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Hein­rich Schneider hätte seine Geschichte schon früher erzählt, es hat ihn bloß nie­mand danach gefragt. Der große Fuß­ball ist für ihn außer Reich­weite. Manchmal geht er ins Olym­pia­sta­dion, Hertha gucken, ansonsten bleibt ihm nur das Fern­sehen. Jedes Spiel schaut er sich an, so fern es ihm seine Zeit erlaubt. Bun­des­liga, U‑20-Län­der­spiele, Cham­pions League sowieso. Hein­rich Schneider hat selbst lange Fuß­ball gespielt, in seinem Hei­matort Pir­ma­sens, in den sech­ziger Jahren. Seit 1994 ist er in Berlin als Schieds­richter aktiv. Mit 42 hat er ange­fangen. Das ist spät, aber nicht zu spät.

Schnell ist er auf­ge­stiegen, bis in die Lan­des­liga, trotz seines Alters. Inzwi­schen pfeift er in der Kreis­liga A, in der Frauen-Ver­bands­liga und in den Jugend­klassen. Hein­rich Schneider kennt sich aus in der Tief­ebene des Fuß­balls. Es gibt keine Kameras, keine Reporter und keine VIP-Tri­bünen mit Ehren­gästen. Die ver­misse ich auch nicht“, sagt Hein­rich Schneider. Er ver­misst die Polizei und die Sicher­heits­kräfte. Denn manchmal hat er sie bitter nötig.

Für mich ist jedes Spiel Erho­lung“

Fuß­ball soll Spaß bringen, vor allem an der Basis, das sagen sich in Deutsch­land mehr als 75000 Schieds­richter, 1400 allein in Berlin. Für mich ist jedes Spiel Erho­lung.“ Hein­rich Schneider grinst, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Erho­lung? Klingt gut, doch mit jeder Erin­ne­rung, die er zum Besten gibt, driftet diese Beschrei­bung weiter ins Absurde ab. Wie kann die Angst um die eigene Gesund­heit erholsam sein? Es ist ein­fach so.“ Und dann beginnt er zu erzählen.

Sommer 1997. Hein­rich Schneider hat sich eta­bliert in der Ber­liner Schieds­rich­ter­szene. Ein Spiel in der Kreis­liga führt ihn nach Britz, tief im Süd­osten der Haupt­stadt gelegen. Es ist eine heiß­blü­tige Partie, kurz vor dem Ende kommt es zu einer strit­tigen Situa­tion. Ein tür­ki­scher Spieler des Gast­ge­bers stürmt auf Schneider zu, beide Nasen berühren sich. Der Spieler schreit, ges­ti­ku­liert und ballt seine rechte Hand zu einer Faust. Wild pul­siert seine Hals­schlag­ader: Ich mach’ dich kaputt.“ Dann bückt er sich, greift unter seinen Schien­bein­schoner und zückt ein Messer. Die Spieler der Gast­mann­schaft eilen herbei. Sie bilden eine Mauer und schützen den Schieds­richter.

Assis­tenten an den Sei­ten­li­nien gibt es nicht in der Kreis­liga. Hein­rich Schneider zit­tert, er ist ein schmäch­tiger Mann mit Brille. Er könnte keiner Fliege etwas zur Leide tun. Sein Blick wan­dert durch die spär­li­chen Zuschau­er­reihen. Er ist weit weg von zu Hause, er kennt nie­manden. Was würde pas­sieren, wenn er das Spiel abbre­chen würde, wie es das Regel­werk in diesen Fällen ver­langt? Er kann auf die Ant­wort ver­zichten, die Zuschauer drohen und pöbeln. Er zeigt dem tür­ki­schen Spieler die Rote Karte, fünf Minuten später ist die Begeg­nung zu Ende. Wieder drängt sich die Frage auf: Warum ist der Fuß­ball für ihn Erho­lung?

