Vor 45 Jahren verlor Deutschland im Elfmeterschießen den EM-Titel an die Tschechoslowakei. Ladislav Jurkemik, der den vorletzten Strafstoß verwandelte, erinnert sich an einen der großen Außenseitersiege.
Ladislav Jurkemik, mit welchen Erwartungen sind Sie zur Endrunde gefahren?
Ich war noch ein sehr junger Spieler damals, der jüngste im Kader. Schon allein deshalb war die EM 1976 etwas ganz Besonderes für mich. Man darf auch nicht vergessen, dass 1976 nur vier Mannschaften an der Endrunde teilnahmen. Vier Jahre später, als wir in Italien Dritter wurden, waren es schon acht. Und heute spielt ja jeder mit. Es hieß also, dass wir 1976 auf jeden Fall schon mal zu den besten vier Mannschaften in ganz Europa zählten. Und wir hatten ja starke Teams ausgeschaltet, um so weit zu kommen: England, Portugal und die Sowjetunion. Aber daheim in der Tschechoslowakei wurde nicht so ein großes Aufheben darum gemacht, wie das heute der Fall wäre.
Vielleicht auch, weil Sie als totaler Außenseiter ins Halbfinale gegen die Holländer um Johan Cruyff gingen?
Die Holländer waren arrogant, nach dem Spiel wollten sie nicht mal die Trikots mit uns tauschen. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass es so schwer gegen uns werden würde. Der Platz tat ein Übriges, er war nicht leicht zu bespielen, weil es sehr stark regnete. Mir machte das aber nichts aus, ich war einfach froh, dass ich eine Chance bekam und in der Verlängerung eingewechselt wurde. Meine Aufgabe war es, Cruyff zu bewachen. Es hat mir Spaß gemacht, weil er so ein großartiger Spieler war. Er und auch die anderen – Johan Neeskens, Johnny Rep.
„Unsere Funktionäre hatten nichtmal ein Hotel in Belgrad gebucht“
Waren Sie von dem 3:1‑Sieg selbst überrascht?
Unsere Funktionäre müssen es gewesen sein, weil sie für uns kein Hotel in Belgrad gebucht hatten, wo das Endspiel stattfand. Sie haben wohl geglaubt, wir würden in Zagreb bleiben und um Platz drei spielen. So wie sie dachten fast alle, man ging von einem Endspiel zwischen Holland und Deutschland aus. Wir mussten in einer anderen Stadt Zwischenstation machen und warten, bis im „Hotel Jugoslavija“ in Belgrad Zimmer frei wurden.
Die wurden frei, weil die jugoslawischen Spieler sie nach der Niederlage im anderen Halbfinale räumen mussten.
Dabei führte sie schon 2:0 gegen Deutschland! Das war auch der Grund, warum sich das Finale für uns wie ein Heimspiel anfühlte. Die Jugoslawen feuerten uns an, weil sie so enttäuscht über die Niederlage gegen Deutschland waren.
„Franz Beckenbauer war mein großes Vorbild, die Fahrt im Aufzug war eine große Ehre für mich“
Aber viele Jugoslawen kamen gar nicht, obwohl sie Karten hatten. Nun, es waren immerhin 30.000 Menschen im Stadion. Aber für uns war es wahrscheinlich gut, dass wir nicht gegen den Gastgeber spielen mussten. Jugoslawien hatte damals eine tolle Mannschaft, angeführt von Dragan Dzajić. Das waren alles Weltklassespieler, aber sie bezahlten den Preis dafür, dass sie nach dem 2:0 einen Gang zurückschalteten. Sie haben nicht damit gerechnet, wie zäh die Deutschen sind.
Auch die CSSR konnte dann ja im Finale eine 2:0‑Führung nicht halten.
Die Deutschen kämpfen immer bis zur letzten Minute, das bewundere ich an ihnen.
Hatten Sie Kontakt zu den deutschen Spielern?
