Lars Stindl über Per Mertesacker und die Erfahrungen mit dem Leistungsdruck, das 7:1 bei der WM und einen Bonus als Finalstorschütze beim Confed-Cup.
Sie sind erst mit 28 Nationalspieler geworden. Ist das eher Fluch oder Segen?
Absoluter Segen. Das ist nicht gewöhnlich, das gebe ich zu. Heutzutage sind die jungen Spieler sehr gut ausgebildet und haben in ihren Vereinen zum Teil schon tragende Rollen. Aber ich habe kein Problem damit, so spät dazugekommen zu sein. Dadurch kann ich das noch mehr genießen. Ich weiß, was es bedeutet. Und ich freue mich riesig.
Sie haben 2009 in der U 21 debütiert. Kurz nachdem das Team Europameister geworden war, mit vielen Spielern, die 2014 den WM-Titel gewonnen haben. Hummels, Özil und Boateng gehören zu Ihrem Jahrgang und haben heute zwischen 60 und 80 Länderspiele. Hatten Sie einfach nur Pech?
Nein, ich habe damals einfach nicht die Leistung gezeigt wie die drei genannten. Andere waren mir einen Tick voraus. Umso mehr empfinde ich es als Privileg, jetzt dazuzugehören.
Sie haben im Finale des Confed-Cups immerhin das entscheidende Tor erzielt. Gibt es da keinen Bonus?
Wir wissen doch, es war ein gutes Turnier, aber eben keine EM oder WM. Das muss man schon in Relation setzen. Das weiß der Bundestrainer, und die Jungs, die dabei waren, wissen es auch.
Aber der Auftritt der Mannschaft war sehr erfrischend.
Das war eine besondere Konstellation. Einige Weltmeister waren zurückgetreten, andere verletzt oder wurden geschont. Trotzdem haben sich alle gefreut, dabei zu sein – obwohl das Turnier medial als nicht besonders attraktiv dargestellt wurde. Das waren Spieler, die in der Bundesliga gute Leistungen gezeigt hatten und dann in Russland einen gewissen Geist entwickelt haben, dieses Turnier zu gewinnen.
Ist dieser Geist noch da?
Soweit ich weiß, herrscht bei der Nationalmannschaft seit langem ein guter Geist. Das war ja auch bei der WM 2014 ein großes Plus, was heute noch alle erzählen. Man braucht ein gutes Gemeinschaftsgefühl, wenn man so lange zusammen ist und erfolgreich sein will.
Sie sind Kapitän bei Borussia Mönchengladbach, waren es vorher in Hannover. Könnte es für die WM von Vorteil sein, dass Sie wissen, wie man sich sozialverträglich in einer Gruppe bewegt?
Wir haben hier viele Jungs dabei, die dieses Thema und ein solches Turnier richtig einschätzen. Jeder möchte sich aufdrängen und ein gutes Bild abgeben. Das ist der ganz normale Ansporn. Aber es geht eben nur in einer guten Gruppe.
Wie war es in dem ersten Länderspiel nach dem Confed-Cup, als die richtige Nationalmannschaft wieder zusammenkam. Waren die Weltmeister plötzlich die Fremden?
Nein, sie bilden immer noch das Gerüst des Teams.
Haben Sie eigentlich vor dem Anpfiff eines Spiels auch schon mal würgen müssen?
Nein. Sie spielen auf die Äußerungen von Per Mertesacker an. Den Druck empfindet jeder anders. Und jeder hat eine andere Art, mit ihm umzugehen. Ich zum Beispiel brauche vor einem Spiel bestimmte Abläufe, die ich mir über die Jahre angeeignet habe. Ich gehe noch mal in den Kraftraum aufs Fahrrad, um mich zu aktivieren. Das passt für mich.
Wie finden Sie es, dass Mertesacker eine öffentliche Diskussion zum Thema Druck im Fußball angeschoben hat?
Leider gibt es heute zu viel Schwarz und Weiß in der Berichterstattung. Wir versuchen alle, unsere beste Leistung zu zeigen. Und manchmal funktioniert es halt nicht. Auch in anderen Bereichen des Lebens gibt es solche Phasen, nur dass sie bei uns eben öffentlicher sind. Ich finde es gut, dass man darüber spricht, und ich finde es super, dass gerade jemand wie Per mit seinen Erfahrungen in den Nachwuchsbereich geht. Er kann die jungen Leute noch besser darauf vorbereiten, was auf sie zukommt.
Mertesacker war ein wesentlicher Bestandteil dieser Mannschaft…
… nicht nur dieser Mannschaft. Er hat eine Dekade, eine ganze Generation mitgeprägt. Er war eine prägende Erscheinung, und deswegen ist es gut, wenn jemand wie er offen über dieses Thema spricht.
Hat es Sie gewundert, dass Mertesacker mit der ständigen Angst zu versagen so lange so erfolgreich Fußball gespielt hat?
Nein, nicht verwundert. Ich habe Pers Leistungen immer bewundert. Und jetzt – mit diesem Hintergrund – sage ich erst recht: Chapeau. Glauben Sie es mir, es betrifft ganz bestimmt mehrere Spieler, deshalb ist es so wichtig.
Gucken Sie als Kapitän nun noch einmal anders durch die Kabine?
Grundsätzlich achtet man schon auf seine Mitspieler und versucht mitzubekommen, wenn einer mal in einem Tief steckt. Aber nicht nur auf ein Spiel bezogen, sondern auch über einen längeren Zeitraum. Es war jedenfalls noch nicht so, dass ich bei einem Mitspieler ganz speziell vorgefühlt habe.
Wie schaffen Sie es, sich dem Fußball auch mal zu entziehen?
Das war ein Prozess. Ich habe auch erst lernen müssen, im Privaten vom Fußball abzuschalten und das Thema nicht an mich ranzulassen. Durch die Geburt meiner Tochter vor knapp zwei Jahren habe ich noch mal einen anderen Blickwinkel bekommen. Es gibt Wichtigeres als Fußball. Gerade im Fall des Misserfolgs muss man das lernen. Zu Beginn meiner Karriere war es sehr schwierig, das nicht an mich heranzulassen, aber seit ein paar Jahren kann ich damit ganz gut umgehen.
Wie empfinden Sie die Aussage von Joachim Löw, die WM werde der Nationalmannschaft Unmenschliches abverlangen?
Ich glaube, der Bundestrainer meint damit, dass wir vor einer sehr schweren Aufgabe stehen. Alle schauen auf uns als Titelverteidiger, alle haben das Ziel, das zu verändern. Wir sind Weltmeister und Confed-Cup-Sieger, deswegen sind auch hierzulande die Erwartungen extrem hoch. Aber damit konnten wir immer umgehen.
Das gehört gewissermaßen zum Gen-Pool der Nationalmannschaft.
Aufgrund der Erfolge und der Geschichte wird das auch immer so sein. Egal, in welchem Alter man zur Nationalelf kommt.