Ein Jahr ist ver­gangen seit dem Vor­fall in Britz. Hein­rich Schneider hat nichts Gra­vie­rendes erlebt. Es gab wilde Gesten, Mit­tel­finger, Spu­ck­at­ta­cken, Dro­hungen und ras­sis­ti­sche Schmä­hungen gegen­über far­bigen Spie­lern. Aber das ist nichts Neues. Ein Lan­des­li­ga­spiel der A‑Junioren steht in Karls­horst bevor, eigent­lich kein Grund zur Sorge, doch da hat er sich getäuscht. Wieder kommt es zu Tumulten, wieder soll der Schieds­richter Schuld sein. Treten Sie bitte zurück“, sagt Schneider in Rich­tung eines auf­ge­brachten Spie­lers. Der scheint die Sprache nicht zu ver­stehen. Er fackelt nicht lange und streckt den Referee mit der Faust nieder. Hein­rich Schneider rap­pelt sich auf. Zeigt die Rote Karte. Die Partie wird uner­träg­lich. Zwei wei­tere Platz­ver­weise folgen. Nach dem Abpfiff sucht er sich einen Begleit­schutz, zwei Spieler springen ein. Erst als ich in der Bahn saß, habe ich mich wieder sicher gefühlt.“


Rund 80000 Spiele werden an einem Wochen­ende in Deutsch­land ange­pfiffen, die über­wie­gende Mehr­heit endet fried­lich – doch bei weitem nicht alle. Es gibt keine sta­tis­ti­schen Erhe­bungen, aber glaubt man Schieds­rich­tern und Funk­tio­nären, so scheint die Gewalt unter Ama­teur­spie­lern stark gestiegen zu sein. Keine Woche ver­geht ohne Spiel­ab­brüche. Jürgen Böcking, Vor­sit­zender des Fuß­ball­kreises Siegen-Witt­gen­stein, sagte im Oktober 2006 einen ganzen Spieltag ab. Ich bin seit mehr als 20 Jahren Spiel­leiter“, erzählt er. Aber so schlimm war es noch nie.“ Einige Schieds­richter wollten aus Angst nicht mehr pfeifen. Sie waren kran­ken­haus­reif geschlagen und mit Mes­sern bedroht worden: Einem Kol­legen wurde eine Lini­en­richt­er­fahne in den Unter­leib gestoßen.

In Siegen-Witt­gen­stein gingen die Pro­bleme oft­mals von eth­ni­schen Ver­einen aus. Das sind für mich Bei­spiele einer geschei­terten Inte­gra­tion“, meint Jürgen Böcking. Vor einigen Jahren hatte es einen alba­ni­schen Klub in seinem Kreis gegeben, der häufig für Pro­bleme sorgte. Viele Mann­schaften wei­gerten sich, gegen ihn anzu­treten, sie ver­schenkten die Punkte. So ist der Verein in die Bezirks­liga auf­ge­stiegen. Am Bodensee wollte ein Funk­tionär aus Alba­nien seine Mann­schaft auf­lösen, weil die Spieler eine Mas­sen­schlä­gerei pro­vo­ziert hatten. Doch nicht nur die eth­ni­schen Klubs bereiten Jürgen Böcking Sorgen. Gewalt­be­reit­schaft lässt sich nicht an der Her­kunft fest­ma­chen. Sie ist nur auf dem Rasen zu beob­achten, auch in anderen Berei­chen der Gesell­schaft. Die Zahl der Gewalt­vor­fälle an Schulen ist eben­falls gestiegen. 1573 Delikte von Belei­di­gung, Mob­bing bis zu sexu­ellen Über­griffen und gefähr­li­cher Kör­per­ver­let­zung sind im Schul­jahr 2005/06 bei­spiels­weise an Ber­liner Schulen gemeldet worden. Das ist im Ver­gleich zum Vor­jahr eine Zunahme von 76 Pro­zent.

Hein­rich Schneider hat in Berlin oft ans Auf­hören gedacht, durch­ringen konnte er sich nicht. Er brauchte den Fuß­ball als Aus­gleich. Zwölf Stunden arbei­tete er täg­lich als Fahrer eines Ver­sand­han­dels. Acht Kinder hatte er mit seiner Frau groß gezogen. Einmal stand er kurz vor der Auf­gabe, nicht, weil er unbe­dingt wollte, son­dern weil er musste. Hein­rich Schneider hatte seit Wochen Schmerzen in der Brust, er litt unter Atemnot. Im Oktober 2000, im Alter von 48 Jahren, wurde ihm eine künst­liche Herz­klappe ein­ge­setzt. Der Arzt verbot ihm die Stra­pazen eines Schieds­rich­ters, sonst würde er sein Leben aufs Spiel setzen. Er verlor seinen Job als Fahrer, doch den Fuß­ball wollte er nicht ver­lieren.

