In den Neunzigern war Heiko Herrlich einer der besten deutschen Stürmer. Bis Ärzte einen Hinrtumor bei ihm feststellten – und sich sein Leben radikal veränderte. Heute wird er 50 Jahre alt.
Das Interview erschien erstmals in 11FREUNDE #154, im September 2014. Das Heft findet ihr hier. Heute wird Heiko Herrlich 50 Jahre alt.
Heiko Herrlich, im Herbst 2000 wurden bei Ihnen ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert. Welche Rolle spielte der Fußball in dieser Zeit?
Gar keine. Von da an ging es für mich nur darum zu überleben.
Wie haben Sie auf die Diagnose reagiert?
Nach dem ersten Schock sagte ich zu meinem Arzt: „Ein Tumor? Dann lasst uns das Ding rausholen. Kopf auf, Kopf zu, fertig.“ Doch mein Arzt schaute betreten zu Boden und sagte: „Heiko, an der Stelle geht das nicht.“ Der Tumor saß an einer so ungünstigen Stelle, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit nach einer Operation schwerstbehindert gewesen wäre. Eine erneute Untersuchung sollte mehr Ergebnisse bringen, allerdings erst fünf Wochen später. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich konnte es zunächst nicht begreifen. Hatte ich nicht alles dafür getan, um nicht krank zu werden? Keinen Alkohol getrunken, keine Zigaretten geraucht, keine Drogen ausprobiert. Gesunde Ernährung, ein Leben als Hochleistungssportler. Warum passierte das nun ausgerechnet mir? Aber ich bin ein sehr gläubiger Mensch. Ich weiß noch, was ich zu meiner Frau sagte: „Es hat noch keiner geschafft, ewig auf Erden zu bleiben. Irgendwann müssen wir doch alle gehen. Ob mit oder ohne Hirntumor. Was mit mir passiert, liegt jetzt in Gottes Hand.“
Hatten Sie keine Angst vor dem Tod?
Natürlich. Aber auch dabei hat mir mein Glauben Halt gegeben. Ich dachte: „Okay, lieber Gott, jetzt kommt ein harter Weg. Keine Ahnung, was du mit mir vorhast, aber ich glaube daran, dass du bei mir bist.“
Sie konnten zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, wie lange Sie noch zu leben hatten. Gab es Dinge, die Sie unbedingt erledigen oder loswerden wollten?
Das war einer meiner ersten Gedanken: Dir bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit, also bring die Angelegenheiten ins Reine, die dich beschäftigen. Jemand, der mit 150 Sachen gegen den Baum knallt und sofort tot ist, hat so eine Gelegenheit nicht. Ich schon. Und für diese Chance war ich dankbar. Ich sprach mich mit meinen Brüdern aus. Klärte gewisse Dinge mit meinen Eltern. Und dann war da die Geschichte mit einem Scout von Borussia Dortmund, die mir wirklich schwer zu schaffen machte.
Bitte erzählen Sie davon.
Dazu muss man wissen, dass ich vor den Spielen immer eine Viertelstunde vor meinen Kollegen zum Essen gegangen bin, um mich noch mal zu sammeln. Diese Ruhe war mir heilig. Am vorletzten Spieltag vor meiner Krebsdiagnose traf ich am Buffet auf besagten Scout. Er machte Smalltalk, und ich merkte, dass er gerade jemanden zum Reden suchte. Mir ging er aber in diesem Moment auf den Wecker. Ich speiste ihn mit ein paar Phrasen ab und suchte mir einen einsamen Tisch.
Was war daran so schlimm?
Das Ding ist: Ich wusste, dass er ein Jahr zuvor an Magenkrebs erkrankt war. Den hatte er zwar besiegt, mit den Nachwirkungen hatte er allerdings noch immer zu kämpfen. Als ich kurz nach meiner eigenen Diagnose an diese Szene dachte, brach es mir fast das Herz. Da hat einer so viel Leid durchgemacht, möchte einfach kurz plaudern, sich ablenken, und ich bin so egoistisch und stoße ihn vor den Kopf.
Was haben Sie gemacht?
Gleich am nächsten Tag habe ich ihn angerufen und mich entschuldigt. Er hatte das gar nicht so wahrgenommen wie ich, war aber trotzdem sehr glücklich über meine Reaktion. Ähnlich verhielt ich mich auch mit anderen Dingen. Nach einer Woche hatte ich mein Gewissen erleichtert. Ich wollte nicht oben anklopfen und vom lieben Gott zu hören bekommen: „Ich habe dir doch genügend Zeit gegeben. Warum hast du das nicht ausgenutzt?
Wie ging es weiter?
Die Verantwortlichen von Borussia Dortmund boten an, mir einen ruhigen Platz in den USA zu suchen, um mich dem Stress in der Heimat nicht aussetzen zu müssen. Aber ich wollte von Beginn an reinen Tisch machen. Also ging ich mit meiner Krankheit an die Öffentlichkeit. Der erhoffte Effekt trat ein. Die Neugier der Menschen war gestillt, man ließ mich in Ruhe.
Hat man sich nicht mehr für Sie interessiert?
