Johnny Rotten, Sänger der Sex Pistols und Public Image Ltd., ist seit den frühen Sechzigern Fan des FC Arsenal. Im Emirates war er aber noch nie.
Johnny Rotten, stimmt es, dass Sie noch nie im Emirates Stadium waren?
Was soll ich da? Du darfst als Fan heutzutage nichts mehr. Nicht rauchen, nicht trinken, nicht schimpfen, du darfst nicht einmal stehen. Das ist doch scheiße.
Der Schriftsteller und Arsenal-Fan Nick Hornby schrieb mal von einem Freund, der früher ein besonderes Ritual bei Rückständen hatte: Er hat sich eine Zigarette angemacht und das Ganze „Tor reinrauchen“ genannt.
Ich hatte so was nie, aber ich kann das gut nachvollziehen. Auf den Tribünen sollst du machen dürfen, was du willst. Auch Dinge, die andere bescheuert finden.
Schauen Sie sich überhaupt noch Arsenal-Spiele an?
Im Fernsehen. Ich lebe ja mittlerweile in Los Angeles und muss jeden Samstagmorgen meinen Kumpel Rambo anrufen, um ihn zu fragen, wann es losgeht. Dann beginnt die Suche nach dem Sender im Satellitenfernsehen.
Los Angeles Galaxy ist keine Alternative?
Soccer? Verdammt, nein! Es heißt Football! Wissen Sie, ich habe sogar noch eine Arsenal-Dauerkarte, aber ich gebe sie an meine Neffen weiter. Wenn ich in England bin, gehe ich zu kleinen Klubs wie Torquay United oder in den Pub und pöbele dort mit den anderen Verrückten rum. Das ist Fußball! 2011 war ich zuletzt bei einem großen Spiel im Stadion. Damals fand im Wembley das League-Cup-Finale zwischen Arsenal und Birmingham statt. Weil ich stand, forderte mich ein Ordner auf, ich solle mich umgehend hinsetzen. Ich sagte: „Guck dir die Birmingham-Fans an, die stehen auch alle.“ Danach verschwand er.
So einfach geht das?
Nun, er kam wenige Minuten später zurück, im Schlepptau ein paar weitere Ordner. Sie drohten, mich aus dem Stadion zu schmeißen, wenn ich mich nicht setzen würde. Ich antwortete: „Ich habe Hämorrhoiden. Wenn Sie mir kein Hämorrhoiden-kompatibles Kissen besorgen, muss ich leider weiter stehen.“ Dann drohte ich ihnen mit einem Anwalt, und schließlich ließen sie mich in Ruhe.
In England wird seit Jahren die Wiedereinführung von Stehplätzen diskutiert. Anscheinend ganz in Ihrem Sinne, oder?
Fußballgucken kann man nicht im Sitzen. Schauen Sie sich doch mal die Dortmunder Südtribüne an, alle stehen, alle schreien, ein Lärm, als wäre die Tribüne der Rachen eines riesigen Monsters. Das ist fantastisch. Wenn du beim Fußball sitzt, hast du nicht mehr das Gefühl, Teil des Geschehens zu sein. Dann ist Fußball wie Tennis. Oder wie eine Mathestunde in der Schule. (Pause.) Das regt mich wirklich auf.
Merkt man.
Das Schlimme an der ganzen Sache ist ja auch: Das Stehplatzverbot in England basiert auf einer Fehlanalyse der Hillsborough-Katastrophe im Jahr 1989. Damals starben 96 Menschen. Schlimm, natürlich. Nur die Schuld wurde damals den Fußballfans gegeben. Eine Untersuchungskommission fand über 20 Jahre später heraus: zu unrecht. Die eigentliche Schuld der Polizei und der Sicherheitskräfte sowie die Hintergründe wurden erfolgreich vertuscht.
Wie war es als Fan im Highbury-Stadion Anfang der Sechziger?
Ich wuchs in der Benwell Road auf. Genau dort, auf unser Haus, haben sie später dieses unsägliche Emirates-Stadion gebaut. Heute ist dort alles supermodern und superschick, damals war es ein hartes Pflaster. Jugendliche und Halbstarke, die durch die Trümmergrundstücke streunten. Es roch immer nach Stress. Aber das war natürlich auch aufregend für einen Heranwachsenden wie mich. Es war vor allem viel familiärer als heute.