Dich kriegen wir noch“

Im Kran­ken­haus traf Hein­rich Schneider einen jungen Hand­ball­trainer, er half ihm bei der Reha­bi­li­ta­tion. Schnell erholte er sich, ein halbes Jahr nach der Ope­ra­tion stand er wieder auf dem Spiel­feld. Die Eltern der Nach­wuchs­ki­cker, die so oft wut­schnau­bend auf den Rasen stürmten, die Beschimp­fungen der Spieler, die Schlä­ge­reien auf dem Rasen, das alles war für ihn zweit­rangig geworden, denn er hatte sie wieder – seine Erho­lung. Diese Geschichten schreibt der Fuß­ball auch“, sagt er. Es sind Geschichten, von denen es tau­sende gibt. Sie bleiben im Ver­bor­genen, aber sie sagen mehr aus als die ewig glei­chen Bilder der rosa­roten Bun­des­liga.

Hein­rich Schneider genießt die Spiele inten­siver als früher, er darf inzwi­schen auch zu inter­na­tio­nalen Tur­nieren reisen. Nach Ita­lien, Spa­nien oder Kroa­tien. In der Nähe von Bar­ce­lona pfeift er 2005 ein Halb­fi­nale zwi­schen einem deut­schen und einem rus­si­schen Team. Als unmit­telbar vor dem Abpfiff der Aus­gleich für die Deut­schen fällt, stürzen sich drei rus­si­sche Spieler auf ihn. Mit Mühe kann eine Schlä­gerei ver­hin­dert werden. Dich kriegen wir noch“, brüllen die Kra­wall­ma­cher mit hass­erfüllten Bli­cken. Wieder wird Hein­rich Schneider von jener Macht­lo­sig­keit über­mannt. Zwei Tage ver­steckt er sich im Hotel­zimmer, allein traut er sich nicht auf die Straße. Abends geht er nur in der Gruppe aus, die Spieler könnten ihm schließ­lich auf­lauern und ihre Dro­hungen wahr machen. Hein­rich Schneider ist nicht pro­mi­nent, er hat keine Mil­lionen auf dem Konto. Er arbeitet seit Jahren als Gebäu­de­rei­niger in der Nähe des Alex­an­der­platzes. Nacht für Nacht. Zehn Sunden und länger. Als Schieds­richter erhält er im Schnitt 15 Euro pro Spiel. Brat­wurst, Kaffee und stilles Wasser gehen aufs Haus – und manchmal braucht er eben einen Body­guard.

Bernd Schultz kennt diese Geschichten, er hat sie nicht selbst erlebt, aber zumin­dest davon gehört. Seit 2004 ist er Prä­si­dent des Ber­liner Fuß­ball-Ver­bandes. Er möchte die Lage nicht ver­harm­losen, sagt er, und dann ver­harm­lost er sie doch: Die Spiel­ab­brüche an einem Wochen­ende liegen im Pro­mil­le­be­reich. Drei von 1500 gehen nicht gut aus – höchs­tens.“ Außerdem hätten Ver­bände in anderen Bun­des­län­dern viel grö­ßere Pro­bleme. Die gesell­schaft­li­chen Pro­bleme, die sich in Fan­ge­walt ent­laden, spielen auch fernab des großen Fuß­balls eine wich­tige Rolle. Die Ama­teur­spieler suchen sich ein Ventil für ihren Frust, der sich unter der Woche ange­staut hat. In Metro­polen wie Berlin kommt eine poli­ti­sche Kom­po­nente hinzu. Der Ost-West-Kon­flikt der einst geteilten Stadt wird oft zwi­schen zwei Toren aus­ge­tragen, auch die hohe Anzahl eth­ni­scher Ver­eine birgt Kon­flikt­po­ten­zial. Zudem ver­fügen die klammen Klubs über keine gefes­tigten Struk­turen. Es fehlen die Kon­trollen.