Im Gegenteil: Ich bekam mehr als 2000 Karten und Briefe, viele Menschen sprachen mich auf der Straße an und wünschten mir Glück. Das hat mir gut getan. Dann hatte die Warterei ein Ende. Ich fuhr in eine Klinik nach Heidelberg. Und wurde ein zweites Mal untersucht.
Wie lief das ab?
Man führte eine Biopsie bei mir durch. Eine lange Nadel, die ins Gehirn vordringt. Wäre dabei ein Gefäß beschädigt worden, wäre ich verblutet. Das Ergebnis war krass, in vielerlei Hinsicht: Der Tumor war zwar bösartig und für einen Europäer in meinem Alter auch extrem selten. Aber sehr gut zu behandeln. In den Worten meines Arztes: „Dieser Tumor schmilzt unter Bestrahlung wie Butter.“ Außerdem blieb mir die Chemotherapie erspart. Das war die Gnade Gottes. Andere würden sagen: ein Sechser im Lotto. Ich hatte unglaubliches Glück.
Wie haben Sie die Strahlentherapie erlebt?
Ich habe mich vollkommen verschätzt. Bevor es losging, hatte ich Geschichten von übergewichtigen Frauen mittleren Alters gehört, die nach solchen Behandlungen ein wenig Kopfschmerzen hatten, sich einmal schüttelten und wieder zur Arbeit gingen. Ich quartierte mich in einem kliniknahen Hotel ein und nahm zur ersten Behandlung meine Laufsachen mit. Ich schaffte es gerade so zurück ins Hotel. Am zweiten Tag musste ich mich übergeben. Am dritten Tag bat ich um ein Zimmer in der Klinik. Die Behandlung hat mich komplett zerlegt.
Womit hatten Sie am meisten zu kämpfen?
Da kam so viel zusammen. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte man mir mit einem Hammer auf den Schädel geschlagen. Wie eine ständige Gehirnerschütterung. Ich nahm sieben Kilo ab. Ich konnte nichts mehr schmecken, nichts mehr riechen. Mir fielen die Haare aus. Jeden Tag ging wieder ein Stück Lebensqualität flöten. Ich fiel in eine schwere Depression. Ich wurde zum Hypochonder. Hatte ich irgendwo ein Zwicken, dachte ich: Mein Gott, jetzt hast du auch noch Leberkrebs! Ich war voll der Psycho. So ging das ein halbes Jahr lang. Die schlimmste Zeit meines Lebens.
Haben Sie in dieser Zeit an Ihrem Glauben gezweifelt?
Nein. Wir machen es uns immer einfach: Wenn etwas Schlimmes passiert, wird dafür der liebe Gott verantwortlich gemacht. Die schönen Dinge im Leben nehmen wir einfach so zur Kenntnis.
Wie sind Sie zu Ihrem Glauben gekommen?
Durch Jorginho, meinen Mitspieler bei Bayer Leverkusen. Als ich sah, wie dieser Mensch wirklich jeden Menschen mit der gleichen Freundlichkeit und Güte behandelte und dabei keinen Unterschied machte, ob es sich nun um Reiner Calmund oder die Putzfrau handelte, war ich fasziniert. Ich begleitete ihn zu den von ihm ins Leben gerufenen Bibelkreisen und entdeckte, was für einen Reichtum mir der unerschütterliche Glauben in jeder Lebenslage einbrachte. Während meiner Krebserkrankung habe ich davon sehr profitiert.
Was hat Sie in dieser Zeit aufgeheitert?
Meine Frau war mit unserem ersten Kind schwanger. Die Vorfreude auf meine Tochter hat mich häufig aus den Löchern der Depression befreit. Wobei: Dass ich meiner Frau in dieser für Sie so anstrengenden Zeit keine Hilfe sein konnte, noch schlimmer, selbst ein Pflegefall war, bedaure ich bis heute. Eine Frau ist eben nur einmal schwanger mit dem ersten Kind.
Wann hatten Sie das Schlimmste überstanden?
Die Bestrahlung dauerte ein halbes Jahr. Ein Vierteljahr benötigte ich, um mich physisch und psychisch wieder einigermaßen zu erholen. Meine Tochter wurde geboren und der Tumor war tatsächlich geschmolzen, wie es mir die Ärzte prophezeit hatten. Von da an ging es wieder bergauf.
Am 15. September 2001 feierten Sie schließlich Ihr Comeback: Beim Derby gegen Schalke wurden Sie nach 77 Minuten eingewechselt. Wie befreiend war es, wieder auf dem Platz zu stehen?
Befreiend ist vielleicht das falsche Wort. Profifußball war für mich immer knallharte Maloche, meine Existenz. Auf dieses Comeback hatte ich hingearbeitet. Es war eine Genugtuung.
Überall, wo Sie in diesen Monaten auftauchten, empfingen Sie Fans beider Lager mit einem warmen Applaus.