Sie meinen aggressiver?
Nein, familiärer. Jeder kannte jeden. Wenn ich damals in der Schoolboy Section und später in der Singing Section im North Bank stand, sah ich nur Freunde, Nachbarn und Bekannte um mich herum. Wir standen da, zwei Stunden vor Spielbeginn, warteten auf die Spieler, ganz so, wie ich später auf meine Lieblingsbands in irgendwelchen Musikclubs gewartet habe. Und nicht nur das: Unsere Väter hingen mit all den Arsenal-Legenden ab. Mit Spielern wie Charlie George, der ja auch in Highbury beziehungsweise Islington aufgewachsen ist und mit einigen Fans noch die Schulbank gedrückt hatte. Nun waren die einen eben Schweißer oder Dockarbeiter geworden und die anderen Fußballprofis. Das hielt sie aber nicht davon ab, nach den Spielen gemeinsam in die Pubs zu gehen, gemeinsam zu rauchen, zu trinken und eine gute Zeit zu haben. Die Fußballer lebten wie wir.
Das Spiel war dementsprechend unprofessionell.
Das war egal, denn es war auch ehrlicher. Erst der Asket Arsène Wenger hat diese Disziplin nach England gebracht.
Sind Sie ein Romantiker?
Vielleicht, obwohl das heute schon wieder kritisch gesehen wird. Früher war natürlich nicht alles besser. Aber vieles.
In Ihrer Biografie schreiben Sie: „Fußball ist das Theater der Emotionen, nicht der Träume.“
Fußball sollte wie ein Konzert sein – spontan, wild, anarchisch, und wenn mal was schiefgeht, scheiß drauf. Ganz ehrlich: Ich habe auch keine Ahnung von Taktik. Ist mir scheißegal. Dieses Philosophieren über Fußballsysteme ist eine Seuche und eine Erfindung des Mittelstandes. Ich will, dass jeder überall spielen kann. Und genau so war es früher auch: Der Fußball war nicht vorhersehbar, es war ein unperfektes Spiel.
Die Leute lieben offensichtlich die Perfektion, viele Stadien sind heute ausverkauft.
Aber wer sitzt da? Ausschließlich Besserverdienende. Im Gegensatz zu früher, als alle gemeinsam ins Stadion gingen: Reiche, Arme, Schüler, Studenten, Arbeitslose, sogar Greise, die zwei Weltkriege überlebt hatten. Wenn wir damals kein Geld hatten, hoben uns die Älteren über den Zaun – und selbst wenn die Ordner das mitbekamen, drückten sie ein Auge zu. Unvorstellbar heutzutage.
Fußball war in den Siebzigern in England aber auch gefährlicher als heute. Hatte Ihr Vater nie Angst um Sie?
Er fand immer, dass ich meine eigenen Erfahrungen machen sollte. Natürlich gab es oft Kloppereien, auch während eines Spiels. Ich beobachtete das zu Beginn aus sicherer Entfernung, gleichzeitig fasziniert von den Fahnen, Farben, dem Lärm, den Gerüchen, der Spannung und auch ein bisschen von dieser besonderen Ästhetik der Gewalt, von diesem „Heimspiel! Niemand wird unsere Kurve einnehmen!“-Ding. Es war wie ein Albtraum, es war Anarchie, es war Krieg – nur ohne Waffen.
Wie ging man als junger Fan Schlägereien zwischen Hooligan-Firms wie den „Headhunters“ und den „Gooners“ aus dem Weg?
London war in den Sechzigern und Siebzigern eine Stadt voller Dörfer. Wenn du mit einem Arsenal-Schal ins falsche Viertel gelaufen bist, gab’s Stress. Also hat man das vermieden, wenn man keinen Ärger wollte.
Und Sie?
