Jürgen Hingsen ist einer der besten Zehnkämpfer aller Zeiten. Im Interview spricht er über seinen Kollaps bei Olympia 1984, drei Fehlstarts in Seoul und die elfte Disziplin: Sex.
Jeder Sport ist großer Sport. Nicht nur Fußball. Aus diesem Grund haben wir bei 11FREUNDE ein neues Magazin entwickelt, das sich auch mit allen anderen Sportarten beschäftigt. Für die erste Ausgabe von „NoSports“ trafen wir Jürgen Hingsen, einen der besten Zehnkämpfer aller Zeiten.
Jürgen Hingsen, bereitet Ihnen Daley Thompson immer noch Alpträume?
Wie kommen Sie denn darauf? Wir sind seit Jahren befreundet, engagieren uns gemeinsam für wohltätige Zwecke und an meinem 50. Geburtstag habe ich ihn nach Mauritius eingeladen – und er ist auch gekommen.
Ihre Rivalität hielt in den achtziger Jahren die Leichtathletik-Welt in Atem.
Als beste Zehnkämpfer der Welt konnten sich die Medien an uns abarbeiten: Wenn wir aufeinandertrafen, war das nicht nur Thompson gegen Hingsen, sondern Deutschland gegen England, schwarz gegen weiß, der Londoner Junge aus der Arbeiterklasse gegen „Hollywood-Hingsen“.
In den Jahren 1982 bis ‘84 verbesserten Sie drei Mal in Folge den Weltrekord. Dennoch gelang es Ihnen im direkten Vergleich nie, den Briten zu besiegen, der Sie öffentlich gern provozierte.
Daley war mit allen Wassern gewaschen. Bei Wettkämpfen foppte er mich mit extrovertierten Freudentänzen oder indem er Sprüche raushaute, die die Presse gerne aufnahm.
Zum Beispiel vor Olympia 1984: „Wenn Hingsen Gold will, soll er entweder in eine Mine gehen oder die Disziplin wechseln.“
(Lacht.) Das ist Daley, wie er leibt und lebt. Damals dachte ich: Ich werde dir meine Antwort sportlich geben. Heute weiß ich, dass es mich unterbewusst doch beeinträchtigt hat.
Haben Sie ihm nie mal die Meinung gegeigt?
So ein Typ war ich nicht. Die direkte Konfrontation war ich nicht gewohnt, ich war eher auf Strahlemann gepolt. Er hat mir seine Spitzen auch nie direkt ins Gesicht gesagt.
Aber ein Hochleistungssportler muss sich doch durchsetzen.
Ja, auf Wettbewerbsebene, aber Daley hat es auf die persönliche Ebene runtergebrochen. Damit konnte ich schwer umgehen. Sein damaliger Trainer hat mir mal gesagt: „Daley stammt aus armen Verhältnissen, seine Eltern lebten mit den fünf Kindern in einem Zimmer. Er musste sich gegen viele Widerstände behaupten, mit allem, was der Straßenkampf mit sich bringt.“
Wie müssen wir uns das im Zehnkampf vorstellen?
Da kam es kurz vorm Start vor, dass er meine Anlaufmarke verschob oder nach einem guten Wurf herausfordernd mit dem Finger auf mich zeigte: „Der war für Dich!“ Er wusste, wie er mich aus dem Konzept bringt. Bei der WM in Helsinki 1983 gab mir mein Trainer von der Tribüne einen versteckten Hinweis, weil ich wegen des Regenwetters nicht in meinen Anlauf fand. Solche Tricks waren normal, offiziell aber war das Coachen im Wettkampf verboten. Daley bekam es mit, ging zum Kampfrichter, zeigte mich an und ich bekam die Gelbe Karte. Aber es gibt kein vertun: Er hat immer Leistung abgeliefert und war ein extrem guter Wettkämpfer.
Ein besserer als Sie?
Zumindest habe ich mich, wenn er dabei war, stets mit Silber begnügen müssen. In kritischen Situationen war er mental wahnsinnig stark. Und ehrgeizig! Als wir Jahre später mal einen Dreh hatten, bei dem wir gegeneinander Tennis spielten, besorgte er sich vorher den Profitrainer, Bob Brett, nur um mich auch in dieser Disziplin zu schlagen.
Zum großen Showdown kam es bei Olympia 1984 in Los Angeles.
Ich hatte gerade einen neuen Weltrekord aufgestellt, die Erwartungshaltung in Deutschland war enorm.
Sie waren auf Goldkurs, aber bei der achten Disziplin, dem Stabhochsprung, kamen Sie nicht über die Anfangshöhe von 4,50 Meter hinaus.
Mitten im Wettkampf versagte mir der Kreislauf, mir wurde schwarz vor Augen und ich musste mich in den Katakomben übergeben. In der Arena waren es über die 40 Grad, meine Eltern konnten auf der Tribüne nicht sitzen, so glutheiß waren die Plätze. Bei meiner Körpergröße von über zwei Metern ist es unter solchen Bedingungen schwer, weil die Verdunstung so enorm ist. Dann bekam ich eine Spritze ins Knie, weil ich mich beim Hochsprung an der Patellasehne verletzt hatte. Das wirkte sich auf meinen Kreislauf aus und ich verlor meine Koordination beim Stabhochsprung. Nur mit Mühe schaffte ich die Anfangshöhe, sonst wäre ich ausgeschieden.
Fortan hieß es, Sie wären Daley Thompson nervlich nicht gewachsen. Sie haben angefangen, mit einem Mentaltrainer zu arbeiten.
Das hatte weniger mit Daley zu tun, als mit den hohen Erwartungen, die mir zu schaffen machten. Ich habe versucht, über autogenes Training und sogenanntes „Trance“ Blockaden abzubauen.
Blockaden?
Ich ging teilweise übermotiviert in die Wettkämpfe, was sich gerade bei koordinatorischen Disziplinen negativ auswirkte. Ich blockierte speziell beim Stabhochsprung. Was 1984 passierte, war ein Schockerlebnis, das mich immer wieder einholte. Aber natürlich musste ich auch zusehen, die Berührungsängste mit Daley in den Griff zu bekommen.