André Schürrle beendet seine Karriere. Mit 29 Jahren. Im Interview spricht er über die schwere Zeit in Dortmund, den Umgang mit überzogenen Erwartungen und den größten Moment seiner Karriere.
Vor zwei Tagen hatte André Schürrle seinen Vertrag bei Borussia Dortmund aufgelöst, heute folgte die überraschende Nachricht: Mit 29 Jahren beendet der Weltmeister von 2014 seine Profikarriere. Schon als wir ihn Ende 2018 in London zum Gespräch trafen, war sein Blick auf den Fußball von kritischer Distanz geprägt. Allerdings mischte sich in diesen Blick auch immer wieder vorsichtiger Optimismus. Damals war er gerade zum FC Fulham in die Premier League ausgeliehen worden und hatte eine starke Hinrunde hinter sich, kurzeitig wirkte es so, als hätte er sein Glück in England gefunden. Doch am Saisonende stieg er mit Fulham aus der Premier League ab, danach folgte eine weitere Leihe, diesmal nach Russland zu Spartak Moskau. Seit heute ist klar: Einen weiteren Neuanfang wird es nicht geben. Hier lest ihr das Interview, das erstmals in 11FREUNDE #205 im November 2018 erschienen ist.
André Schürrle, früher liebten Sie sehr teure und sehr schnelle Autos. Wann haben Sie zuletzt zugeschlagen?
Das ist ewig her. Das Interesse ist inzwischen abgeflacht.
Weil Autos auf Dauer langweilig wurden und Sie jetzt in Yachten machen?
Nein, dafür ist auch bei mir das Geld zu knapp. (Lacht.) Als Jungprofi habe ich auf einen Schlag extrem viel Geld verdient. Damals wollte ich alles mitnehmen, schnelle Autos, teure Schuhe, ich konnte mir ja fast alles leisten. Mittlerweile sind mir solche Dinge nicht mehr wichtig. Ich habe festgestellt, dass sie mich nicht glücklicher machen.
Sie gelten als Familienmensch, haben keine volltätowierten Arme und noch nie in eine Hotellobby gepinkelt. Wäre man gemein, könnte man sagen: Ihnen fehlt es an Ecken und Kanten. Brauchen Sie endlich einen handfesten Skandal?
Bloß nicht. Aber klar, ich hätte in meiner Karriere problemlos mehr Aufmerksamkeit erregen können. Hier ein gezieltes Interview, dort ein kurioses Outfit. Aber ich wollte stets so rüberkommen, wie ich wirklich bin. Ich habe mehr Freude daran, Vereine durch die Vordertür zu verlassen. Das ist mir bisher gelungen. Und ich möchte auch weiterhin, dass die Menschen mich als höflichen und netten Kerl in Erinnerung behalten.
Wenn Sie auf Luxus keinen Wert mehr legen, was brauchen Sie dann?
Ich brauche meine Vertrauten, meine Verlobte, meine engen Freunde. Am besten rund um die Uhr um mich herum. Ich bin nicht gerne längere Zeit alleine. Gute Gespräche, Beisammensein, das sind Dinge, die mir heute wichtiger sind.
Warum wollten Sie dann im Sommer 2018 unbedingt weg aus Deutschland?
Weil ich das Gefühl hatte, zur Zielscheibe zu werden. Bestimmte Medien haben sehr häufig negativ über mich berichtet, bei manchen Fans schlug die Stimmung mir gegenüber auch deswegen um. Die allermeisten Fans standen zwar hinter mir, trotzdem wollte ich wieder mehr Ruhe für mich und mein Umfeld finden.