Junger Freund, ich bekam oft Ärger. Ich war ein Typ, der Ärger anzog. Ein wütender junger Mann. Wir hingen früher oft in der Kings Road in Chelsea ab, im Klamottenladen von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren. Dort kamen immer wieder Hooligan-Firms vorbei und suchten Randale. Ich weiß noch, wie einmal eine Horde Nottingham-Forest-Hools den Laden stürmen wollte. Ich stellte mich vor sie und regelte das. Als ich wieder reinkam, stammelte Vivienne: „Du sollst doch nicht solche Leute anschleppen.“ Als hätte ich denen empfohlen, den Laden auseinanderzunehmen. Ach, Vivienne!
Für ein Punk-Image waren solche Auseinandersetzungen doch eigentlich förderlich.
Besonders die Kämpfe mit der Polizei. Die waren damals wirklich brutal. Ich erinnere mich noch, wie mich einmal ein Beamter aus dem Stadion prügelte. So etwas war für einen jungen Fan wie eine Medaille.
Was war passiert?
Wollen Sie, dass ich mich jetzt um Kopf und Kragen rede und mir nachträglich ein Verfahren aufhalse? Zum Mitschreiben für alle: Ich war unschuldig, Officer! (Lacht.)
Waren Sie mal mit Ihrem Bandkollegen Sid Vicious bei Arsenal?
Einmal, im tiefsten Winter. Dazu muss man wissen, dass Sid damals gerne eine Frisur wie David Bowie gehabt hätte. Allerdings toupierte er sich seine Haare nicht mit Haargel, sondern entwickelte dafür eine ganz eigene Methode: Er steckte seinen Kopf in einen vorgeheizten Küchenofen, damit die Haare hart wurden. Dazu noch das obligatorische ärmellose Hemd. So sind wir dann, bei Minusgraden, Richtung Highbury gelaufen, und um uns herum standen die ganzen Gooners-Hools und fragten: „Was iss’n das für ein Vogel?“ Ich sagte: „Das ist Sid, dem kann die Kälte nichts anhaben.“ Das fanden sie dann wiederum ganz imposant.
Wer waren die Arsenal-Helden Ihrer Jugend?
Charlie George, schon wegen seiner langen Haare, die wirr vom Kopf hingen. Aber auch Bob Wilson. Er spielte von 1963 bis 1974 für den FC Arsenal. Ein brillanter, mental unfassbar starker Torhüter. Oder John Radford, der Torjäger meiner Jugend, und später Ian Wright, Thierry Henry oder Dennis Bergkamp. Eines meiner größten Idole spielte aber nie für Arsenal.
Sondern?
Für Manchester United – Georgie Best. Für mich war es immer sehr hart, wenn wir gegen Manchester spielten, denn einerseits sah man so einem wie Best gerne beim Fußballspielen zu, andererseits nahm er die Arsenal-Defensive regelmäßig auseinander. Wir wirkten neben ihm wie Idioten.
Gab’s keinen Ärger in der Arsenal-Kurve, wenn Sie von Best schwärmten?
Ich werde das oft gefragt, und ganz ehrlich: Ich finde so eine Haltung dumm. Man kann doch Spieler von anderen Teams trotzdem für ihr Können oder ihre Tore bewundern. Georgie habe ich übrigens auch mal kennengelernt.
Auf einem Ihrer Konzerte?
In einem Nachtclub, wo sonst? Es muss irgendwann Ende der Siebziger gewesen sein, damals ging es meiner Mutter ziemlich schlecht – bei ihr wurde Krebs diagnostiziert –, und sie bat mich, mit ihr zu einem Konzert von Gary Glitter zu gehen. Glitter erfuhr, dass wir im Publikum waren, und lud uns zur Aftershowparty in den Nightclub „Tramp“ ein. Der erste Typ, den wir dort sahen, war Georgie Best – an der Bar. Meine Mutter war total überwältigt, auch wenn er betrunken war. Sie liebte ihn, vor allem seine Haare. Damals war die Hochphase der Skinheads, viele Glatzen, gerade in unserer Gegend. Und dann war da dieser Typ, der die Haare wellig über seine Schultern trug und trotzdem kein Hippie war. Georgie hatte verdammt noch mal Stil.
Sind je Spieler zu Ihren Konzerten gekommen?
