Zum Tag der Freude: Nationalspieler Robin Gosens über die schönste Fete seiner Karriere.
Der folgende Text erschien erstmals in 11FREUNDE #222 im April 2020. Für die Ausgabe haben wir mit Spielern, Trainern und anderen Akteuren über die Kraft des Fußballs. Über besondere Momente, große Siege, grandiose Feiern. Das Heft gibt es bei uns im Shop. Hier erzählt Robin Gosens über seine ersten Auftritte in der Champions League, eine unvergessliche Party – und über die furchtbaren Ereignisse im Zuge der Corona-Pandemie. Mittlerweile hat sich die Lage in Bergamo entspannt. Doch von den Folgen sind noch immer viele Menschen in der Stadt betroffen. Gosens Teamkollege Josip Illicic verzichtete beispielsweise später im Jahr 2020 darauf, mit Bergamo am Champions-League-Turnier teilzunehmen – weil ihn die Ereignisse im Frühjahr noch immer psychisch stark belasteten.
Wir flogen über die Ukraine hinweg und machten Randale. Wir sangen, tanzten und sprangen wie verrückt durch die Chartermaschine, zeitweise so doll, dass es sich anfühlte, als seien wir in Turbulenzen geraten. Alle waren dabei: Die Männer, die vor wenigen Augenblicken noch gegen Donezk auf dem Platz gestanden und das wichtigste Spiel der Vereinsgeschichte gewonnen hatten. Die Ersatzspieler, das Trainerteam, die Betreuer. Die Jungs aus der U19, die ebenfalls gegen Schachtar in der Youth League im Einsatz gewesen waren. Einfach alle, die gesamte Atalanta-Familie.
Und alle machten wie wild Party – dabei waren wir nicht mal betrunken. Angestoßen hatten wir zwar kurz, aber auch nur, weil ein geistesgegenwärtiger Teamkollege von mir am Flughafen noch auf den letzten Drücker eine Flasche Whiskey besorgt hatte. Doch weder der Rest von uns noch die Crew im Flieger waren auf diese Feier vorbereitet. Wie denn auch? Wer hätte denn gedacht, dass wir trotz drei Niederlagen zum Start noch das Achtelfinale der Champions League erreichen würden? Wer hätte nach dem 0:4 am ersten Spieltag gegen Zagreb noch einen Pfifferling auf uns gesetzt? Auf die No-Name-Truppe von Atalanta Bergamo? Eben. Außerdem bin ich ganz ehrlich: Ich habe in meiner Jugend viel gefeiert, aber in dieser Nacht, nach diesem Spiel, da brauchte ich keinen einzigen Tropfen Alkohol. Ich tickte von ganz alleine aus, im besten Sinne. Totale Ekstase. Bei allen.
Der Flug und diese magische Nacht, die noch viel besser werden sollte, sind erst ein paar Monate her. Und doch fühlt es sich an, als sei das alles in einer anderen Zeit passiert. Bergamo ist leergefegt. Ich wohne mitten in der Innenstadt, aber alles was ich höre, sind die Sirenen der Krankenwagen und die über die Stadt hinwegfliegenden Hubschrauber. Bilder von Militärjeeps, die nachts mit den Särgen der Verstorbenen die Stadt verlassen, gehen um Welt. Ich schaue Nachrichten und sehe Horrormeldungen. Dann denke ich kurz nach und begreife: Das alles passiert hier bei mir in der Nachbarschaft, in diesen Stunden. Es ist surreal. Corona hat Bergamo fest im Griff. Jeder italienische Freund, den ich habe, ist von der Krise betroffen. Freunde von Freunden sterben, Verwandte von Freunden sterben. Gegen das Leid, das die Menschen hier ertragen müssen, ist meine eigene Situation harmlos. Häusliche Quarantäne macht zwar keinen Spaß, die Pille am Fuß fehlt mir unendlich und nicht mal mit dem Hund eine Runde drehen zu dürfen ist sogar ziemlich ätzend – aber ich bin gesund, habe meine Freundin bei mir, wir können puzzeln und Netflix gucken und haben keine Existenzsorgen.
„Ist mir das wirklich passiert?“
Ich liebe diese Stadt. Und diese Stadt liebt Atalanta. Hätte mir vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass ich mal in der Serie A spielen würde, dass mich fremde Menschen auf der Straße umarmen würden, weil sie so stolz auf mich sind, ich hätte es nicht geglaubt. Bis ich 18 Jahre alt war, habe ich in Deutschland auf dem Dorf gekickt. Mein Probetraining beim BVB hatte ich als Jugendlicher in den Sand gesetzt, ein Nachwuchsleistungszentrum habe ich nie von Innen gesehen. Stattdessen habe ich an einer Tanke gejobbt und bin mit meinen Kumpels um die Häuser gezogen. Mein weiterer Weg war eigentlich klar: Ich würde Polizist werden, weiter mit meine Jungs in Rhede zocken und ein gemütliches Leben in Deutschland führen. Doch dann hat mich zufällig ein holländischer Scout entdeckt. Ich bin zu Arnheim gewechselt – und wurde doch noch Profi. Erst zweite Liga in Holland, dann erste Liga in Holland, dann Serie A, dann Champions League: die vergangenen fünf Jahre fühlen sich an wie ein Film. Ist mir das wirklich passiert?
Allein dass wir die Champions League erreicht haben, war für Atalanta historisch. Der dritte Platz vergangene Saison war die beste Platzierung in der 112-jährigen Geschichte des Vereins. Dementsprechend euphorisch gingen wir ins erste Spiel. Um gleich mal einen voll auf die Zwölf zu kriegen. Wir dachten, Dynamo Zagreb sei schlagbar. Doch die Truppe holte uns direkt auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie hatten unser taktisches Konzept entschlüsselt, sie ließen uns richtig Lehrgeld zahlen. 0:4 zum Start. Prost Mahlzeit. Wir schlichen mit hängenden Köpfen vom Platz und dachten nur: Ach du Scheiße. Wie soll das erst gegen Donezk werden? Und was wird Manchester City mit uns veranstalten?