Sylvan Richardson spielte Gitarre bei Simply Red. Kurz vor dem absoluten Durchbruch der Band stieg er aus, das Popgeschäft kam ihm wie ein Gefängnis vor. Heute ist er Masseur beim Liverpool FC und glücklicher als je zuvor. Für das neue 11FREUNDE-Spezial „Fußball+Pop“ haben wir ihn besucht.
Dieser Text stammt aus dem 11FREUNDE-Spezial „Fußball+Pop“, das überall im Handel erhältlich ist
Sylvan Richardson ist Geld durch die Lappen gegangen. Man muss das so salopp sagen. Viel Geld. Millionen. Er hätte genug für ein Leben verdienen können, nicht mehr einem regulären Job nachgehen müssen, sich nicht mehr um die monatliche Miete sorgen müssen. Wenn, ja wenn er vor 26 Jahren nicht ausgestiegen wäre. Aus Simply Red, einer Band kurz vor dem weltweiten Durchbruch. Und aus der großen, pulsierenden Maschine des Musikgeschäfts. Richardson streicht über sein Trainingsshirt, er lächelt. „Wenn ich damals dabeigeblieben wäre, dann würde mir heute vielleicht der Liverpool FC gehören.“ Doch Sylvan Richardson ist heute nicht der Besitzer des Liverpool FC, sondern dessen Masseur.
Im Trainingszentrum in Melwood reicht ihm der Fotograf eine Gitarre. Richardson nimmt sie entgegen, er wendet sie mehrmals, als begutachte er einen Diamanten. Er entdeckt Staub, seine sehnigen Hände wischen über den Korpus, er hält das Instrument nahe vor sich und pustet die Flusen weg. Dann fährt er mit den Fingerkuppen die Saiten entlang. „Du musst auf dein Baby besser aufpassen“, sagt er zum Fotografen. Er spaßt mit den Jungprofis, die in ihren Adiletten vorbeischlurfen. Er lächelt, die Grübchen spannen sich die Wangen entlang. Richardson wirkt fit genug, um mit ihnen auf den Trainingsplatz zu laufen. Tatsächlich ist er in diesem Jahr 48 geworden. „Ich bin ein ausgewachsener Bursche, aber ich werde jeden Tag jünger.“ Und dann: „Ich bin glücklicher als jemals zuvor.“
Er kennt sie. Diesen speziellen Forrest-Gump-Momente
Sylvan Richardsons Definiton von Glück unterscheidet sich von der vieler anderer Menschen. Wie auch seine ganze Biografie etwas anders ist. „Das war so nicht geplant“, sagt er immer wieder. Gleichwohl entstand aus all seinen besonderen Leidenschaften und Interessen stets eine außergewöhnliche Geschichte, ohne dass Richardson es darauf angelegt hätte. An vielen Stellen seines Lebens treten sie auf, diese speziellen Forrest-Gump-Momente. Richardson läuft nicht so tumb und so schnell wie der von Tom Hanks im Film dargestellte Naivling durchs Leben, wohl aber so offen und unvoreingenommen. Forrest Gump wird auf diese Art zum Shrimpsfischer, zum Tischtennishelden und Marathonläufer. Sylvan Richardson tourte als Gitarrist um die Welt, holte den Schwarzen Gürtel in Martial Arts, bereitete die britischen Radfahrer auf ihren Olympiasieg vor, hat einen Abschluss in Medizin. Und ist jetzt Masseur beim Liverpool FC. „Weißt du“, sagt er und spricht in bedächtigem Tonfall weiter, „ich verschwende keine Zeit. Wenn ich etwas mache, dann lebe ich dafür.“
Als Kind interessierte er sich für klassische Musik. Vivaldi, Bach. Maurice Ravel und Gustav Mahler. Er sagt sie auf wie andere Menschen Fußballaufstellungen. Igor Fjodorowitsch Strawinski, Arnold Schönberg. Seine Klassenkameraden in der Grundschule verstanden das nicht. Wenn er nach Hause kam, spielte sein Vater Platten von Miles Davis. Abends lief also Jazz im Hause Richardson. Tagsüber Popscheiben. Das Mädchen, das sich um die Kinder kümmerte, während die Eltern arbeiteten, legte sie auf. Beatles, Faces, solche Sachen. Richardson besuchte in seinen Teenagerjahren an den Wochenenden eine Musikschule. Es war ein hartes Brot, die Schüler hatten Theorieunterricht, lernten, Musik zu lesen. Es ging um Musik von seiner technischen, intellektuellen Seite. Richardson langweilte diese klinische Herangehensweise, er probierte verschiedene Instrumente aus. „Dann so mit 18 machte es klick. Ich war damals Studiomusiker und plötzlich machte alles Sinn. Die klassische Musik, dieses Notenlernen, all die Einflüsse konnte ich nun verbinden.“
