Masih Saighani verbrachte seine fußballerische Karriere in den Amateurligen Mittelhessens, bis er im Sommer 2017 von der Verbandsliga in die indische Profiliga wechselte. Heute spielt der 33-Jährige in einem Trikot, das schon zwei Weltmeister trugen und lebt fernab der Heimat seinen Traum vom Fußballprofi.
Masih Saighani, wussten Sie, dass es auf Youtube ein fast zwanzigminütiges Highlight-Video von Ihnen gibt?
Ja, denn ich habe es selbst in Auftrag gegeben. (Lacht.)
Warum?
Es gibt sogar mehrere. Ich habe sie produzieren lassen, weil interessierte Vereine immer wieder nach Videosequenzen fragen. Natürlich hätte ich es 2017 als Verbandsligaspieler nicht für möglich gehalten, dass ich solche Videos mal brauchen würde, aber heute bin ich Profi. Als Berufsfußballer brauche ich solche Videos.
Hatten Sie überhaupt den Traum, Profi zu werden?
Ja, der Traum war immer da.
Auch als Sie mit 28 Jahren noch in der Verbandsliga spielten?
Es ist nicht so gewesen, als hätte ich die Hoffnung darauf ganz verloren, aber natürlich habe auch ich gemerkt, dass ich immer älter werde.
Zwei Jahre vor Ihrem Wechsel nach Indien wurden Sie afghanischer Nationalspieler. Wie kam der Kontakt zustande?
Der damalige Nationaltrainer Slaven Skeledzic, der heute Co-Trainer von Miroslav Klose bei den Bayern ist, hatte 2015 ein größeres Scouting-Camp in Aschaffenburg ins Leben gerufen, zu dem auch ich eingeladen wurde. Am Ende dieses dreitägigen Camps wurde mir gesagt, dass ich direkt zum Afghanischen Konsulat nach Frankfurt fahren solle, um meine Papiere zu erneuern, da mich der Coach direkt nominieren wollte.
Haben Sie zu diesem Zeitpunkt noch mal Hoffnung geschöpft, dem Profifußball näher zu kommen?
Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht, dass ich durch die Auftritte im Nationaltrikot vielleicht in den Fokus von Vereinen geraten könnte. Ich war einfach nur stolz darauf, einmal für mein Land spielen zu dürfen und wollte den Moment genießen.
Vor der Saison 2016/17 heuerten Sie beim Verbandsligisten Türkgücü Friedberg an, wo Sie auch einen Anschlussvertrag unterschrieben. Doch nur wenige Wochen nach der Unterschrift wurde klar, dass dieser nie in Kraft treten würde – Sie wechselten in die indische Profiliga zu Aizawl FC.
Ich hatte mit der Afghanischen Nationalmannschaft Ende 2015 bei der Asienmeisterschaft ein wirklich gutes Turnier gespielt. Kurz danach meldete sich ein Agent, der mich fragte, ob ich in den Profifußball wollen würde. Doch der Kontakt brach ab. Im Sommer 2017 meldete er sich allerdings erneut bei mir und erkundigte sich nach meiner Situation.
Wie sieht so eine Kontaktaufnahme aus?
Er hat mir einfach über Facebook geschrieben und gefragt, was ich gerade so mache. Ich spielte in Friedberg und hatte gerade einen neuen Job bei der Flugsicherung am Frankfurter Flughafen aufgenommen. Ich war weit weg vom Profifußball.
Wie ging es weiter?
Er sagte mir: „Es gibt einen Verein, der Videos von dir gesehen hat und der einen Innenverteidiger mit asiatischem Pass sucht – sie haben Interesse an dir.” Ich dachte zuerst an ein Probetraining und habe ihm gesagt, dass ich das nicht mehr machen würde. Doch Aizawl wollte mich tatsächlich sofort verpflichten, ohne Probetraining. In den Wochen danach klärten wir gemeinsam mit dem Agenten die finanziellen Dinge, bis ich im August 2017 den Vertrag erhielt, ihn unterschrieb und ihn zurückschickte.
Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt jemanden persönlich kennengelernt?
Nein, wir regelten allen wichtigen Dinge per Schriftverkehr oder Telefon.
Was ist Ihnen in den Kopf geschossen, als Sie das Angebot bekommen haben?
Ich habe gewusst, dass es die allerletzte Chance ist, mir meinen Traum doch noch zu erfüllen. Natürlich kannte ich den Verein nicht, aber die Mannschaft war in der Saison zuvor Meister der Indian League geworden und war deshalb im AFC-Cup, der mit der Europa-League vergleichbar ist, vertreten. Für mich war schnell klar, dass ich das machen werde, obwohl ich finanziell nicht wahnsinnig davon profitiert habe.
Wie fühlten Sie sich, als Sie den unterschriebenen Vertrag schließlich zur Post brachten?
Ich war voller Freude darüber, meine letzte Chance irgendwie doch noch genutzt zu haben. Ich habe mir ausgemalt, wo mich mein Weg hintragen könnte, was nach einem Jahr passieren würde. Und ich habe davon geträumt, dass ich es noch weiter schaffen könnte.
Was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie im Sommer 2017 in Aizawl ankamen?
(Lacht.) Ich habe gedacht, das Flugzeug hätte sich verflogen. Ich dachte, das sei nicht Indien.
Warum?
Ich war bei der Südasienmeisterschaft bereits mit der Nationalmannschaft in Indien, allerdings im Süden, in Kerala. In Aizawl war alles komplett anders. Die Menschen sahen nicht so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte und auch nicht wie ich sie aus Kerala kannte. Aus meiner Sicht war ihr ganzer Kulturkreis eher dem nepalesischen ähnlich und entsprach überhaupt nicht meiner Erwartung.
Haben Sie sich davor mit der Stadt, in der Sie von nun an leben würden, beschäftigt?
Ja, ich habe mir in den Wochen zuvor Videos auf Youtube angeguckt, in denen eben die Stadt gezeigt wird. Ich habe im Internet einfach ein bisschen recherchiert, mir bei Google Bilder angeguckt. Aber ich habe nie etwas zur Kultur und den Einheimischen gesehen. In den ersten Tagen war es ein Kulturschock.
Wie haben Sie die ersten Tage in Aizawl verbracht?
Direkt am ersten Abend nahmen mich zwei Vereinsmitarbeiter mit zu einem regionalen Turnier, das in dem Stadion ausgetragen wurde, in dem Aizawl trainiert. Dort angekommen, war ich erstmal enttäuscht. Es war ein alter Kunstrasenplatz, der lediglich auf den beiden Längsseiten von zwei Tribünen umrahmt wurde, wie ich es in Deutschland aus den Amateurklassen kannte, nichts Besonderes eben. Ein paar Tage später fuhren wir zu dem Stadion, in dem wir auch wirklich spielten, um ein paar Bilder mit mir im Trikot zu schießen. Da habe ich mir dann zum ersten Mal gedacht: „Wow, das ist schon eine andere Hausnummer”. Rund um den Platz gab es eine durchgehende Tribüne und gleich dahinter konnte man die Berge sehen. Es war eine unfassbar schöne Aussicht.
Wie war das fußballerische Niveau Ihrer Mitspieler?
Ich kann mich noch gut an mein erstes Spiel erinnern. Mein erster Gedanke war: „Was ist denn hier los?” Alle liefen durcheinander, es herrschte überhaupt keine Ordnung auf dem Platz, nicht ein bisschen. Die Jungs hatten individuell durchaus Qualitäten, sie waren körperlich wahnsinnig stark und liefen die Linie rauf und runter, aber es war eine taktische Katastrophe. Ich drehte mich um und plötzlich rannte mein Linksverteidiger auf dem rechten Flügel rum.
