Ronald Reng schrieb die Biographie von Robert Enke – und war einer seiner engsten Freunde. Hier erzählt Reng vom Leben mit und ohne den Nationaltorhüter.
Das Gespräch entstand vor vier Jahren zu Robert Enkes 10. Todestag und wurde erstmals am 10. November 2019 veröffentlicht.
Ronald Reng, gibt es eine für Sie besonders wichtige Erinnerung an Robert Enke?
Ja, die gibt es. Wobei auch in alltäglichen Situationen ganz unterschiedliche Gedanken an ihn immer wieder auftauchen. Zum Beispiel, wenn ich ein Fußballspiel schaue und die Torhüter in Eins-gegen-Eins-Duellen beobachte. Mittlerweile gehört es zum festen Repertoire eines jeden Keepers, ein Knie so zu beugen, dass er keinen Beinschuss kassieren kann. Robert war der erste Torhüter, der diese recht schwierige Körperhaltung für sich genutzt hat. Die ist ja nicht ohne Risiko, weil sie das Abspringen erschwert. Aber trotzdem machen es heutzutage fast alle Keeper – und Robert hat diese Technik erfunden. Wenn ich einen jungen Keeper im Spiel sehe, der sein Knie so beugt, denke ich mit einem Lächeln an ihn. Nach dem Motto: „Mensch Robbie, wenn du wüsstest, dass du ein Trendsetter warst!“
Und die prägende Erinnerung?
Robert in Teneriffa, am Hafen. Die Zeit bei CD Teneriffa galt in der öffentlichen Wahrnehmung ja als sein absoluter Tiefpunkt, ein kleiner Verein in der zweiten spanische Liga. Aber ihm persönlich ging es dort sehr gut. Er war voller Kraft und Lebensfreude, weil er gerade eine Depression überstanden hatte. Ich habe ihn im Frühling 2004 eine Woche lang besucht, er lebte dort alleine, seine Frau Teresa war schwanger und in Barcelona geblieben. In der Woche sind wir oft einfach durch die Stadt gezogen – und haben uns dann auf eine Hafenmauer gesetzt. Wir saßen dort und schauten den Schiffen und Hafenarbeitern zu. Wir saßen einfach da, ganz still. Aber er strahlte auch ohne viele Worte eine große Lebensfreude aus. Das Bild, wie er dort sitzt, habe ich oft vor Augen.
Wenn heute Journalisten bei Ihnen anrufen, geht es in der Regel um Enkes Depressionen und seinen Tod…
… andere Menschen denken beim Namen Robert Enke an den Mann, den die Depressionen getötet haben. Aber ich habe viele Jahre mit ihm verbracht und die meisten davon war er gesund. Deswegen ist es für mich, abseits von den Tagen rund um seinen Todestag, kein Problem, an die guten und schönen Zeiten zu denken. Und selbst über das Negative fällt es mir jetzt, nach zehn Jahren, deutlich leichter zu sprechen. Es schmerzt nicht mehr so wie am Anfang. Wenn ich in den Jahren direkt nach dem Tod auf ihn angesprochen wurde, war da stets auch der niederschmetternde Gedanke an seine Abwesenheit. Dieser Gedanke kam automatisch auf. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, dass Robert nicht mehr da ist. Das macht das Reden über ihn weniger dramatisch.
Haben Sie Angst, dass die Erinnerungen an ihn langsam verblassen könnten? Dass Sie irgendwann nicht mehr wissen, wie seine Stimme klang?
