Für einige Fans und Journalisten war es tatsächlich ein Kuriosum. Unser Trainer Horst Buhtz hatte den BVB nach Jahren des Leidens immerhin wieder an die Tür zur Bundesliga geführt und wurde dann, wenige Tage vor den Relegationsspielen gegen den 1. FC Nürnberg, geschasst. Doch ganz ehrlich, der Verein hatte gar keine andere Wahl, und auch wir Spieler begrüßten die Entlassung, denn Buhtz, das war zu dem Zeitpunkt schon klar, würde in der kommenden Saison den „Club“ trainieren. Und ich bin mir sicher: Es wäre auch für ihn eine groteske Situation an der Linie gewesen.
Also verpflichteten die BVB-Verantwortlichen über Nacht Otto Rehhagel, einen Motivator vor dem Herrn. Er bereitete uns optimal auf die Partien vor. Und es waren wirklich umkämpfte Spiele. In Nürnberg siegten wir mit 1:0 – zugegebenermaßen etwas glücklich, denn die Franken stürmten fast 90 Minuten auf unser Tor. Im Rückspiel stand es kurz vor Ende 2:2 und das Spiel auf der Kippe. Nürnberg drückte mit Mann und Maus. Eine Situation in der 88. Minute war besonders brenzlig: Der „Club“ schlug eine Ecke, der Ball schoss scharf in den Sechzehner hinein – und ich? Ich erstarrte. Aus unerfindlichen Gründen. Doch schon im gleichen Augenblick wurde ich aufgeschreckt, denn aus dem Hintergrund sauste Hans Walitza heran. Ich dachte noch: „Wo kommt der denn auf einmal her?“ Ich sah schon die Niederlage. Und das alles meinetwegen. Noch heute könnte ich Mirko Votava herzen, der herbei flog und den Ball aus der Gefahrenzone köpfte.
„Kannst ruhig auch mal angreifen!“
Im Gegenzug spielten wir den Konter meines Lebens. Dazu muss ich sagen: Ich war damals zwar Abwehrspieler, doch ging gerne mit nach vorne. In jener Saison schoss ich zehn Tore – ein sehr guter Wert für eine Defensivkraft. Mir kam damals auch die Taktik der Trainer zugute. Buhtz hatte immer wieder zu mir gesagt: „Lothar, kannst ruhig auch mal angreifen, da wird schon jemand sein, der dir den Rücken frei hält.“
Wir waren also in Ballbesitz, 21 Spieler in unserer Hälfte, die Nürnberger lauerten auf einen letzten Fehler, auf die große letzte Chance. Ich sah die Erschöpfung in all den Gesichtern, einzig Zoltan Varga wartete kurz vor der Mittellinie. Auch ich war kaputt, ächzte über den Platz, noch leicht geschockt von der vorherigen Nürnberger Großchance. Doch der Anblick des scheinbar immer noch fidelen Varga gab mir neue Energie: „Reiß dich zusammen“, sagte ich zu mir und sprintete über den Platz, bestimmt 50 oder 60 Meter. Varga führte inzwischen den Ball, dann sah er mich, passte und ich schob aus 16 Metern ein. Mit meinem linken Fuß wohlgemerkt! Den habe ich noch heute nur, damit ich nicht umfalle.
Ich humpelte in Unterbüx in die Kabine
Danach brachen alle Dämme. Zuvor hatte ich mich noch gewundert, warum sich meine Mitspieler in den letzten Spielsekunden kollektiv in der Nähe des Kabinentunnels aufgehalten hatten. Nun, als der Abpfiff ertönte, wusste ich wieso: Die Jungs stürmten in die Katakomben, die Fans über die Zäune auf den Rasen. Dumm, dass ich auf der anderen Seite stand. Keine Chance zur Flucht. Innerhalb weniger Sekunden rissen mir die Fans Trikot, Hose, Schuhe und Stutzen vom Leib. Und so humpelte ich in Unterbüx, doch mit einem Lächeln, in die Kabine. Das Gegröle in der Kabine höre ich heute noch.
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SPIELINFOS
Relegation, 23.06.1976
Borussia Dortmund – 1. FC Nürnberg 3:2 (Hinspiel 1:0)
1:0 Peter Geyer (23.)
1:1 Rudolf Sturz (60.)
2:1 Hans-Werner Hartl (74.)
2:2 Hans Walitza (79.)
3:2 Lothar Huber (89.)