In der Woche von Richardsons Band-Beitritt schoss die erste Single durch die Decke
Doch obwohl er in vielen Klubs spielte, war er sich noch nicht sicher, was aus ihm werden sollte. Er mochte neben der Musik noch den Martial-Arts-Kampfsport und die Malerei. Mit Musik, so sagten seine Eltern, könne man sowieso kein Geld verdienen. Richardson war gerade 20, da rief ihn Fritz McIntyre an, ein Keyboarder, mit dem er im Jahr zuvor musiziert hatte. „Willst du Gitarrist von Simply Red werden?“, fragte der ihn. Das hörte sich für Richardson nicht schlecht an, die Gruppe war noch ziemlich unbekannt, hatte aber enormes Potential. Nach einem Vorspielen war er in der Band. Sein Glück war, dass der vorherige Gitarrist nach der Aufnahme von nur einem Song hingeschmissen hatte. Und sein Glück war, dass Simply Red gerade einen Vertrag von der Plattenfirma Elektra bekommen hatte. Und schließlich war sein Glück, dass in der Woche seines Beitritts die erste Single der Band herauskam: „Money’s Too Tight to Mention“. Sie schoss direkt in die Charts.
„Von da an war es wie ein außer Kontrolle geratener Zug. Es ging alles ganz schnell. Vielleicht zu schnell – für mich.“ Die ersten beiden Alben erreichten Platz zwei der UK-Charts, die Single „Holding Back the Years“ wurde Nummer eins in den Vereinigten Staaten. Sie waren das next big thing. Simply Red tourten um die Welt, Interviews und TV-Shows reihten sich aneinander. Das Gesicht der Band war der Sänger Mick Hucknall, ein charismatischer Typ mit roten Locken. Es gibt ein Video der Band aus dem Jahr 1986 bei einem Liveauftritt in Montreaux. Hucknall trägt ein gestreiftes Hemd, die oberen Knöpfe geöffnet, er springt erratisch umher. Die ganze Bühne wabert, die Backgroundsänger schwingen hin und her, sie tanzen, Saxofonist Ian Kirkham zelebriert ein langes Solo. Es ist eine wilde Achtzigerparty. Etwa einen Meter hinter dem Mikrofonständer von Hucknall steht ein junger Mann mit weißem Hemd und bewegt sich die ganze Zeit nicht vom Fleck. Er wippt nicht mal, er spielt nur Gitarre.
„Das Management kam ständig zu mir, sagte, ich solle tanzen, mich bewegen. Ich antwortete ihnen: Ich bin Musiker, kein Tänzer.“ Richardson schaut ernst, wenn er davon erzählt. Dabei gehörten die Liveauftritte für ihn zu dieser Zeit noch zu den schönen Seiten seines neuen Lebens. All die PR-Termine, die Interviews, das Showgeschäft – es schnürte ihm die Kehle zu. „Es ging nicht mehr um Musik, sondern um Verkäufe. PR, Kommerz. Unaufhörlich das Gleiche, die gleichen Interviews, die gleichen Lieder. Ich fühlte mich schlecht, wie gefangen.“
Sänger Mick Hucknall hat nach eigener Aussage in dieser Zeit massenhaft Frauen flachgelegt. Täglich drei, sagte er. Richardson war damals bekennender Christ – kein Alkohol, keine Affären. Wenn die anderen Bandmitglieder sich backstage die Kante gaben, besuchte er Konzerte in kleinen Jazzclubs. Im Tourbus las er ein Biologiebuch, weil ihn schon immer die Anatomie des Menschen interessiert hatte. „Vielleicht war ich zu jung, zu naiv. Aber ich hatte auf das ganze Geschäft keine Lust. Die anderen scharrten sich um Mick, diese Spielchen waren mir zu blöd.“ 1987 in Rotterdam, am Ende einer Europatournee, fasste er den Entschluss, die Band zu verlassen. Seine Eltern verstanden kein Wort und legten ihm nahe, doch bitte noch ein paar Jahre dran zu hängen. Sie hatten gemerkt, dass mit Musik eben doch Geld zu verdienen war.