Stuart Pearce und Gareth Southgate waren mal bei einem Sex-Pistols-Gig, irgendwann 1996, als wir wieder auftraten. Die beiden waren allerdings heimlich da, weil sie eigentlich beim Training der englischen Nationalmannschaft sein sollten. Ein geiles Gefühl.
Es kam nie raus?
Natürlich kam es raus. Der Trainer – ich glaube, es war Glenn Hoddle – war stinksauer. Pearce und Southgate sagten nur: „Scheiß drauf! Das Konzert war es wert.“
Haben Sie heute noch Fans unter den Fußballprofis?
Vermutlich ist jeder zweite ein Fan von mir.
Sie scherzen.
Gucken Sie sich mal die Frisuren der heutigen Spielergeneration an. Alles Punks, alle mit Mohawk oder gefärbten Haaren – wie ich früher. (Lacht.) Im Ernst: In den Siebzigern hätten die mit ihren Tattoos und Haaren Aufsehen erregt, heute ist das common sense. Es gibt mittlerweile nur wenige Typen, die das nicht mitmachen – Mertesacker und Podolski, zum Beispiel.
Was halten Sie von den beiden?
Podolski ist ein netter Typ, manchmal erinnert er mich an einen frechen Hooligan-Jungen. Er hat einen guten Abschluss, aber er ist so faul. Er ist nie zurückgelaufen – aber dummerweise auch nie nach vorne. Ist er übergewichtig? Vielleicht sollte er weniger Donuts essen. Aber jetzt ist er ja eh weg.
Und Per Mertesacker?
Auch extrem langsam und manchmal behäbig. Wenn er aber gut drauf ist, kann er gefährliche Situationen frühzeitig erkennen und die Mannschaft mitreißen. Manchmal brauchst du nicht die besten Spieler, sondern einfach nur die besten Typen. Außerdem hat er den coolsten Spitznamen, den man haben kann: BFG – Big Fucking German. Jedes Mal, wenn wir ihn mit diesem Namen besingen, lächelt er. Cooler Typ. Wir lieben ihn.
Was ist mit Mesut Özil?
Aus ihm werde ich nicht schlau. Vermutlich ist er brillant, und es fehlen ihm schlichtweg die brillanten Mitspieler.
Wenger sieht das anders.
Wenger ist für mich ein religiöser Diktator. Der Mann macht mich Jahr für Jahr verrückter mit seiner arroganten französischen Art.
Sie haben ihn mal mit dem ehemaligen Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren verglichen.
Ich mag diesen Vergleich. Beide maßen sich an, alles immer besser zu wissen. Es sind Typen, die man mit Vorsicht genießen muss.
Sie sagen, dass Sie keine Ahnung von Taktik haben. Was werfen Sie Wenger vor?
Er ist ein Theoretiker, ein Professor, der Theorie vor Menschlichkeit stellt. Was ihm aber vor allem fehlt, ist ein Plan. Er stellt die Spieler nicht mal mehr darauf ein, gegen wen sie spielen. Wir verlieren plötzlich 3:6 gegen Manchester City, 1:5 gegen Liverpool oder 0:6 gegen Chelsea. Mertesacker hat mal etwas sehr Interessantes dazu gesagt: „Wir als Spieler müssen gucken, dass wir uns besser auf den Gegner einstellen.“ Das impliziert für mich, dass sich das Team mittlerweile selbst coacht.
Stimmt es eigentlich, dass Sie und Malcolm McLaren mal Angebote von Arsenal hatten?
Ich war 14 Jahre alt, als ein Scout an unsere Schule kam. Ich durfte dann einmal vorspielen, war aber nicht gut genug.
Und McLaren?
Ich kenne das Interview, in dem er das behauptete. Aber ich bitte Sie! Hätten Sie sich den kleinen Lord auf dem Platz vorstellen können?
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John Lydon, 59, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Johnny Rotten, war ab 1975 Sänger der englischen Punkband Sex Pistols. Mit Public Image Ltd. veröffentlicht er im September sein neues Album „What the World Needs Now“. Kürzlich waren PIL erstmals nach dreißig Jahren wieder in Deutschland auf Tour. Im November spielen sie eine Tour in Nordamerika.