André Schürrle beendet seine Karriere. Mit 29 Jahren. Im Interview spricht er über die schwere Zeit in Dortmund, den Umgang mit überzogenen Erwartungen und den größten Moment seiner Karriere.
Thomas Tuchel galt als Ihr größter Förderer. Unter ihm wurden Sie in Mainz A‑Jugend-Meister, dann Profi und später Nationalspieler.
Auch danach sind wir durchgängig in Kontakt geblieben. Als ich zu Chelsea ging, als ich für Leverkusen spielte, wir haben uns immer regelmäßig geschrieben. Als er mich dann 2016 anrief, schilderte ich ihm meine Bedenken: Wieder würde ein Verein extrem viel Geld für mich ausgeben …
Insgesamt legten Vereine fast 100 Millionen Euro für Sie auf den Tisch. Allein der BVB zahlte 30 Millionen Ablöse.
Deshalb sagte ich zu Thomas: „Die Erwartungen an mich werden wegen des Preises sehr hoch sein. Das war für mich schon in Wolfsburg nicht leicht zu verarbeiten.“ Doch Tuchel machte mir den Wechsel schmackhaft. Und am Ende sagte mir mein Kopf: Das musst du machen.
Wie machte er Ihnen den Wechsel schmackhaft?
Das ganze Paket war einfach zu verlockend. Ich war bei einem Trainer, der stets auf mich vertraut und sich immer wieder nach mir erkundigt hatte. Ich ging zu einem Verein, der Erfolg quasi garantiert und der Euphorie entfachen kann. Und dann sollte auch noch genau der Stil gespielt werden, der mir liegt. Der Anfang war sensationell. Ich habe mich körperlich gut gefühlt, die ersten Spiele liefen top. Danach war ich wegen einer Verletzung für sechs Wochen raus und plötzlich hinten dran. So etwas gab es vorher in meiner Karriere nie. So lange ausfallen, oft nur auf der Bank sitzen, das war neu für mich.
Hat sich Ihr Verhältnis zu Thomas Tuchel in dieser Zeit verändert?
Ja. Aber wahrscheinlich war von meiner Seite aus auch zu viel Wunschdenken dabei. Ich dachte, unser Verhältnis wäre wie in Mainzer Zeiten. Ich kenne ihn ja, seit ich 17 Jahre alt bin. Aber es ist Profifußball. Ich war nicht mehr der Spieler, den er aus Mainz kannte, und er war nicht mehr der Trainer, den ich damals kennengelernt hatte. Irgendwann war ich nicht mehr seine erste Wahl.
Ist auf diesem Level kein Platz für Freundschaft?
Es ist auf alle Fälle schwer. Der Druck ist so hoch, dass Trainer keine Rücksicht auf persönliche Verbundenheit nehmen können. Das war bei José Mourinho genauso, er stellt knallhart nach Leistung auf. Egal wie groß die Verdienste eines Spielers sind.
Haben Sie jetzt noch Kontakt zu Thomas Tuchel?
Sehr wenig. Als sein Wechsel zu Paris feststand, haben wir kurz miteinander geschrieben, und zum Geburtstag haben wir uns gratuliert.
Zwischen Thomas Tuchel und Hans-Joachim Watzke kam es spätestens nach dem Bombenanschlag auf den Dortmunder Mannschaftsbus zum öffentlichen Bruch. Wie haben Sie den 11. April 2017 erlebt?
Ich war verletzt und habe in der Kabine auf die Mannschaft gewartet. Plötzlich kam Michael Zorc rein, er telefonierte, und ich schnappte nur Wortfetzen auf, irgendetwas von einer Explosion, von Bomben. Es war komplett surreal. Ich habe dann sofort die Jungs angeschrieben. Sie erzählten, dass sie auf der Straße stehen würden und keiner wisse, was los sei. Es habe einen Knall gegeben, die Fenster seien zerborsten und Marc (Marc Bartra, d. Red.) verletzt ins Krankenhaus gefahren worden. Eine Extremsituation. Vor allem, weil keiner genau wusste, was genau passiert war und ob die Gefahr vorüber ist.
Für Sie nicht das erste Erlebnis dieser Art.
Bei den Terroranschlägen 2015 in Paris saß ich im Stade de France auf der Bank. Ich habe die Druckwelle gespürt. Damals habe ich den Knall noch nicht mit einem Anschlag assoziiert. Wenn heutzutage ein Böller in die Luft geht oder es einen lauten Knall gibt, rasen meine Gedanken sofort. Was ist los? Wieder ein Anschlag? Solche Erlebnisse brennen sich in dein Gedächtnis ein, ob du es willst oder nicht. Von den Erzählungen der Jungs weiß ich: Auch der Anschlag auf den Mannschaftsbus wirkte traumatisierend auf sie. Ich kann mir gut vorstellen, wenn sie heute in den Bus steigen und an der Stelle vorbeifahren, wo die Bomben explodierten, gehen alle Blicke ins Gebüsch. Und jeder ist froh, wenn der Bus heil vorbeigefahren ist. Solche Gedanken wünscht man keinem.
Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass am nächsten Tag gespielt wird?
Noch am Abend traf sich der Mannschaftsrat mit den Verantwortlichen. Kurz darauf haben wir erfahren, dass das Spiel schon am nächsten Tag stattfinden soll. Die Reaktion war bei allen Spielern gleich, damit hatte keiner gerechnet. Ich glaube, der Großteil der Mannschaft war nicht ansatzweise in der Lage, auf dem Platz zu stehen und ein Champions-League-Viertelfinale zu spielen.
Es gibt Psychologen, die die sportliche Krise unter Peter Bosz ein halbes Jahr nach dem Anschlag mit posttraumatischen Belastungsstörungen erklären. Was denken Sie?
In den ersten Wochen der neuen Saison flog das Team über die Liga hinweg, es gelang uns alles. Und plötzlich hörte es auf. Wir verloren Spiele, alle dachten automatisch viel mehr nach. Bei einigen Spielern hat das vielleicht auch Dinge tief im Inneren aufgewühlt. Andererseits gewannen wir anderthalb Monate später den DFB-Pokal. Eine sensationelle Leistung.