Kurz nach der Bekanntgabe meines Wechsels von Borussia Mönchengladbach zu Borussia Dortmund 1995 wurde ich von der „Bild“-Zeitung als geldgeiler Sack abgestempelt, in meinem ersten Jahr mit dem BVB wurde ich in jedem Stadion beschimpft. Obwohl ich mich meiner Meinung nach absolut korrekt verhalten hatte. Jetzt, nach meinem Comeback, bekam ich plötzlich landesweite Anerkennung für etwas, was ich selbst gar nicht beeinflusst hatte, sondern fähige Ärzte. Irgendwann gleicht sich alles wieder aus.
Sie wirken sehr sachlich und distanziert, wenn Sie über Ihr Comeback oder das Dasein als Profi sprechen. Ich hätte nostalgischere Gefühle erwartet.
Die habe ich auch. Aber nicht, wenn ich an Tore, Titel oder große Spiele denke. Das ist Schnee von gestern.
Sondern?
Die Stimmung kurz vor dem Spiel. Wenn du mit deiner Mannschaft in der Kabine sitzt, draußen die Masse brodelt und es gleich gemeinsam in die Schlacht geht. Es stinkt nach Angstschweiß. Du schaust nach rechts, da sitzt einer, hat die Augen geschlossen, hört Musik und ist im Tunnel. Links von dir hat ein Kollege die nackte Angst in den Augen. Und gegenüber sitzt ein Steffen Freund, du schaust ihm in die Augen und weißt, wer für dich den Krieg da draußen gewinnen wird.
Das klingt sehr martialisch.
So habe ich es aber wahrgenommen: als Krieg. Kennen Sie die Eröffnungsszene in „Der Soldat James Ryan“, in der die Soldaten in den Landungsbooten stehen und warten, dass die Luke runtergelassen wird? Die Stimmung in der Kabine vor einem großen Spiel lässt sich damit durchaus vergleichen. Ich erinnere mich gerne daran.
Sie haben nach Ihrem Comeback nie wieder zur alten Form finden können und beendeten 2004 Ihre Karriere. Wie sehr hat der Krebs in diesen Jahren eine Rolle in Ihrem Leben gespielt?
Es hat gedauert, bis ich mich von den Spätfolgen der Erkrankung erholt hatte. Psychisch, nicht physisch. Natürlich hatte ich Angst, dass der Krebs zurückkehren könnte. Kurz nach meiner Genesung füllte ich mit unserem Mannschaftsarzt einen Fragebogen bezüglich der Invalidität aus. Er klärte mich auf, dass ich für den Rest meines Lebens offiziell als chronisch krank gelten werde. Das haut schon rein. Ich musste mich auch anderweitig neu orientieren. Früher bin ich schon durchgedreht, wenn ich ein Trainingsspiel verlor. In den ersten Monaten nach dem Comeback dachte ich: „Was ist schon so ein verlorenes Übungsspiel dagegen, dass du weiterleben darfst?“ Mit so einer Einstellung bist du allerdings nicht gesellschaftsfähig, gerade im Profifußball.
Sie wurden Trainer, arbeiteten in Dortmund, für den DFB, in Bochum, Unterhaching und für die U17 des FC Bayern. Welche Erkenntnisse aus Ihrer aktiven Karriere wollten Sie an den Nachwuchs weitergeben?
Ich sagte meinen Jungs immer: „Es gibt für mich vier Leistungsfaktoren: Technik, Taktik, Athletik und Persönlichkeit.“ Die Persönlichkeit ist häufig entscheidend, ob ein Spieler den Sprung zu den Profis schafft. Du kannst noch so talentiert sein, wenn du in diesem Sport nur an dich denkst, hast du schon verloren. Eine erfolgreiche Mannschaft besteht für mich aus elf Dienern – da will jeder dem anderen helfen. Steffen Freund war für mich der Inbegriff des Dieners. In meiner ersten Zeit als U19-Trainer von Borussia Dortmund sprach ich häufig von der „Steffen-Freund-Mentalität“. Das kann ich heute leider nicht mehr machen.
Warum?
Weil die Jungs dann mit den Augen rollen und denken: „Jetzt erzählt der Trainer wieder vom Mittelalter!“ (Lacht.) Das vermittle ich heute anders. Indem ich zum Beispiel immer mit anpacke, wenn die Tore vom Platz geschleppt werden müssen. Da stehen dann die verwöhnten Teenager und gucken mich schräg an. Ich sage: „Ruh dich ruhig aus, ich habe kein Problem damit.“ Dann haben die Spieler verstanden.
Haben Sie heute noch Angst vor dem Krebs?
Nein. Die letzte Untersuchung hatte ich vor drei Jahren. Ich bin vielleicht nicht mehr so unbekümmert wie vor der ersten Diagnose, aber das macht nichts. Ich habe vieles gewonnen durch die Krankheit. Vor allem die alltägliche Dankbarkeit dafür, wenn die Menschen um mich herum gesund sind. Alles andere ist ohnehin zweitrangig. Sehen Sie: Ich war Champions-League-Sieger, Weltpokalsieger, Nationalspieler, Fußballprofi mit einem gut gefüllten Konto. Dann wurde ich krank und wollte nur noch überleben.
Das haben Sie zum Glück geschafft.
Und deshalb darf ich mich in meinem Leben über mangelndes Glück eigentlich nie wieder beschweren.