In fußballerischer Hinsicht also keine Verbesserung zur Verbandsliga?
Das kann man so nicht sagen. Die Jungs konnten schon kicken, aber jeder machte einfach, was er wollte. Nach ein paar Wochen und vielen Trainingseinheiten wurde es allerdings schon deutlich besser.
Wie oft trainierten Sie?
In der Regel nur einmal am Tag, meistens so gegen 10 Uhr morgens.
Was macht man dann mit dem restlichen Tag?
Das war ein Problem, um ehrlich zu sein. In Aizawl war absolut nichts los. Es ist eine sehr christlich konservative Stadt. Für junge Leute gab es nicht wirklich viel zu tun. Es gab keine Clubs, keine Bars – Alkohol war generell verboten. Mal abends zusammen feiern gehen oder sich mit Mädels zu treffen war nahezu unmöglich.
Was haben Sie dann den ganzen Tag gemacht?
Ich lebte in Aizawl in einer WG mit zwei weiteren Spielern, einem Rumänen und einem Spieler von der Elfenbeinküste. In den ersten Wochen sind wir einfach durch die Stadt gelaufen, um uns zu orientieren. Aber wir unternahmen auch viel als Mannschaft, auch mit den beiden spanischen Trainern. Immer Sonntags gab es in unserer WG für die gesamte Mannschaft Crepes. Wir machten es zu unserer Spezialität – Sonntag war Crepes-Tag.
Im Sommer 2018 wechselten Sie von Aizawl zu Abahani Limited Dhaka nach Bangladesch. Was waren ihre ersten Eindrücke von der Stadt?
Ich war schockiert und betroffen von der Armut, die ich auf den Straße sah. Es gab dort extrem viele Straßenkinder, die entweder Vollwaisen waren oder auf den Straßen für ihre Familien bettelten. Es gab Familien, die auf der Straße unter Pappkartons lebten. Das waren Dinge, mit denen ich vorher nie konfrontiert worden war und die mich sehr mitgenommen haben.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe versucht zu helfen. Wenn meine Mitspieler und ich mittags oder abends loszogen, um in den Restaurants essen zu gehen, verteilten wir auf dem Weg dorthin wahllos Geld an die Kinder. Nach einiger Zeit kannten sie uns und riefen unsere Namen, wenn wir in die Straße kamen. Wir haben Geld und Essen an sie verteilt oder sind zusammen mit ihnen in ein Restaurant gegangen.
Regelmäßig?
Wir waren jeden Tag in der selben Straße und eines Tages fragten wir die Kinder, ob sie hungrig seien. Als wir mit ihnen in ein Restaurant gingen, wollten die Besitzer sie verscheuchen, weil sie dachten, die Kinder hätten sich heimlich reingeschlichen.
Denken Sie, dass Sie dadurch nachhaltig helfen konnten?
Nein. Natürlich haben wir nach ein paar Wochen gemerkt, dass sich die Situation der Kinder nicht nachhaltig verbessert, wenn wir weiter mit Geld um uns schmeißen. Vor einem Restaurant, in das wir immer gingen, stand jeden Tag eine Frau mit ihren vier Töchtern und verkaufte Luftballons. Irgendwann hatten wir uns mit ihnen angefreundet, bis wir nach einer Zeit zusammen einkaufen gingen und schauten, an was es ihnen im Haus fehlte. In den ersten Wochen haben wir zum Beispiel einen Tisch und eine Spüle gekauft. Wir haben versucht, einer Familie dadurch langfristiger zu helfen. Und wir wollten den Menschen zeigen, dass sie etwas Wert sind, dass sich jemand um sie kümmert und sie ein Teil dieser Gesellschaft sind.
Heute spielen Sie für einen großen indischen Klub, Chennaiyin FC, in der indischen Super League. Was hat sich dadurch verändert?