Nein, überhaupt nicht. Denn genau das Gegenteil ist der Fall. Sein Tod hat meine Erinnerungen an ihn geschärft. Ich würde behaupten, von all meinen Freunden ist Robert der, von dem ich die klarsten Bilder im Kopf habe. Ich kann ihnen bestimmte Einzelheiten aus unserer gemeinsamen Zeit sehr genau beschreiben. Sehr gerne. Zum Beispiel die Art, wie wir uns begrüßt haben. Er war – abgesehen von meiner Frau – der erste Mensch, der mich zur Begrüßung in die Arme nahm. Das machte man damals, 2003, vor allem unter Männern in Deutschland nicht. Da wurde sich irgendwie cool abgeklatscht. Aber Robert brachte diese Herzlichkeit aus Lissabon mit, wo es für ihn normal geworden war. Und ich glaube zumindest, immer noch die Wärme zu spüren, die in seinen Umarmungen lag. Abgesehen von diesem Gefühl gibt es unzählige Szenen, die ich wortwörtlich nacherzählen könnte. Wie er gelacht hat. Aber auch, wie er reagiert hat, wenn wir uns miteinander stritten.
Worüber konnten Sie mit ihm streiten?
Wir haben uns zum Beispiel mal über den Irak in die Wolle bekommen. In den Nachrichten lief ein Bericht darüber, wie irakische Menschen einen Selbstmordattentäter als Märtyrer feierten. Robbie meinte: „Einen Terroristen zu feiern, einen Mann, der Menschen umgebracht hat, ist abstoßend.“ Ich meinte, er müsse sich auch in das Weltbild dieser Leute hineinversetzen, für die der Mann eben kein Terrorist, sondern ein Held gewesen ist. Und so ging es dann eine Weile hin und her. Aber ich habe auch ganz triviale Szenen im Kopf. Wie er mir erklärt, warum er ganz dünne Torwarthandschuhe lieber mag als welche mit dickerem Belag.
Gibt es Momente, in denen er Ihnen besonders fehlt?
Definitiv. Vor allem mit dem Wissen, wie viel besser der Umgang mit psychisch erkrankten Sportlern heutzutage ist. Ich würde ihm manchmal gerne sagen: „Schau mal: Diese Therapie-Möglichkeiten gibt es mittlerweile für Hochleistungssportler.“ Aber ich vermisse ihn auch in ganz banalen Momenten. Neulich hätte ich ihn sehr gerne angerufen, um ihm eine Frage zu stellen.
Was denn?
Ich hatte Oliver Baumann, den Torhüter von Hoffenheim, spielen sehen und mir dabei gedacht: Von den Bewegungen her ist er Robbie total ähnlich. Ich hätte gerne Roberts Meinung dazu gehört.
Sie haben gerade die verbesserten Therapie-Möglichkeiten für Sportler angesprochen. Hat sich strukturell in den vergangenen zehn Jahren wirklich viel verbessert?
Absolut. Robert wusste damals nicht: Was macht man bei psychischen Krankheiten? Wo kann man sich überhaupt melden? Wo gibt es einen Facharzt, einen Psychiater, einen Psychotherapeuten, der etwas mit Sportlern anfangen kann? Er hat damals wahnsinnig lange herumgesucht, bis er Dr. Valentin Markser gefunden hat. Und gleichzeitig war das einzige Beispiel für das, was passiert, wenn die psychische Erkrankung eines Sportlers öffentlich wird, Sebastian Deisler. Ein für Robert abschreckendes Beispiel, da Sebastian ja wegen seiner Krankheit den Fußball aufgab. Diese beiden Faktoren haben sich im Fußball deutlich verbessert. Erstens gibt es mittlerweile ein Netzwerk von Sportpsychiatern, in Deutschland sind es über 70. Wenn ein Sportler den Verdacht hat, dass er oder ein Kollege unter Depressionen leidet, kann er innerhalb von Minuten kompetente Hilfe erreichen. Zweitens wissen die meisten Menschen heute mehr. Sie wissen: Depressionen sind eine Krankheit, die behandelt werden muss – und die dementsprechend auch geheilt werden kann. Robert hat sich leider getötet, aber er gehört damit zu nur 0,2 Prozent der Menschen, bei denen die Krankheit im Suizid endet. 99,8 Prozent der Menschen leben weiter, und ein großer Prozentsatz davon auch beschwerdefrei.