„Klar, meine Eltern waren nicht sehr glücklich.“ Richardson lacht. „Nicht sehr glücklich“, wiederholt er. „Sie sahen die Chance …“ Er sucht nach einem Wort. „… finanziell auszusorgen.“ Er legt die Finger auf die Brust. „Ich hab sie verstanden, aber zu der Zeit war ich gerade dabei, innerlich zu sterben.“
„Stadionkonzerte – das ist zu abstrakt, nur ein Happening, ein Spektakel“
Simply Red ging in den nächsten zwei Jahren durch die Decke, ihr Album „Stars“ wurde 1991 das bestverkaufte in Europa und UK. Sylvan Richardson nahm sich eine Wohnung in New York und studierte Komposition. Als seine ehemaligen Bandkollegen auf Tour kamen, besuchte er sie hinter der Bühne. „Das war nett, aber danach war ich froh, wieder zu Hause zu sein. Ich nahm mir ein Buch über ein Streichquartett und fing an zu lesen.“ Statt ein behütetes Popstarleben mit Charterflügen, Housesitter und Limousinen zu führen, musste er sich nun um alles selbst kümmern, Bustickets, Einkäufe, die Miete. Statt Konzerte in großen Stadien vor abertausenden Fans zu geben, spielte er in kleinen Clubs. „Das würde ich immer vorziehen. Du spürst die Atmosphäre, siehst in die Gesichter der Leute, der Sound ist klar. Stadionkonzerte – das ist zu abstrakt, nur ein Happening, ein Spektakel.“
Richardson sagt wieder eine Mannschaftsaufstellung auf: eine Liste all der talentierten Musiker, mit denen er in den New Yorker Clubs spielte. Jim Beard, Kenwood Dennard, Mike Stern. Echte Virtuosen. Es lässt sich erahnen, was das für Auftritte gewesen sein müssen. In einem Video aus dem Jahr 2007 sitzt Richardson als Teil eines Trios in einer dunklen Bar und spielt drauf los: Ein Jazz-Lick, seine Finger wandern rauf und runter, die Leute applaudieren, raunen vor Bewunderung, dann wird es wie ein Funk-Stück. „Sylvan Richardson am Bass“, ruft der Sänger. Die Menge jubelt. Am Bass wohlgemerkt, nicht an der Gitarre. Er spielt außerdem noch Drums, Piano und Cello.
Statt der Instrumente nahm er immer öfter seine Anatomie-Bücher in die Hand
Anfang der neunziger Jahre beendete er seine Selbstfindungsreise durch New York und kehrte ins heimische Manchester zurück. Und wie es so ist in dieser Geschichte des Sylvan Richardson, befand sich gegenüber seiner neuen Wohnung eine Squashhalle, die seinen weiteren Lebensweg beeinflussen sollte. Er fand Squash interessant, also ging er hin, trat dem „Northern Squash Club“ bei, fing an zu spielen, wurde sogar Trainer. Und er behandelte die Mitspieler, wenn sie sich unwohl fühlten oder verletzt waren. Durch seine Zeit im Kampfsport und sein langjähriges Interesse an der menschlichen Anatomie kannte er sich gut aus mit Muskeln und Nerven. Er besuchte einige Kurse über ganzheitliche Medizin und wurde wenig später zum Masseur des Klubs ernannt. „Und ehe ich mich versah, war ich auf der Squash-Tour.“ Der Squashklub in Manchester ist renommiert, nicht zuletzt, weil er viele Nationalspieler in seinen Reihen hat. Immer wenn diese zum „National Institute of Sports“ fuhren, einer Art Rehazentrum für die britische Sportelite, erzählten sie von Richardsons heilenden Händen. Der Chef-Physiotherapeut war bald überzeugt, also sagte er: „Okay, holen wir ihn hierher.“
Wieder ging alles sehr schnell. „Noch mal, das war alles nicht so geplant. Ich habe gemacht, was ich gemacht habe. Medizin wurde einfach wichtiger als Musik.“ Immerhin spielte er noch mit Ian Brown und arbeitete mit der Girl-Group Cleopatra, die 1998 mit ihrer Debütsingle Platz drei der britischen Charts erreichte. Aber statt der Instrumente nahm er immer öfter seine Anatomie-Bücher in die Hand, schloss ein Grundstudium der Medizin ab. Und machte weiter von sich reden.
