Jürgen Hingsen ist einer der besten Zehnkämpfer aller Zeiten. Im Interview spricht er über seinen Kollaps bei Olympia 1984, drei Fehlstarts in Seoul und die elfte Disziplin: Sex.
Ein Zehnkämpfer verbringt an zwei Wettkampftagen jeweils rund 16 Stunden im Stadion. Selbst in so einer langen Zeit konnten Sie den mentalen Druck nicht abbauen?
Durch die vielen Ruhephasen, die so ein Tag hat, brauchte ich unheimlich lange, um in meine Konzentration zu finden. Daley lief zwei Mal auf und ab und hatte wieder volle Spannkraft. Beeindruckend! Ich musste viel mehr Energie aufbringen, um dahin zu kommen.
Wie erklären Sie sich das?
Naja, 2,03 Meter von der Schaltzentrale bis zu den Füßen sind eben deutlich weiter als die 1,85 Meter bei Daley.
Wie verläuft die Nacht zwischen den Wettkampftagen?
Mit Schlaf ist da nicht viel. Ich habe öfter vorm Einschlafen ein, zwei Weizenbier getrunken, um runterzukommen.
Zwei Weizenbier mitten im Wettkampf?
Um die Nerven zu beruhigen, irgendwie musste ich ja zusehen in den Schlaf zu finden. Der 400-Meter-Lauf fand meist erst spätabends statt und danach war ich noch voller Adrenalin.
Das heißt?
Mehr als drei Stunden habe ich in solchen Nächten nie geschlafen. So gesehen ist Zehnkampf eine 48-Stunden-Schicht, für die man sowohl die körperliche als auch geistige Substanz mitbringen muss.
Vor Boxkämpfen gehört verbales Säbelrasseln dazu. Haben Sie nie heimlich gesagt: „Komm, Daley, lass uns eine Show abziehen“?
Wir haben beide von unserem Zweikampf profitiert, die Menschen erinnern sich bis heute daran. Im offiziellen Olympiafilm (16 Days of Glory, Anm. d. Red.) von 1984 nimmt der Zehnkampf fast ein Viertel der Spieldauer ein. Aber in den ersten Jahren gab es keinen privaten Austausch, wir haben uns erstmals 1986 privat getroffen.
Auf wessen Initiative?
Ich habe ihn gefragt, ob wir das Kriegsbeil nicht begraben wollen. Letztlich saßen wir doch in einem Boot und es war klar, dass Zeiten kommen würden, in denen wir voneinander profitieren könnten. Und mir fiel auf: Außerhalb des Wettkampfs war er ein sehr netter, kollegialer Typ – und ist es bis heute.
Die Erwartungshaltung der deutschen Medien an Sie hing auch damit zusammen, dass Sie ein öffentliches Leben führten. „Hollywood-Hingsen“ war ein Leichtathletik-Popstar.
Der Spitzname stammte von Daley. Er wollte sagen, ich sei in der Traumfabrik besser aufgehoben, als im Sport. Aber natürlich war ich extrovertierter als manche Kollegen. Zehnkampf wurde in den Medien in Deutschland und auch weltweit eher stiefmütterlich behandelt, deshalb suchte ich nach Möglichkeiten, die Sportart nach vorne zu bringen.
Wer hat Sie da beraten?
Das habe ich selbst gemacht.
Sie hatten keinen Manager?
Das gab es damals in der Leichtathletik nicht. Bis 1982 waren wir reine Amateure. Ich bekam von der Deutschen Sporthilfe als Weltrekordler 1000 Mark monatlich. Erst später konnte ich eigene Sponsorenverträge abschließen, um z.B. Trainingslager in Kalifornien zu finanzieren, die damals 20 000 Mark kosteten. Als Sportler von Bayer Uerdingen war ich auch nicht so gut gestellt, wie die Kollegen bei Bayer Leverkusen: Ulrike Nasse-Meyfarth und Dietmar Mögenburg bekamen dort das Zehnfache, was ich in Uerdingen erhielt.
Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.
Als ich mit 18 Jahren einen Deutschen Jugendrekord aufgestellt hatte, bekam ich vom Verein einen gebrauchten Opel Kadett für 2000 Mark. Bis dahin war ich von Duisburg stets mit dem Mokick über die Rheinbrücke zum Training nach Krefeld gefahren. Zu dieser Zeit wechselte man noch den Verein, weil es woanders fünf Steaks die Woche und ein neues Paar Turnschuhe gab.
Welche Tricks wandten Sie an, um in die Medien zu kommen?
Was heißt Tricks? Ich habe eben mitgemacht, wenn Sven Simon fragte, ob er meine amerikanische Freundin und mich mal etwas leichter bekleidet fotografieren durfte.
Was sagte Ihr Trainer Norbert Pixken dazu?
Dem wäre es lieber gewesen, ich hätte mich ausschließlich auf den Sport konzentriert.