Nach neun Jahren beim VfB Stuttgart zog es Christian Gentner im Sommer zu Union Berlin. Im Interview erklärt er, was an der Alten Försterei besonders ist, wie Pfiffe auf Spieler wirken und weshalb er seinen Kollegen auch auf Instagram zum Geburtstag gratulieren muss.
Christian Gentner, Sie sind seit fast vier Monaten bei Union Berlin. War die Alte Försterei nach fast zehn Jahren beim VfB Stuttgart eine Art Kulturschock?
Zumindest was die Atmosphäre im Stadion angeht, ist es bei Union total anders. Wir haben in Stuttgart ein wunderschönes Stadion mit herausragenden Fans, die eine herausragende Stimmung erzeugen können – gerade wenn es mal läuft. Was bei Union aber ganz speziell ist: Das sportliche Ergebnis spielt auf den Rängen keine Rolle. Es ist egal, ob wir 3:0 gewinnen oder 0:2 verlieren. Zumindest seitdem ich hier spiele.
Das hört man immer wieder: An der Alten Försterei wird nicht gepfiffen.
Das wurde mir vor meinem Wechsel zu Union so angekündigt und hat sich voll und ganz bestätigt. Es herrscht ein ganz besonderes englisches Flair ab dem Moment vor dem Warmmachen über das Spiel hinaus. Und bisher waren wir nach Abpfiff immer noch 20 Minuten draußen und haben die Atmosphäre auf uns wirken lassen. Die Fans besingen und feiern sich und uns nach Siegen. Nach Pleiten muntert das ganze Stadion uns auf. Diese spezielle Atmosphäre zieht sich durch den gesamten Verein.
Ändert das etwas an der generellen Herangehensweise im Abstiegskampf? In Stuttgart war die Stimmung nach schlechten sportlichen Leistungen ja eher angespannt…
Das kann man so sagen. Durch meine langjährige Erfahrung im Verein und generell im Profifußball hatte ich eine gewisse Routine entwickelt, die mir in solchen Situationen geholfen hat, nicht den Kopf zu verlieren. Es ist wichtig, im Spiel keine Unterschiede zu machen, ob die Stimmung jetzt gut oder schlecht ist und auch danach professionell damit umzugehen.
Haben das alle Mitspieler so hinbekommen?
In Stuttgart war das für einige Spieler ein erhebliches Problem. Die angespannte Stimmung wurde für sie zur Belastung auf und neben dem Platz. Wir hatten vor allem keine guten Heimspiele in der vergangenen Saison, haben schlechte Leistungen gezeigt, haben wenig Chancen kreiert. Auch wenn die Kritik wegen der schlechten Ergebnisse berechtigt war, war der Umgang damit für uns nicht einfach.
Also lässt sich Abstiegskampf bei Union leichter bestreiten?
Ich glaube, die viel geringere Erwartungshaltung bei den Fans von Union führt dazu, dass es einigen Spielern hier in Berlin leichter fällt, ohne Druck Fußball zu spielen und gute Leistungen zu zeigen. Wir sind im Leistungssport: Ganz ohne Druck bist du als Spieler in der Bundesliga nie. Aber es ist eine andere Belastung hier.
Wie stehen Sie denn generell zum Thema Druck im Leistungssport? Wie war beispielsweise Ihre Reaktion, als Per Mertesacker in einem Interview mit dem Spiegel 2018 offen über negative Folgen gesprochen hat?
Bei diesem sensiblen Thema ist jeder Mensch und damit auch jeder Bundesligaspieler anders gestrickt und geht auf eine andere Art und Weise damit um. Ich habe den Druck und den Konkurrenzkampf schon früh im Jugendbereich gespürt. Ich bin als 14-Jähriger zum VfB in die Nachwuchsabteilung gekommen. Je näher das Frühjahr rückte, desto größer wurde der Druck, die Anspannung, weil es nie ganz sicher war, ob meine Kollegen und ich in die nächste Altersstufe übernommen werden würden. Diese Phasen waren Ansporn und Belastung zur gleichen Zeit und bereits ein Vorgeschmack auf den Herrenbereich. Der Umgang mit Druck im Profifußball ist nämlich definitiv nicht einfach einzuordnen und zu kanalisieren. Ich persönlich habe es Gott sei Dank durch ein sehr, sehr starkes und solides Umfeld in meiner Familie und in meinem Freundeskreis immer recht ordentlich hinbekommen, dem Druck standzuhalten und zu performen.