich einmal schüt­telten und wieder zur Arbeit gingen. Ich quar­tierte mich in einem kli­nik­nahen Hotel ein und nahm zur ersten Behand­lung meine Lauf­sa­chen mit. Ich schaffte es gerade so zurück ins Hotel. Am zweiten Tag musste ich mich über­geben. Am dritten Tag bat ich um ein Zimmer in der Klinik. Die Behand­lung hat mich kom­plett zer­legt.

Womit hatten Sie am meisten zu kämpfen?
Da kam so viel zusammen. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte man mir mit einem Hammer auf den Schädel geschlagen. Wie eine stän­dige Gehirn­er­schüt­te­rung. Ich nahm sieben Kilo ab. Ich konnte nichts mehr schme­cken, nichts mehr rie­chen. Mir fielen die Haare aus. Jeden Tag ging wieder ein Stück Lebens­qua­lität flöten. Ich fiel in eine schwere Depres­sion. Ich wurde zum Hypo­chonder. Hatte ich irgendwo ein Zwi­cken, dachte ich: Mein Gott, jetzt hast du auch noch Leber­krebs! Ich war voll der Psycho. So ging das ein halbes Jahr lang. Die schlimmste Zeit meines Lebens.

Haben Sie in dieser Zeit an Ihrem Glauben gezwei­felt?
Nein. Wir machen es uns immer ein­fach: Wenn etwas Schlimmes pas­siert, wird dafür der liebe Gott ver­ant­wort­lich gemacht. Die schönen Dinge im Leben nehmen wir ein­fach so zur Kenntnis.

Wie sind Sie zu Ihrem Glauben gekommen?
Durch Jor­g­inho, meinen Mit­spieler bei Bayer Lever­kusen. Als ich sah, wie dieser Mensch wirk­lich jeden Men­schen mit der glei­chen Freund­lich­keit und Güte behan­delte und dabei keinen Unter­schied machte, ob es sich nun um Reiner Cal­mund oder die Putz­frau han­delte, war ich fas­zi­niert. Ich beglei­tete ihn zu den von ihm ins Leben geru­fenen Bibel­kreisen und ent­deckte, was für einen Reichtum mir der uner­schüt­ter­liche Glauben in jeder Lebens­lage ein­brachte. Wäh­rend meiner Krebs­er­kran­kung habe ich davon sehr pro­fi­tiert.

Was hat Sie in dieser Zeit auf­ge­hei­tert?
Meine Frau war mit unserem ersten Kind schwanger. Die Vor­freude auf meine Tochter hat mich häufig aus den Löchern der Depres­sion befreit. Wobei: Dass ich meiner Frau in dieser für Sie so anstren­genden Zeit keine Hilfe sein konnte, noch schlimmer, selbst ein Pfle­ge­fall war, bedaure ich bis heute. Eine Frau ist eben nur einmal schwanger mit dem ersten Kind.

Wann hatten Sie das Schlimmste über­standen?
Die Bestrah­lung dau­erte ein halbes Jahr. Ein Vier­tel­jahr benö­tigte ich, um mich phy­sisch und psy­chisch wieder eini­ger­maßen zu erholen. Meine Tochter wurde geboren und der Tumor war tat­säch­lich geschmolzen, wie es mir die Ärzte pro­phe­zeit hatten. Von da an ging es wieder bergauf.

Am 15. Sep­tember 2001 fei­erten Sie schließ­lich Ihr Come­back: Beim Derby gegen Schalke wurden Sie nach 77 Minuten ein­ge­wech­selt. Wie befreiend war es, wieder auf dem Platz zu stehen?
Befreiend ist viel­leicht das fal­sche Wort. Pro­fi­fuß­ball war für mich immer knall­harte Maloche, meine Exis­tenz. Auf dieses Come­back hatte ich hin­ge­ar­beitet. Es war eine Genug­tuung.

Überall, wo Sie in diesen Monaten auf­tauchten, emp­fingen Sie Fans beider Lager mit einem warmen Applaus.
Kurz nach der Bekannt­gabe meines Wech­sels von Borussia Mön­chen­glad­bach zu Borussia Dort­mund 1995 wurde ich von der Bild“-Zeitung als geld­geiler Sack abge­stem­pelt, in meinem ersten Jahr mit dem BVB wurde ich in jedem Sta­dion beschimpft. Obwohl ich mich meiner Mei­nung nach absolut kor­rekt ver­halten hatte. Jetzt, nach meinem Come­back, bekam ich plötz­lich lan­des­weite Aner­ken­nung für etwas, was ich selbst gar nicht beein­flusst hatte, son­dern fähige Ärzte. Irgend­wann gleicht sich alles wieder aus.

Sie wirken sehr sach­lich und distan­ziert, wenn Sie über Ihr Come­back oder das Dasein als Profi spre­chen. Ich hätte nost­al­gi­schere Gefühle erwartet.
Die habe ich auch. Aber nicht, wenn ich an Tore, Titel oder große Spiele denke. Das ist Schnee von ges­tern.