„Fußballer sind nicht anders als Popstars. Die Welt dreht sich nur um sie, alles wird arrangiert“
Am Institut traf er in den Nullerjahren auf den Bahnradfahrer Sir Chris Hoy, seines Zeichens Olympiasieger, Großbritanniens Sportler des Jahres und bereits von der Queen zum Ritter geschlagen. Hoy und Richardson verstanden sich gut, also vermittelte Hoy ihn an die anderen britischen Radfahrer wie Jason Kenny, Bradley Wiggins, Philip Hindes. Richardson bereitete sie alle auf die Olympischen Spiele 2012 in London vor, wo sie insgesamt acht Goldmedaillen holten, Rekorde brachen und das ganze Königreich mitrissen. Allein als Hoy siegte, hingen zehn Millionen Briten vor dem Fernseher. Einer von ihnen war Richardson, der zu dieser Zeit die Athleten der Paralympics betreute. „Es war Wahnsinn. Es war schön, ein Teil von dieser wahnsinnigen Sache zu sein.“ Richardson macht große Augen. „Ich meine, irgendwie toll, Menschen im Fernsehen zu sehen, mit denen man zusammenarbeitet.“
Bereits 2009 wurde der Liverpool FC auf ihn aufmerksam. Die Verantwortlichen hatten seine Arbeit mit den Radfahrern genau verfolgt. „Ich wurde damals mehr oder weniger abgeworben. Als ich den Anruf bekam, habe ich natürlich sofort zugesagt.“ Als Kind hatte er die Spiele von Manchester City besucht, die großen Francis Lee oder Mike Summerbee spielen gesehen. Doch nach all den Jahren auf Tour mit Simply Red oder dem Squash-Team mangelte es ihm an Fußballkenntnissen. Am ersten Tag in der Kabine kannte er nur Steven Gerrard, sonst keinen anderen Spieler. Die Situation eines Fußballprofis bei den Reds allerdings konnte er durch sein Leben mit Simply Red nachempfinden. „Fußballer sind da nicht anders als Popstars. Die Welt dreht sich nur um sie, alles wird arrangiert, vom Essen bis zur Unterkunft. Ich glaube, dass das einen Menschen verändert. Ob er will oder nicht.“
Er macht seinen Job. Im Hintergrund. Egal, ob für Mick Hucknall, Chris Hoy oder Steven Gerrard
Richardson kümmert sich um die Gelenke und Muskeln der Stars. Dann schaut er aus den Katakomben zu, wie ihnen tausende Fans zujubeln. Es macht seinen Job. Im Hintergrund – egal ob von Mick Hucknall, Chris Hoy oder Steven Gerrard.
Richardson räumt feinsäuberlich alle Salben in die entsprechend gekennzeichneten Regale. Er rückt das Kopfkissen auf der Massagebank zurecht. Statt eines Proberaums oder einer Bühne ist dieser Massageraum sein Kosmos. Seine eigene Gitarre hat er seit zwei Jahren nicht mehr angefasst. Aus einem einfachen Grund: „In der Musik habe ich alles schon erlebt.“
Bleibt die Frage, ob er seinen Ausstieg je bereut hat. „Nein“, sagt er und schaut zum Fenster. „Nein, warte, das wäre gelogen. Einzig und allein“, er hebt den Zeigefinger und wiederholt es zweimal. „Einzig und allein … einzig und allein vom finanziellen Gesichtspunkt her. Ich hätte Millionen gemacht, klar. Aber vom künstlerischen, emotionalen und seelischen Gesichtspunkt bereue ich den Schritt kein Stück. Nicht ein bisschen.“ Richardson muss los. Am nächsten Tag eröffnet er zusammen mit seiner Frau eine Klinik für ganzheitliche Medizin. Er hat viel zu tun.