Auch BVB-Boss Hans-Joachim Watzke kritisierte Sie. In einem Interview mit der „Welt“ sagte er Anfang des Jahres, dass der Verein unzufrieden mit Ihnen sei. Außerdem hätten Sie „nicht nur in Dortmund nicht funktioniert“.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich habe viele großartige Momente in Deutschland erlebt, konnte hier Erfolge feiern und habe eine große Fangemeinde, die mir den Rücken stärkt. Ich fühlte und fühle mich in Deutschland wohl, das gilt auch für Dortmund. Letztlich wollte ich aber die ständig hohen und überzogenen Erwartungen, die negativen und oberflächlichen Einschätzungen und Meinungen und die – zumindest empfand ich es so – teils mangelnde persönliche Wertschätzung hinter mir lassen. Deswegen bin ich nach Fulham gewechselt.
Was denken die Menschen in England über Sie?
Sie honorieren, dass ich viel geleistet habe. Und Sie erkennen an, dass ich immer alles gebe. Vor allem Zweites spielte in Deutschland bei meiner Beurteilung zuletzt kaum eine Rolle.
Ihr Ex-Trainer Dieter Hecking sagte: „Er grübelt zu viel.“
Richtig ist, dass ich mich immer hinterfragt habe. Manchmal habe ich mir vielleicht auch zu viele Gedanken gemacht. Aber ich war nie lustlos, egal ob ich verletzt war, ob ich auf die Bank musste oder auf dem Platz stand. Meine Einstellung hat immer gestimmt.
Der BVB verpflichtete Sie ja nicht nur wegen ihrer tadellosen Einstellung.
Wenn es um Tore und Assists geht, konnte ich die Erwartungen in Dortmund nicht erfüllen, das weiß ich selbst. Und ich weiß auch, dass es schlechte Phasen gab. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass ich in Dortmund so oft mit Verletzungen zu kämpfen hatte wie noch nie zuvor in meiner Karriere. Trotzdem hatte ich auch gute und schöne Momente beim BVB. Mit den tollen Zuschauern, mit wichtigen Toren wie gegen Madrid, mit intensiven Spielen und mit neuen Freunden, die ich gewonnen habe.
Ist die Leihe nach Fulham eine Flucht?
Ich habe als Nationalspieler doch längst bewiesen, was ich leisten kann, wenn man mir vertraut. Und ich habe in Wolfsburg bewiesen, dass ich mich aus einem Loch herausziehen kann, wenn man mir die nötige Zeit gibt. Zuletzt wurde es aber schwer für mich, gegen negative Stimmungen anzukämpfen. Unter dem Strich war es konsequent, die Möglichkeit für einen Wechsel zu nutzen.
Als es für Sie im Jahr 2009 rasant bergauf ging, haben Sie jeden Artikel über sich gelesen. Wie ist es heute?
Dieses Verhalten kann man sich leider nicht so leicht abgewöhnen. Dementsprechend habe ich auch einiges an negativen Äußerungen mir gegenüber mitbekommen. Man lernt damit umzugehen und versucht, bestimmte Kommentare – gerade in den sozialen Netzwerken – nicht persönlich zu nehmen.
Dort wurden Sie als „Witzfigur“ oder „Vollgurke“ bezeichnet. Unter einem Werbefoto, auf dem Sie mit neuen Fußballschuhen posieren, verglich Sie ein Nutzer mit einem Veganer, der für Gehacktes wirbt.
Solche Sprüche sind nicht schön und haben auch dazu geführt, dass ich mich in den sozialen Medien zurückgenommen habe. Andererseits muss man verstehen, dass solche Leute sich auf Kosten anderer anonym lustig machen wollen und sich dabei scheinbar gut fühlen. Umso wichtiger sind mir die Fans, die mich unterstützen, die mich aber auch sachlich kritisieren können.
Fühlten Sie sich respektlos behandelt?
Respektlos ist ein großes Wort. Aber wenn es schlecht läuft oder einer dich auf dem Kieker hat, gehen Kommentare und Zitate durchaus ins Respektlose. In den sozialen Medien und im Schutz der Anonymität ist der Anteil natürlich ungleich höher. Aber es gehört auch zur Entwicklung, Dinge auszublenden. Man weiß, dass es immer nur bestimmte Gruppen sind, die dich treffen wollen. Gruppen, die nicht wichtig sind.