Bernd Schultz hat einen begrenzten Ein­fluss in der Bekämp­fung der Jagd­szenen. Er ist als Ver­wal­tungs­be­amter der Polizei beschäf­tigt, auch seine Ver­bands­kol­legen haben zeit­in­ten­sive Jobs. Alle Pro­bleme in den ins­ge­samt 300 Ber­liner Ver­einen können sie gar nicht kennen. Frag­würdig ist außerdem die Recht­spre­chung des Sport­ge­richts – nicht nur in Berlin. Beim obersten Kon­troll­aus­schuss des DFB in Frank­furt sind Profis am Werk, lang­jäh­rige Richter und Staats­an­wälte, in den unteren Klassen hin­gegen ent­scheiden viel­fach Funk­tio­näre, die keine juris­ti­sche Aus­bil­dung haben. Die Folge ist feh­lende Ver­hält­nis­mä­ßig­keit in man­chen Urteilen. Bernd Schultz will dem auf allen Ebenen ent­gegen wirken. Er hat Fort­bil­dungen für Funk­tio­näre und Schieds­richter ange­ordnet, in seinem Vor­stand soll das tür­ki­sche Mit­glied Mehmet Matur die Sprach­bar­rieren zu eth­ni­schen Klubs abbauen. Den­noch gibt sich Schultz keinen Illu­sionen hin: Wir können nicht alle Brände löschen.“ Er for­dert eine klare Linie. Von allen Betei­ligten. Vor allem von den Schieds­rich­tern.

Wir haben schließ­lich Beruf und Familie“

Wenn das so ein­fach wäre. Hein­rich Schneider hat in Berlin mehr als 1000 Spiele gepfiffen, manchmal vier an einem Wochen­ende. Er ist Schieds­richter, kein Sozi­al­ar­beiter. Er über­legt sich drei Mal, ob er in die Tasche greift. Eine Rote Karte kann fatale Folgen haben“, sagt er. Das Risiko geht nie­mand gern ein. Wir haben schließ­lich Beruf und Familie.“ Ein biss­chen klingt es so, als wäre er jedes Mal über­glück­lich, wenn er das Spiel­feld gesund ver­lässt. In seinem Ber­liner Verein, der VSG Weber­wiese, hatte er fünf Paten­schaften für junge Schieds­richter über­nommen. Er wollte sie nach seinen Vor­stel­lungen aus­bilden und ihnen seine Begeis­te­rung mit auf den Weg geben. Durch­ge­halten haben nur zwei, die anderen suchten den Spaß ver­geb­lich. Hein­rich Schneider war ent­täuscht. Trotzdem konnte er ihre Ent­schei­dungen ver­stehen. Er hätte sie ja um ein Haar selbst getroffen.

Im April 2006 pas­siert es wieder, dieses Mal im Bezirk Fried­richs­hain. Drei Spieler der Gäs­te­mann­schaft aus Mahls­dorf müssen vor­zeitig vom Platz. Aggres­sionen, Dro­hungen, Belei­di­gungen schließen sich an. Ein Zuschauer geht zu weit, es kommt zu einem Wort­ge­fecht zwi­schen ihm und Hein­rich Schneider. Der Schieds­richter ruft die Polizei und erstattet Anzeige. Einem Spieler passt das gar nicht. Er ist groß gewachsen, hat breite Schul­tern und einen rasierten Schädel. Er ver­folgt Hein­rich Schneider bis zur U‑Bahn. Der Waggon ist über­füllt. Sie sitzen sich gegen­über, der Spieler setzt ein fieses Grinsen auf und sagt: Das hät­test du nicht gedacht, oder?“ Schneider weiß nicht, wie er reagieren soll. Sein Körper zit­tert. Er bleibt eine Weile sitzen, dann steigt er um und fährt in die andere Rich­tung. Dieses Ver­wirr­spiel geht über eine Stunde. End­lich gibt der Spieler auf. Er ver­lässt die Bahn und schickt Schneider einen letzten Gruß: Dich krieg’ ich noch!“

Ist das tat­säch­lich die Erho­lung, die sich Hein­rich Schneider von seinem Alltag wünscht? Sie können es auch Aben­teuer nennen“, sagt er schaut auf seine Uhr. Es ist nach 21 Uhr, Hein­rich Schneider kommt zu spät zur Arbeit. Er muss drei Etagen eines Büro­hauses rei­nigen. Seine Frau und er haben sich vor einer Weile getrennt. Er fühlt sich oft einsam in seiner Woh­nung in Lich­ten­berg, im Osten von Berlin. Meis­tens schaut er dann auf seine Aus­zeich­nungen als Schieds­richter. Er zählt die Tage bis zum Wochen­ende und freut sich auf das nächste Spiel. Auf seine Erho­lung.

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Der Text stammt aus Ronny Blaschkes Buch Im Schatten des Spiels – Ras­sismus und Ran­dale im Fuß­ball“ Verlag Die Werk­statt, 16.90 Euro www​.werk​statt​-verlag​.de