Trotzdem sorgen Depressionen bei Sportlern im Gegensatz zu einem Kreuzbandriss oder einer Muskelverletzung auch heute noch für ein großes öffentliches Echo. Aber Sportler lassen sich heutzutage anders als Robert damals sofort behandeln. Und kommen danach zurück wie nach einem Kreuzbandriss oder nach einer Muskelverletzung. Danny Rose zum Beispiel hat vor der WM 2018 bekannt gegeben, dass er nicht wegen einer Verletzung ausgefallen war, sondern wegen einer psychischen Behandlung. Danach hat er eine super WM gespielt und ist mit England bis ins Halbfinale gekommen. Das ist eine sehr gute Entwicklung.
Die Bild veröffentlichte in dieser Woche einen Artikel, in dem die letzten Stunden vor dem Tod Enkes minutiös nachgezeichnet wurden. In einem anderen wurde sich der Frage gewidmet, was aus seinen Sargträgern wurde. Wie empfinden Sie diese Art der öffentlichen Aufarbeitung?
Davon höre ich gerade zum ersten Mal, das habe ich nicht mitbekommen. Aber ich wohne auch in Bozen und die einzige deutsche Zeitung, die ich in dem Café lese, in dem ich immer frühstücke, ist die FAZ. Insofern kann ich nicht beurteilen, was genau andere Redaktionen in diesen Tagen veröffentlichen. Ich weiß nur, dass es von Psychiatern und Journalistenverbänden klare Anweisungen gibt, wie man bei der Berichterstattung über Suizid vorgehen sollte. Dass man beispielsweise nicht den genauen Tatort nennen sollte und nicht erklärt, wie genau ein Mensch sich umgebracht hat. Damit man Leute nicht zum Nachahmen verleitet. Im Idealfall sollten diese Richtlinien eingehalten werden.
Sie haben mit Ihrem Buch über Robert Enke Millionen von Menschen erreicht. Haben sich danach andere Profis, die psychische Probleme hatten, bei Ihnen gemeldet?
Profis nicht. Aber manche Trainer haben bei mir nach Rat gefragt. Nach dem Tod von Gary Speed wurde ich außerdem darum gebeten, mit seiner Mutter zu sprechen. Insgesamt bin ich aber nicht zum Kummerkasten der Profisportler geworden. Dafür haben sich normale Leser, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatten, bei mir gemeldet und erzählt, dass ihnen das Buch geholfen hätte. Dass da ein so hoch-talentierter, erfolgreicher und starker Mensch genauso betroffen sein konnte wie sie, hat vielen das Gefühl gegeben: Ich bin ganz normal, es kann jeden treffen, es liegt nicht an mir.
Heute vor zehn Jahren beging ihr Freund Robert Enke Suizid. Wie verbringen Sie diesen Tag?
In den ersten Jahren war es mir und vielen anderen, die Robert nahestanden, sehr wichtig, seinen Todestag gemeinsam zu verbringen. Um über ihn zu reden. Seine Frau Teresa, seine Mutter, sein Berater Jörg Neblung, sein guter Freund Marco Villa. Jetzt, nach zehn Jahren, ist der Drang, unbedingt an diesem einen Tag beieinander zu sein, nicht mehr da. Wir sehen uns ja auch zu anderen Anlässen und reden auch im Alltag miteinander über unsere Erinnerungen. Den zehnten Todestag verbringt also jeder für sich, in eigenen Gedanken an Robert. Die Zeit heilt nicht nur die Wunden, sie normalisiert auch die Trauer über den Verlust. Auch wenn das Wort „normalisiert“ in diesem Zusammenhang kein schönes ist.
Woran machen Sie das außerdem fest?
Ich fahre zum Beispiel nicht mehr jedes Mal zu seinem Grab, wenn ich in Hannover bin. Manchmal reicht es mir auch, mich ins Café Kreipe an der Oper zu setzen, wo Robert selber sehr gerne Zeit verbrachte. Und dort an ihn zu denken.