Jürgen Hingsen ist einer der besten Zehnkämpfer aller Zeiten. Im Interview spricht er über seinen Kollaps bei Olympia 1984, drei Fehlstarts in Seoul und die elfte Disziplin: Sex.
Warum hat es kein deutscher Zehnkämpfer mehr geschafft, Ihre Popularität zu erreichen?
Ich glaube, mit entsprechenden Leistungen und einer Persönlichkeit ist das jederzeit möglich. Allerdings wurde Leichtathletik noch viel mehr im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt. Damals kamen selbst zu Deutschen Meisterschaften über 30 000 Zuschauer in die Stadien. Es gab viele Top-Athleten: Ulrike Nasse-Meyfarth, Thomas Wessinghage, Dietmar Mögenburg, die Fights von Edwin Moses gegen Harald Schmid. Die Achtziger waren ein Jahrzehnt der Leichtathletik…
… in dem, wie wir heute wissen, auch Doping fast noch gesellschaftsfähig war.
Aber weniger bei uns, als in der DDR.
Nun ja, die westdeutsche Siebenkämpferin Birgit Dressel starb an einem Multiorganversagen ausgelöst von Dopingmitteln. Auch etliche US-Olympiasieger von Los Angeles standen in Verdacht, gedopt zu haben.
Never trust the Americans. Die haben viel dazu beigetragen, dass der Kanadier Ben Johnson 1988 ins Rampenlicht gerückt wurde, aber bei ihren eigenen Leuten haben sie es clever runtergespielt.
Sind Sie jemals mit Doping konfrontiert worden?
Nein. Wir haben gehört, dass die Amis und die Ostblockstaaten aktiv sein sollen, aber mehr wussten wir darüber nicht.
Ihr Kumpel, der Gewichtheber Rolf Milser, hat sich noch 1977 für anabole Steroide ausgesprochen.
Bei den Gewichthebern war das vor dem Verbot in den späten Siebzigern gang und gäbe, aber mein Krafttraining sah ganz anders aus. Ich habe doch nicht mit 200 Kilo Kniebeugen gemacht, sondern viel über Schnellkraft erreicht, über Technik und Explosivkraft.
Sie waren bei Dr. Armin Klümper in Behandlung, der später als Dopingarzt überführt wurde.
Ich habe auch bei Joseph Keul Untersuchungen gemacht. Aber dass die beiden da mit drinhingen, hat mich sehr verwundert.
Warum?
Mir haben sie nie etwas angeboten. Natürlich bekam ich bei Verletzungen auch mal eine Spritze, aber von Klümper habe ich vor allem das richtige Dehnungsverhalten und Rückenschule gelernt. Er hat mir Übungen verschrieben, die meinen „Scheuermann“ behandelten und meiner Wirbelsäule eine Form gaben, die mich weniger verletzungsanfällig machte.
Hatten Sie Kontrolle darüber, was er Ihnen spritzte?
Weitestgehend. Ich kann jedenfalls sagen, dass er meines Wissens in seiner Praxis niemals flächendeckendes Doping angeboten hat, so wie es der Presse zu entnehmen war. Ob Sportler konkret mit der Bitte an ihn herantraten, verbotene Präparate verabreicht zu bekommen, und er darauf einging, weiß ich natürlich nicht.
Sie haben mal gesagt, Zehnkampf sei „Mord in zehn Raten“.
Der Spruch stammt vom Kollegen Kurt Bendlin, der extrem trainiert hat, oft verletzt war und Kraftübungen gemacht hat, bei denen man heute die Hände überm Kopf zusammenschlagen würde. Aber was er sagen wollte, stimmt: Man braucht für Zehnkampf ein optimales Grundlagentraining, um allen Disziplinen gewachsen zu sein.
Können Sie beschreiben, wie furchtbar die Schmerzen beim abschließenden 1500-Meter-Lauf sind.
Man hat neun Übungen in den Knochen, ist übermüdet. Die letzten Meter sind die Hölle, man läuft buchstäblich bis zum Koma, weil man so übersäuert ist. Diesen Lauf habe ich gar nicht großartig trainiert, weil er aus meiner Sicht reine Kopfsache war.
Das Kotzen danach gehört dazu.
Bei Überanstrengung ist das nicht zu vermeiden, zumal man während des Wettkampfs so viel Flüssigkeit und Mineralien zu sich nehmen muss, dass der Magen zwangsläufig übersäuert. Eine Banane kann schon zu viel sein.
Jürgen Hingsen, Zehnkampf ist die Königsdisziplin der Leichtathletik, weil…
…dem Athleten physisch und psychisch alles abverlangt wird. Es wird die gesamte Muskulatur beansprucht, der Sportler muss über 300 unterschiedliche Bewegungsabläufe beherrschen, allein 46 beim Stabhochsprung. Um das mit Ausdauer, Schnelligkeit und Konzentration an zwei Tagen unter teils extremen Witterungsbedingungen so hinzubekommen, dass man ständig Bestleistungen bringt, ist eine hohe Kunst.
Das Hingsen-Interview mit allen Hintergründen und vielen exklusiven Fotos jetzt in der neuen Ausgabe von „NoSports“. Hier bestellen!