Son­dern?
Die Stim­mung kurz vor dem Spiel. Wenn du mit deiner Mann­schaft in der Kabine sitzt, draußen die Masse bro­delt und es gleich gemeinsam in die Schlacht geht. Es stinkt nach Angst­schweiß. Du schaust nach rechts, da sitzt einer, hat die Augen geschlossen, hört Musik und ist im Tunnel. Links von dir hat ein Kol­lege die nackte Angst in den Augen. Und gegen­über sitzt ein Steffen Freund, du schaust ihm in die Augen und weißt, wer für dich den Krieg da draußen gewinnen wird.

Das klingt sehr mar­tia­lisch.
So habe ich es aber wahr­ge­nommen: als Krieg. Kennen Sie die Eröff­nungs­szene in Der Soldat James Ryan“, in der die Sol­daten in den Lan­dungs­booten stehen und warten, dass die Luke run­ter­ge­lassen wird? Die Stim­mung in der Kabine vor einem großen Spiel lässt sich damit durchaus ver­glei­chen. Ich erin­nere mich gerne daran.

Sie haben nach Ihrem Come­back nie wieder zur alten Form finden können und been­deten 2004 Ihre Kar­riere. Wie sehr hat der Krebs in diesen Jahren eine Rolle in Ihrem Leben gespielt?
Es hat gedauert, bis ich mich von den Spät­folgen der Erkran­kung erholt hatte. Psy­chisch, nicht phy­sisch. Natür­lich hatte ich Angst, dass der Krebs zurück­kehren könnte. Kurz nach meiner Gene­sung füllte ich mit unserem Mann­schafts­arzt einen Fra­ge­bogen bezüg­lich der Inva­li­dität aus. Er klärte mich auf, dass ich für den Rest meines Lebens offi­ziell als chro­nisch krank gelten werde. Das haut schon rein. Ich musste mich auch ander­weitig neu ori­en­tieren. Früher bin ich schon durch­ge­dreht, wenn ich ein Trai­nings­spiel verlor. In den ersten Monaten nach dem Come­back dachte ich: Was ist schon so ein ver­lo­renes Übungs­spiel dagegen, dass du wei­ter­leben darfst?“ Mit so einer Ein­stel­lung bist du aller­dings nicht gesell­schafts­fähig, gerade im Pro­fi­fuß­ball.

Sie wurden Trainer, arbei­teten in Dort­mund, für den DFB, in Bochum, Unter­ha­ching und für die U17 des FC Bayern. Welche Erkennt­nisse aus Ihrer aktiven Kar­riere wollten Sie an den Nach­wuchs wei­ter­geben?
Ich sagte meinen Jungs immer: Es gibt für mich vier Leis­tungs­fak­toren: Technik, Taktik, Ath­letik und Per­sön­lich­keit.“ Die Per­sön­lich­keit ist häufig ent­schei­dend, ob ein Spieler den Sprung zu den Profis schafft. Du kannst noch so talen­tiert sein, wenn du in diesem Sport nur an dich denkst, hast du schon ver­loren. Eine erfolg­reiche Mann­schaft besteht für mich aus elf Die­nern – da will jeder dem anderen helfen. Steffen Freund war für mich der Inbe­griff des Die­ners. In meiner ersten Zeit als U19-Trainer von Borussia Dort­mund sprach ich häufig von der Steffen-Freund-Men­ta­lität“. Das kann ich heute leider nicht mehr machen.

Warum?
Weil die Jungs dann mit den Augen rollen und denken: Jetzt erzählt der Trainer wieder vom Mit­tel­alter!“ (Lacht.) Das ver­mittle ich heute anders. Indem ich zum Bei­spiel immer mit anpacke, wenn die Tore vom Platz geschleppt werden müssen. Da stehen dann die ver­wöhnten Teen­ager und gucken mich schräg an. Ich sage: Ruh dich ruhig aus, ich habe kein Pro­blem damit.“ Dann haben die Spieler ver­standen.

Haben Sie heute noch Angst vor dem Krebs?
Nein. Die letzte Unter­su­chung hatte ich vor drei Jahren. Ich bin viel­leicht nicht mehr so unbe­küm­mert wie vor der ersten Dia­gnose, aber das macht nichts. Ich habe vieles gewonnen durch die Krank­heit. Vor allem die all­täg­liche Dank­bar­keit dafür, wenn die Men­schen um mich herum gesund sind. Alles andere ist ohnehin zweit­rangig. Sehen Sie: Ich war Cham­pions-League-Sieger, Welt­po­kal­sieger, Natio­nal­spieler, Fuß­ball­profi mit einem gut gefüllten Konto. Dann wurde ich krank und wollte nur noch über­leben.

Das haben Sie zum Glück geschafft.
Und des­halb darf ich mich in meinem Leben über man­gelndes Glück eigent­lich nie wieder beschweren.