In Fulham fliegen Ihnen die Herzen dagegen förmlich zu. Und das, obwohl Sie früher für den Rivalen Chelsea gespielt haben, dessen Stadion nur fünf Minuten entfernt liegt.
Als ich im Sommer gemeinsam mit meiner Verlobten in Fulham Häuser angeschaut habe, lernte ich viele Fans kennen. Menschen, die ihre Saisontickets und ihre Liebe zum Klub seit Generationen weitervererben. Die haben mir gedankt, dass ich für ihren Verein spiele. Das war für mich sehr wichtig und ein besonderes Gefühl. Egal, ob vor oder nach einem Spiel – sie geben dir das Gefühl: Ich bin ihr Spieler, ich gehöre dazu. Sie danken einem für den Einsatz und wünschen dir viel Erfolg für das nächste Spiel.
Craven Cottage ist eines der ältesten Stadien im Profifußball, die Holztribüne wurde 1905 gebaut, die Umkleidekabinen sind in einer alten Jagdhütte untergebracht. Bei Chelsea und Dortmund war mehr Lametta.
Als ich das erste Mal nach Fulham kam, spielte ich noch für Chelsea. Wir kamen am Craven Cottage an und ich dachte nur: „Leck’ mich am Arsch.“
Warum?
Für den Mannschaftsbus gab es auf dem kleinen Gelände keinen Parkplatz, also mussten wir draußen auf der Straße halten. Und in der winzigen Gästekabine konnten wir Spieler nicht mal richtig sitzen, dauernd stießen wir mit den Knien aneinander. Die Massagebänke wurden in der Dusche aufgebaut, weil es sonst zu eng geworden wäre. Damals war Frühling, draußen wurde es endlich etwas wärmer, und trotzdem war es in der Kabine bitterkalt. Da wusste ich: Das wird kein angenehmes Spiel.
Liegt Ihnen der fehlende Komfort? In dem Spiel erzielten Sie gleich drei Tore.
Die Chelsea-Fans sangen minutenlang meinen Song: „André Schürrle, düpdüpdüdüp, André Schürrle düpdüpdüdüp!“ Als ich im August mein erstes Spiel für Fulham im Craven Cottage machte, übernahmen die Fans den Song sofort. Schon nach den ersten gelungenen Aktionen, einem Dribbling, einem Abschluss, einer vorbereiteten Chance sangen sie das Lied. Ein phantastischer Start.
Für Sie läuft es in der Premier League gut, in der Hinrunde erzielten Sie schon fünf Tore. Doch ihr Team steckt im Abstiegskampf. Müssen Sie sich mit schlechtem Gewissen freuen?
Nein. Weil ich spüre, dass unsere Leistung trotz der bisher mauen Resultate wertgeschätzt wird. Ich spiele befreiter, habe meine Aktionen, meine Schüsse, meine Tore. Das erkennen die Leute an – und daraus ziehe ich eine Form von innerer Sicherheit.
Thomas Brdaric hat mal gesagt, er würde lieber 4:4 spielen und dabei vier Tore schießen, als ohne ein eigenes Tor 1:0 zu gewinnen. Danach galt er als schwer vermittelbarer Egoist. Aber, Hand aufs Herz: Denkt nicht klammheimlich jeder Stürmer so?
Schwierige Frage. Was ich sagen kann: Ein eigenes Tor macht eine Niederlage erträglicher. Das wird auch kein Fußballer verneinen, wenn er ganz ehrlich ist. Wir sind Mannschaftssportler und am Ende bringen dir gute individuelle Leistungen nichts, wenn du als Team auf die Mütze bekommst. Aber wenn du 1:2 verlierst und dabei das Tor gemacht hast, liegst du abends vielleicht nicht ganz so lange wach. Spiele, die wir ohne Tor von mir gewinnen, sind mir dennoch lieber als Niederlagen oder Unentschieden mit eigenem Tor.
