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Das Inter­view erschien erst­mals 2011 zu Dedés Abschied aus Dort­mund.

Dedé, Sie haben in 13 Jahren über 300 Spiele für den BVB bestritten. Hätten Sie sich das vor­stellen können, als Sie im Früh­jahr 1998 ihre Heimat ver­ließen?
Mein Plan war eigent­lich ein anderer. Ich wollte in Dort­mund drei Jahre meinen Ver­trag erfüllen und dann zurück nach Bra­si­lien gehen.

Warum wollten Sie zurück?
Mir fiel der Abschied aus Bra­si­lien unheim­lich schwer. Ich wuchs mit meinen Brü­dern und meinen Eltern in einer kleiner Woh­nung in einer Favela von Belo Hori­zonte auf. Wir lebten zu acht auf nicht mal 35 Qua­drat­me­tern. Aber das war mein Zuhause, die Favela, meine Familie. Ich kannte dort jeden Stein, ich hatte an jeder Ecke Freunde, bei Atlé­tico Mineiro, meinem dama­ligen Verein, liebten mich die Fans.

Sie hatten Sorge, dass das in Deutsch­land anders wird?
Klar. Aber eines Tages nahm mich mein Vater zur Seite und sagte: Geh nach Deutsch­land. Ver­such in den drei Jahren dein Bestes zu geben. Danach kannst du immer noch ent­scheiden, ob du zurück­kehrst.“ Also habe ich den Schritt gewagt, auch weil ich meiner Familie ein Haus kaufen wollte, ich wollte ihnen ein bes­seres Leben ermög­li­chen.

Sie und Ihre Brüder sind schon als Kinder arbeiten gegangen, um über­leben zu können.
Im Super­markt stand ich am Ein­gang und war­tete auf ältere Men­schen, um ihre Tüten nach Hause zu tragen. Ich habe als Auto­wä­scher gear­beitet und als Eis­ver­käufer …

… mit dem spä­teren Bun­des­li­ga­spieler Cássio de Souza Soares, auch als Lin­coln bekannt.
Wir lernten uns kennen, als wir zehn Jahre alt waren. Seitdem waren wir unzer­trenn­lich. Wir hingen in den Straßen ab, teilten uns klei­nere Jobs – und spielten Fuß­ball. Unent­wegt: Fuß­ball. Er ist mein Jahr­gang, später spielten wir gemeinsam bei Mineiro. Als Lin­coln drei Jahre nach meinem Wechsel zum BVB auch in die Bun­des­liga kam, habe ich mich sehr gefreut.

Wie weit weg war der Traum Pro­fi­fuß­baller?
Sie werden in Bra­si­lien kaum einen Jungen finden, der nicht davon träumt. Fuß­ball bestimmt das Leben. So war es auch bei Lin­coln und mir. Ich habe in meiner Kind­heit in vier Ver­einen gleich­zeitig gespielt. Die Wochen­enden waren kom­plett mit Fuß­ball belegt. Manchmal mit zwei oder drei Spielen am Stück. Ich war talen­tiert. Ich habe immer mit Älteren gespielt, mit zehn Jahren war ich bei den Zwölf­jäh­rigen. Mein erstes Pro­fi­spiel machte ich mit 17 für Atlé­tico Mineiro. Ich war mächtig stolz, schließ­lich war Mineiro mein Klub, der Klub, bei dem ich unzäh­lige Male im Sta­dion war.

Konnten Sie sich damals die Tickets für die Spiele leisten?
Nein. Meine Kum­pels und ich sind damals ein­fach über die Mauer gesprungen, wir halfen uns gegen­seitig, wäh­rend ein paar Jungs Schmiere standen. Wenn wir es in den Innen­be­reich geschafft hatten, ging die Ver­fol­gung los: Wir tauchten blitz­schnell in der Menge unter, wäh­rend die Poli­zisten hinter uns her gelaufen sind.

Was hatten Sie für ein Bild von Deutsch­land?
Ich kannte Deutsch­land über­haupt nicht. Das lag vor allem daran, dass die Bun­des­liga im bra­si­lia­ni­schen Fern­sehen nicht so prä­sent war wie heute. Außerdem war das Internet noch nicht ver­breitet. Ich kannte daher nur ein paar Kli­schees, Erzäh­lungen. Einige meinten, es sei immer kalt in Deutsch­land. Andere sagten, die Leute seien schlecht gelaunt.