Franz Beckenbauer war mein großes Vorbild, als ich klein war. Als wir nach Belgrad kamen und ins „Hotel Jugoslavija“ umzogen, stieg ich aus dem Bus und ging zum Aufzug. Und dort stand Beckenbauer und wartete auf den Lift. In diesem Moment wurde für mich ein Kindheitstraum wahr: Ich traf mein Idol, und nicht auf einem Fußballplatz, sondern sozusagen privat. Diese kurze Fahrt im Aufzug war eine große Ehre für mich.
Haben Sie mit ihm gesprochen?
Nein, ich traute mich nicht, etwas zu sagen, weil mein Deutsch nicht gut war. Aber die Deutschen waren alle sehr höflich und freundlich zu uns, vor allem Sepp Maier. Wir waren solche Außenseiter, dass nichts für eine Siegesfeier vorbereitet war. Also gingen wir nach dem Finale nur zum Abendessen und tranken dann ein paar Bier. Da kam Maier zu uns. Er unterhielt sich mit unserem zweiten Torwart Alexander Vencel, weil der ein bisschen Deutsch sprach. Mit Beckenbauer habe ich erst viele Jahre später einige Worte gewechselt. Er kam als Botschafter der deutschen Bewerbung für die WM 2006 nach Prag. Ich wurde ebenso eingeladen wie Ivo Viktor, unser Torwart von 1976. Da haben wir einige Minuten mit Beckenbauer geredet.
Stimmt es, dass die Mannschaft vor der Endrunde dauernd Elfmeter trainiert hat?
Ja, in unserem Vorbereitungstrainingslager in der Hohen Tatra haben wir nach jeder Einheit noch Strafstöße geschossen. Allerdings nicht alle Spieler, sondern nur die, die für die Startelf vorgesehen waren. Und als Jüngster gehörte ich nicht dazu. Ich hatte zwar in den Runden davor gespielt, zum Beispiel gegen England, aber dann zog ich mir eine Verletzung zu, Jozko Capkovic kam für mich rein und machte seine Sache gut. Deswegen war ich so froh, als ich gegen Holland ein paar Minuten spielen durfte. Ich hoffte, dass es im Finale wieder so sein würde. Und so kam es dann auch.
Nicht nur das. Sie übernahmen sogar einen der Elfmeter.
Einige der Spieler, die im Training immer geschossen hatten, zum Beispiel Jozef Moder und Jan Pivarnik, wollten im Finale nicht antreten. Unser Co-Trainer Jozef Venglos kam nach der Verlängerung zu mir und fragte, ob ich mir einen Elfer zutrauen würde. Ich sagte ihm, dass ich noch nie einen geschossen hätte, weil bei uns im Verein – Inter Bratislava – Laco Petrás das machte. Ich schoss zwar Freistöße, aber keine Elfer. Meiner Meinung nach muss man dafür ein bestimmter Typ sein, und das war ich nicht. Ich erinnerte mich auch an Vladimir Weiss Senior. Der hatte in der Qualifikation zur WM 1966 einen wichtigen Elfmeter vergeben, und man hat ihn das sein ganzes Leben nicht vergessen lassen.
Aber Venglos hat es geschafft, Sie zu überreden.
Ich war nervös, weil ich wusste, dass mich bei einem Fehlschuss das ganze Land hassen würde. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich vom Mittelkreis bis zum Strafraum gekommen bin. Ich legte den Ball hin und hob den Kopf. Da sah ich, dass Maier sich umgedreht hatte und mir den Hintern hinstreckte. Er wusste genau, was er tat. Er wollte mich verunsichern. Ich wies den Schiedsrichter darauf hin, aber es interessierte ihn nicht. Ich nahm mir vor, den Elfmeter in die rechte Ecke zu schießen, aber beim Anlauf änderte ich meine Meinung und hielt einfach voll drauf. Direkt nach mir kam Uli Hoeneß. Der wollte es auch so machen und schoss drüber. Ich habe ihn angestiftet. (Lacht.)
Eigentlich sollte es ja ein Wiederholungsspiel geben. Erst kurz vor dem Anpfiff wurde entschieden, stattdessen ein Elfmeterschießen abzuhalten. Der deutsche Radioreporter Heribert Faßbender erfuhr davon sogar erst in der Pause vor der Verlängerung.