Bevor Sie zum VfL Wolfsburg gewechselt sind, haben Sie sich auf einem Blatt mögliche Aufstellungen notiert und Ihre eigene Rolle darin jeweils akribisch genau geplant. Lief das vor dem Wechsel nach Fulham ähnlich?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe mir zwar den Kader und Sequenzen aus der vergangenen Saison angeschaut. Aber nur, weil ich die zweite englische Liga nicht verfolgt hatte und dementsprechend ahnungslos war. Doch ins Detail bin ich ganz bewusst nicht gegangen. Es kommt sowieso immer anders, als man es sich auf dem Papier ausmalt. Das erste Jahr in Wolfsburg war zum Beispiel extrem schwierig für mich und von den Sachen, die ich mir notiert hatte, ist genau gar nichts eingetroffen. Bei dem Wechsel nach Fulham wollte ich deshalb auf mein Gefühl hören, nicht nur auf den Kopf.
Weil Sie mit Kopfentscheidungen in der Vergangenheit danebengegriffen hatten?
Es gab zumindest Entscheidungen, bei denen vermeintlich logische Überlegungen eine größere Rolle spielten als das Bauchgefühl. Zum Beispiel der Wechsel nach Dortmund. Ich hatte zwar auch große Lust auf den Klub, auf das Stadion und die Atmosphäre. Trotzdem fiel mir die Entscheidung schwer, weil ich in Wolfsburg gerade erst in Form gekommen war. In der Rückrunde hatte ich neun Tore erzielt, ich fühlte mich endlich richtig angekommen. Und ich bin mir sicher: Das wäre in der nächsten Saison so weitergegangen. Doch dann kam der Anruf von Thomas Tuchel.
Thomas Tuchel galt als Ihr größter Förderer. Unter ihm wurden Sie in Mainz A‑Jugend-Meister, dann Profi und später Nationalspieler.
Auch danach sind wir durchgängig in Kontakt geblieben. Als ich zu Chelsea ging, als ich für Leverkusen spielte, wir haben uns immer regelmäßig geschrieben. Als er mich dann 2016 anrief, schilderte ich ihm meine Bedenken: Wieder würde ein Verein extrem viel Geld für mich ausgeben …
Insgesamt legten Vereine fast 100 Millionen Euro für Sie auf den Tisch. Allein der BVB zahlte 30 Millionen Ablöse.
Deshalb sagte ich zu Thomas: „Die Erwartungen an mich werden wegen des Preises sehr hoch sein. Das war für mich schon in Wolfsburg nicht leicht zu verarbeiten.“ Doch Tuchel machte mir den Wechsel schmackhaft. Und am Ende sagte mir mein Kopf: Das musst du machen.
Wie machte er Ihnen den Wechsel schmackhaft?
Das ganze Paket war einfach zu verlockend. Ich war bei einem Trainer, der stets auf mich vertraut und sich immer wieder nach mir erkundigt hatte. Ich ging zu einem Verein, der Erfolg quasi garantiert und der Euphorie entfachen kann. Und dann sollte auch noch genau der Stil gespielt werden, der mir liegt. Der Anfang war sensationell. Ich habe mich körperlich gut gefühlt, die ersten Spiele liefen top. Danach war ich wegen einer Verletzung für sechs Wochen raus und plötzlich hinten dran. So etwas gab es vorher in meiner Karriere nie. So lange ausfallen, oft nur auf der Bank sitzen, das war neu für mich.
Hat sich Ihr Verhältnis zu Thomas Tuchel in dieser Zeit verändert?
Ja. Aber wahrscheinlich war von meiner Seite aus auch zu viel Wunschdenken dabei. Ich dachte, unser Verhältnis wäre wie in Mainzer Zeiten. Ich kenne ihn ja, seit ich 17 Jahre alt bin. Aber es ist Profifußball. Ich war nicht mehr der Spieler, den er aus Mainz kannte, und er war nicht mehr der Trainer, den ich damals kennengelernt hatte. Irgendwann war ich nicht mehr seine erste Wahl.
Ist auf diesem Level kein Platz für Freundschaft?