Was stimmte?
Als ich 1997 nach Deutsch­land kam, unter­schrieb ich einen Vor­ver­trag bei Bayer Lever­kusen und traf mich dafür mit Reiner Cal­mund. Der war gut gelaunt. (Lacht.) Aber es war Winter, eis­kalt.

Warum sind Sie letzt­end­lich nach Dort­mund gewech­selt?
Lever­kusen erschien mir attraktiv, aber Borussia Dort­mund bemühte sich in den kom­menden Monaten sehr stark um mich. Und ich kannte den Verein bereits vom Welt­po­kal­sieg. Ich war ein Fan.

Sie waren BVB-Fan?
Gewis­ser­maßen. Dort­mund hat 1997 im Welt­pokal gegen Cru­zeiro Belo Hori­zonte gespielt, den großen Stadt­ri­valen von Atlé­tico Mineiro. Die mögen sich unge­fähr so gerne wie Borussia Dort­mund und Schalke 04. Wobei die Riva­lität dort viel mehr in Gewalt und Aggres­sion aus­artet. Damals drückte ich natür­lich dem BVB die Daumen.

Sie sagten mal, dass Sie nach Ihrer Ankunft in Dort­mund sehr viel geweint und ständig mit Ihrer Mutter tele­fo­niert hätten. War der Kul­tur­schock so groß?
Es war ein­fach alles anders. Ich war alleine, keine Freunde, keine Familie, anderes Essen, andere Sprache, anderes Wetter. Die Leute waren viel reser­vierter als in Bra­si­lien. Und auch der Fuß­ball war ganz anders. Es stürzte alles geballt auf mich ein – ich war damals ja erst 20 Jahre alt. Ich wollte nur schnell wieder weg. Später lernte ich viele warm­her­zige Men­schen kennen, aber ich merkte auch, dass es in Deutsch­land manchmal ein wenig länger braucht, damit Freund­schaften ent­stehen können.

Wie Ihnen erging es schon vielen Bra­si­lianer nach ihrem Wechsel in die Bun­des­liga.
Ich ver­stehe diese Spieler, die sich nicht zurecht­finden, weil sie in eine voll­kommen neue Welt ein­tau­chen. Da gibt es geniale Kicker aus Bra­si­lien, Spieler, die dort alles in Grund und Boden spielen, Tore am Fließ­band schießen und dann in Deutsch­land nicht mal ansatz­weise ihre Leis­tung bringen. Sie kommen nicht mit den neuen Ein­drü­cken und den neuen Ver­hält­nissen zurecht.

Wenn meine Mit­spieler fragten Dede, geht’s dir gut?‘, konnte ich nur ant­worten Ja.‘ Dabei ging es mir nicht gut. Ich konnte es bloß nicht sagen.“

Sie haben bald Deutsch gelernt. War das auch ein Grund, wes­halb Sie sich nach den Anfangs­schwie­rig­keiten schnell Anschluss fanden?

Auf jeden Fall. Ich bin ein recht freund­li­cher und gut gelaunter Mensch, doch konnte ich das am Anfang über­haupt nicht richtig zeigen. Die erfah­renen BVB-Spieler haben mich in ihre Mitte genommen, mich geführt, sie waren sehr gut zu mir, der Kokser, Icke Häßler und andere. Aber wenn sie mich fragten Dede, geht’s dir gut?“, konnte ich stets nur ant­worten Ja.“ Dabei ging es mir nicht gut. Ich konnte es bloß nicht arti­ku­lieren. Mir wurde klar: Wenn du hier bleiben willst, musst du die Sprache lernen, du musst mit den Leuten reden können.

Bekamen Sie einen Deutsch­lehrer?
Am Anfang hatte ich einen, aber wir hatten unter­schied­liche Ideen vom Unter­richt. Er wollte mir die deut­sche Sprache wie einem kleinen Schüler bei­bringen, er begann mit dem Alphabet: A, B, C, D, und so weiter. Er begriff nicht, dass ich gar keine Zeit hatte, so grund­le­gend die Sprache zu lernen. Ich wollte ein­fach viel Deutsch hören und viel spre­chen.