Daran kann ich mich nicht erinnern. Wie gesagt, während der zwei Wochen in der Hohe Tatra haben wir jeden Tag Elfmeter geübt. Und wir haben sogar nach jedem Testspiel, zum Beispiel gegen Austria Wien, ein Elfmeterschießen gemacht, völlig unabhängig vom Spielstand. Wir haben uns ganz gezielt auf eine solche Möglichkeit vorbereitet.
Vermutlich weil für die Halbfinals und das Spiel um Platz drei ein Elfmeterschießen vorgesehen war.
Das kann sein, ich weiß es nicht. Ich habe mich auf mich selbst konzentriert, nicht auf ein mögliches Elfmeterschießen.
„Ich wäre gerne zum HSV gegangen“
Was war das Geheimnis des Erfolges?
Zunächst mal so etwas wie eine goldene Generation. Im Land gab es damals viele gute Spieler. Der Verband hätte eine Menge Geld machen können, wenn er die Besten ins Ausland verkauft hätte, aber wir durften ja nicht raus. Zweitens war da der Hunger nach Erfolg. Unsere Journalisten beschwerten sich immer, dass das Tempo in der tschechoslowakischen Liga zu langsam wäre, aber wir besiegten Mannschaften wie England oder Frankreich. Mit der Qualifikation zur EM-Endrunde starteten wir eine tolle Serie und blieben 25 Spiele lang unbesiegt. Drittens war das Trainergespann sehr wichtig. Wir hingen geradezu an den Lippen unseres Cheftrainers Václav Jezek, sein Wort war Gesetz. Er hatte vorher in Holland trainiert und brachte von dort so etwas wie Professionalität mit.
Sein Assistent – und Nachfolger – Venglos hatte auch schon was von der Welt gesehen.
Das stimmt, er hatte in Australien trainiert. Die zwei hatten sehr viel Erfahrung und wir respektierten sie beide. Venglos war mehr der Diplomat, der viel mit uns redete. Jezek war strenger, er konnte ziemlich wütend werden. Dann kam Venglos zu uns und sagte, Jezek hätte das alles nicht so gemeint. Aber damals hatte man als Spieler sowieso ein dickeres Fell. Zumindest in unserem Land waren Trainer sehr hoch angesehen und fast unantastbar. Niemand hätte es gewagt, sich über sie zu beschweren, nicht mal der mächtigste Wirtschaftsboss.
Antonin Panenka sagte mal, es hätte früher Spannungen gegeben zwischen den Tschechen und den Slowaken im Team, aber dass sich das im Vorfeld der EM 1976 geändert hätte.
Das wurde wieder ein Thema bei der EM 1980 und der WM 1982, aber es stimmt einfach nicht. Die Medien haben das erfunden, um Schlagzeilen zu haben. Ich habe jedenfalls nie einen Konflikt bemerkt. Tschechen und Slowaken haben auch abseits des Platzes viel unternommen, wir haben oft Minigolf zusammen gespielt. Natürlich gab es immer Grüppchen, etwa wenn viele Spieler von Dukla Prag bei der Nationalelf waren. Ich war meistens der einzige Spieler von Inter Bratislava und teilte mir ein Zimmer mit Viktor oder Vencel, aber als mein Klubkamerad Jozko Barmos berufen wurde, lag ich dann mit ihm auf dem Zimmer. Ob Tscheche oder Slowake, das machte da keinen Unterschied.
Hatten Sie Angebote aus dem Westen?
Natürlich, jeder Nationalspieler hatte die. Aber wir wussten, dass man erst wechseln durfte, wenn man über 30 war und mindestens 45 Länderspiele hatte. Ich wäre gerne zum HSV gegangen, als Kevin Keegan dort war, aber man ließ mich nicht. So ging ich erst 1984 ins Ausland, als ich 31 war. Ich spielte für den FC St. Gallen in der Schweiz. Von der Mannschaft, die 1976 Europameister wurde, spielte später fast jeder noch ein paar Jahre im Ausland, in Österreich, Belgien oder Griechenland.