Es ist auf alle Fälle schwer. Der Druck ist so hoch, dass Trainer keine Rücksicht auf persönliche Verbundenheit nehmen können. Das war bei José Mourinho genauso, er stellt knallhart nach Leistung auf. Egal wie groß die Verdienste eines Spielers sind.
Haben Sie jetzt noch Kontakt zu Thomas Tuchel?
Sehr wenig. Als sein Wechsel zu Paris feststand, haben wir kurz miteinander geschrieben, und zum Geburtstag haben wir uns gratuliert.
Zwischen Thomas Tuchel und Hans-Joachim Watzke kam es spätestens nach dem Bombenanschlag auf den Dortmunder Mannschaftsbus zum öffentlichen Bruch. Wie haben Sie den 11. April 2017 erlebt?
Ich war verletzt und habe in der Kabine auf die Mannschaft gewartet. Plötzlich kam Michael Zorc rein, er telefonierte, und ich schnappte nur Wortfetzen auf, irgendetwas von einer Explosion, von Bomben. Es war komplett surreal. Ich habe dann sofort die Jungs angeschrieben. Sie erzählten, dass sie auf der Straße stehen würden und keiner wisse, was los sei. Es habe einen Knall gegeben, die Fenster seien zerborsten und Marc (Marc Bartra, d. Red.) verletzt ins Krankenhaus gefahren worden. Eine Extremsituation. Vor allem, weil keiner genau wusste, was genau passiert war und ob die Gefahr vorüber ist.
Für Sie nicht das erste Erlebnis dieser Art.
Bei den Terroranschlägen 2015 in Paris saß ich im Stade de France auf der Bank. Ich habe die Druckwelle gespürt. Damals habe ich den Knall noch nicht mit einem Anschlag assoziiert. Wenn heutzutage ein Böller in die Luft geht oder es einen lauten Knall gibt, rasen meine Gedanken sofort. Was ist los? Wieder ein Anschlag? Solche Erlebnisse brennen sich in dein Gedächtnis ein, ob du es willst oder nicht. Von den Erzählungen der Jungs weiß ich: Auch der Anschlag auf den Mannschaftsbus wirkte traumatisierend auf sie. Ich kann mir gut vorstellen, wenn sie heute in den Bus steigen und an der Stelle vorbeifahren, wo die Bomben explodierten, gehen alle Blicke ins Gebüsch. Und jeder ist froh, wenn der Bus heil vorbeigefahren ist. Solche Gedanken wünscht man keinem.
Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass am nächsten Tag gespielt wird?
Noch am Abend traf sich der Mannschaftsrat mit den Verantwortlichen. Kurz darauf haben wir erfahren, dass das Spiel schon am nächsten Tag stattfinden soll. Die Reaktion war bei allen Spielern gleich, damit hatte keiner gerechnet. Ich glaube, der Großteil der Mannschaft war nicht ansatzweise in der Lage, auf dem Platz zu stehen und ein Champions-League-Viertelfinale zu spielen.
Es gibt Psychologen, die die sportliche Krise unter Peter Bosz ein halbes Jahr nach dem Anschlag mit posttraumatischen Belastungsstörungen erklären. Was denken Sie?
In den ersten Wochen der neuen Saison flog das Team über die Liga hinweg, es gelang uns alles. Und plötzlich hörte es auf. Wir verloren Spiele, alle dachten automatisch viel mehr nach. Bei einigen Spielern hat das vielleicht auch Dinge tief im Inneren aufgewühlt. Andererseits gewannen wir anderthalb Monate später den DFB-Pokal. Eine sensationelle Leistung.
Nach dem Pokalsieg sagten Sie den Confed Cup wegen einer Verletzung ab, seitdem spielen Sie in der Nationalmannschaft keine Rolle mehr. Wann haben Sie zuletzt mit Joachim Löw gesprochen?