Sie wollten ein­fach anfangen.
Richtig. Natür­lich macht man Fehler am Anfang, aber ich wollte ein schnelles Erfolgs­er­lebnis, nicht erst die Gram­matik in Per­fek­tion beherr­schen, son­dern wich­tige Sätze und Worte sagen, natür­lich auch, um auf dem Platz mit meinen Mit­spie­lern kom­mu­ni­zieren zu können. Ich wollte Dinge rufen wie: Links!“, Rechts!“, Spiel!“ Ich brach also den Unter­richt ab und kaufte mir eine Lern­kas­sette, die ich immer bei mir hatte. Wenn wir zu Aus­wärts­spielen gereist sind, habe ich die Kas­sette in meinen Walkman gelegt und ange­macht. Außerdem habe ich Bücher gelesen, in denen jede Seite eine por­tu­gie­si­sche Über­set­zung hatte.

Sie waren bald der Deut­sche“ unter den Bra­si­lia­nern.
Als ich nach Deutsch­land kam, war mein Fuß­ball noch ein ganz anderer. Ich spielte typisch bra­si­lia­nisch, ich liebte das tech­ni­sche Spiel, die Tricks, Finten, Über­steiger. Das ganze Pro­gramm. Es kam, was kommen musste: Ich wurde unent­wegt gefoult. In meiner ersten Saison war ich laut Sta­tistik der Spieler, den die Gegen­spieler am häu­figsten von den Beinen holten. Nor­ma­ler­weise trägt die Nummer Zehn dieses Schicksal, doch beim BVB war ich es, ganz ein­fach, weil ich so ris­kant spielte.

Sie begannen, effek­tiver zu spielen?
Ich musste anders spielen, um in der Bun­des­liga Erfolg zu haben, ich wollte schneller den Ball passen, schnör­kel­loser spielen, robuster und stärker in die Zwei­kämpfe gehen. Als Mat­thias Sammer im Sommer 2000 als Trainer beim BVB anfing, hatte ich dieses Spiel kom­plett ver­in­ner­licht. Und nicht nur das, ich fühlte mich auch richtig wohl. Weg wollte ich nicht mehr.

Sie wurden auch eine wich­tige Inte­gra­ti­ons­figur für neue Spieler, vor allem für die Bra­si­lianer. Wie haben Sie den Spie­lern ihren BVB nahe­ge­bracht?
Jeder Neue fragte mich: Dedé, warum bist du schon so lange beim Borussia Dort­mund?“ Oder: Dedé, was magst du so am BVB?“ So war es auch bei Ewerthon, Amo­roso, Eva­nilson, Tinga. Viele von den Jungs haben ja auch bei mir gewohnt. Wenn wir bei­sammen saßen, sagte ich ihnen nichts als die Wahr­heit. Ich erzählte ihnen von den Fans, von dieser impo­santen Süd­tri­büne, diesem Sta­dion, das nahezu bei jedem Spiel aus­ver­kauft ist. Manchmal haben sie mir nicht geglaubt – und gerade dann waren sie umso fas­zi­nierter, wenn sie das bei ihrem ersten Spiel live erleben. Und das macht mich sehr froh, auch weil für mich am Anfang dieses Fas­zi­nie­rende des Ver­eins nicht sofort sichtbar war.


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Wenn Sie heute auf Ihre Zeit in Dort­mund zurück­bli­cken: Was war der Moment, an den Sie sich immer wieder erin­nern werden?
Es gab unzählig viele. Der 4:0‑Sieg gegen den AC Mai­land. Oder als ich mit meinem Bruder in der Cham­pions League gegen AJ Auxerre ein­lief. Den bewe­gendsten Moment erlebte ich aller­dings nach meinem Kreuz­band­riss. Drei Tage nach meiner Ope­ra­tion wollte ich unbe­dingt beim Spiel gegen die Bayern im Sta­dion sein. Meine Ärzte rieten ab, doch ich drängte. So hum­pelte ich auf Krü­cken aufs Feld. Was ich dann erlebte, werde ich nie ver­gessen: Die Fans jubelten mir zu, sie hielten ein Spruch­band hoch („Dede, nur noch 4.152 Stunden“, d. Red.), und die Mann­schaft trug ein Trans­pa­rent auf den Rasen: Der ganze BVB für unseren Dedé“. Ich war zu Tränen gerührt. Freu­den­tränen.

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Was dachten Sie in dem Moment?
Dass es richtig war, in Dort­mund zu bleiben, dass es richtig war, ein Angebot aus Rom abzu­lehnen. In diesem Moment wusste ich, dass alles Sinn machte.