Ich habe ihn zwar neulich in London bei einer Fifa-Gala kurz gesehen, aber dort haben wir nicht miteinander gesprochen. Das letzte richtige Gespräch führten wir im Herbst 2017. Wir haben auch vor der Weltmeisterschaft nicht miteinander geredet, was ich schade fand, weil meine Rückrunde unter Peter Stöger gut lief. Ich habe zwölf oder dreizehn Spiele am Stück gemacht, Tore geschossen und vorbereitet. Aber mein Gefühl hat mir von Anfang an gesagt, dass ich nicht dabei sein würde.
Wie haben Sie die Weltmeisterschaft verfolgt?
Im Urlaub.
2010 verfolgten Sie das Turnier noch zusammen mit Lewis Holtby beim Public Viewing in Mainz.
Ich war die ganze Zeit im Ausland unterwegs. Abgesehen von den Topspielen habe ich nur unsere Spiele verfolgt.
Konnten Sie zurück in die Rolle als Fan schlüpfen?
Schon. Aber es war eine neue Erfahrung für mich, das Ganze vor dem Fernseher zu betrachten. Ich habe richtig mitgefiebert. Ich wollte unbedingt, dass die Jungs ihre Spiele gewinnen.
Das hat nicht funktioniert. Woran lag es? Fortnite?
Das ist der größte Schwachsinn! Wenn ich lese, dass die Jungs rausgeflogen sind, weil bis um ein Uhr gezockt wurde und einer gar eine Shisha eingepackt hatte, dann lache ich mich kaputt. Das passiert in jeder Mannschaft, das gab es auch bei uns 2014.
2014 lief es aber deutlich besser. Damals schlugen Sie die Flanke auf Mario Götze vor dessen Siegtor im WM-Finale. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass dieser Moment Ihrer Karriere geschadet hat?
Nein. Ich konnte bei dem Turnier und mit der Flanke Geschichte schreiben. Darauf werde ich für immer stolz sein. Deswegen bin ich Jogi Löw auch auf ewig dankbar. Er hat mir die Chance gegeben, diesen Moment zu erleben.
Macht Ihnen als Wettkämpfer der Gedanke Angst, dass Ihr Karrierehöhepunkt höchstwahrscheinlich schon hinter Ihnen liegt?
Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht. Beim WM-Finale war ich erst 23 Jahre alt. Und es wird für mich in Zukunft schwer bis unmöglich, diese Art Hochgefühl jemals wieder zu erreichen. Wir waren damals mit einer Gruppe aus Freunden on top of the world. Die nächsten zwei, drei Jahre war mir nicht bewusst, dass es nicht höher geht. Aber wenn ich darüber nachdenke, würde ich es nicht verschieben wollen. Ich kann doch froh sein, dass es in meiner Karriere überhaupt diesen perfekten Moment gab. Warum sollte ich deswegen also Sorgen haben? Ich durfte die schönste Trophäe, die ich je gesehen habe, in meinen Händen halten und küssen. Das ist ein unglaubliches Privileg.
Waren die Erwartungen an Sie nach der WM überzogen?
Die Erwartungen stellte ich ja in erster Linie an mich selber. Als ich nach der WM zurück zu Chelsea kam, dachte ich: „Junge, jetzt reißt du hier die Hütte ab.“ Mein Standing war gleich ein ganz anderes. Wie Mourinho auf einmal mit mir gesprochen hat, das war ein großer Unterschied zur Zeit vor der WM. Er hielt zwar immer schon viel von mir, aber nach dem Turnier war ich für ihn ein echter Gewinnertyp. Ein Kerl, den er jetzt auch ganz anders forderte. Also wollte ich unbedingt auf das nächste Level, ich wollte durchpowern. Gleichzeitig hatte ich davor kaum Urlaub gehabt, nach einem Erlebnis wie der WM fällt man auch mental automatisch in ein Loch. Als es in den Monaten danach nicht rund lief, hat mich das schnell wieder zurück auf den Boden geholt.
Ist das Thema Nationalmannschaft für Sie erledigt?
Ich konzentriere mich jetzt nur auf mich und den FC Fulham. Aber für Deutschland zu spielen, ist immer eine große Ehre.