Ich komme mit der Armut der Bevölkerung, die natürlich auch auf den Straßen von Chennai präsent ist, kaum mehr in Berührung. Ich lebe zusammen mit der ganzen Mannschaft im Hyatt Hotel im Zentrum der Stadt und kann nicht leugnen, dass ich sehr abgeschottet lebe.
Wann wird Ihnen das bewusst?
Im Dezember hatten wir ein Auswärtsspiel gegen NorthEast United und sind dafür nach Guwahati in den Nordosten Indiens geflogen. Direkt nach unserer Ankunft wurde das Spiel allerdings wegen der politischen Unruhen abgesagt. Nachdem Premier Narendra Modi ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet hatte, das Einwanderern muslimischen Glaubens das Erlangen der indischen Staatsbürgerschaft erschwert, kam es auf den Straßen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und den Militärs. Ich sah vom Fenster meines Hotelzimmers, wie Menschen Straßenbarrikaden errichteten und in Brandt setzten. Zuvor hatte ich noch nie von den Unruhen gehört, auch von der nationalistischen Politik Modis hatte ich keine Ahnung.
Haben Sie sich in der Folge damit auseinandergesetzt?
Natürlich spricht man nach solchen Erlebnissen auch innerhalb der Mannschaft darüber, was gerade im Land passiert. Ich wollte einfach verstehen, um was es überhaupt geht.
Was hat sich in sportlicher Sicht für Sie mit dem Wechsel zu Chennaiyin verändert?
Mit dem Wechsel nach Chennai ist mir das gelungen, was ich mir immer erhofft hatte, denn ich spiele nun in einem der größten Klubs Indiens. Vor mir haben hier Spieler wie Marco Materazzi, Alessandro Nesta, John Arne Riise oder Wes Brown gespielt. Ich trage nun das gleiche Trikot wie sie, was mich natürlich mit Stolz erfüllt. Die Stars von damals haben große Fußstapfen hinterlassen, jeder im Klub spricht noch über sie.
Wie groß ist der Fußball in Indien?
In Indien gibt es zwei Profi-Ligen, einmal die Indian League, in der ich mit Aizawl spielte und die Indian Super League, die eine privatisierte Liga ist. Die ISL ist die größere und glamouröse Liga, in der die Vereine vor allem durch die Verpflichtungen von namhaften Spielern für Aufsehen sorgen. Bei den Heimspielen kommen in etwa 10.000 Zuschauer, auswärts beläuft es sich immer so zwischen 10.000 und 25.000. Für jemanden, der früher in der Hessenliga gekickt hat, sind das schon unglaubliche Kulissen.
Wie hoch ist das fußballerische Niveau in der ISL?
Ich spiele hier in einer Liga mit Asamoah Gyan, der bei der WM 2010 für Ghana ein überragendes Turnier gespielt hat. Natürlich können solche Jungs noch richtig kicken und erhöhen das Niveau einer Liga sehr.
Wer war Ihr bester Gegenspieler?
Miku Fedor, der unter anderem für Valencia und Celtic Glasgow gespielt hat.
Und mit der afghanischen Nationalmannschaft?
In der WM-Qualifikation haben wir 2016 gegen Japan gespielt. Das war schon eine geile Truppe: Hiroshi Kiyotake, Genki Haraguchi, Makoto Hasebe, Yuto Nagatomo, Shinji Okazaki und natürlich: Shinji Kagawa. Als ich die Jungs spielen sah, fiel mir vor allem eines auf: Die machen keine Fehler. Sie sind einfach unfassbar routiniert und machen immer die vermeintlich „einfachen“ Dinge. Jeder Pass ist präzise gespielt, der erste Kontakt ist perfekt. Es hat sehr viel Spaß gemacht, weil man in diesen 90 Minuten einfach sehr viel über den Fußball lernt und man sich so viel abschauen kann.
Denken Sie da an einen bestimmten Spieler?
Natürlich habe ich ganz besonders auf Spieler geachtet, die auf meiner Position spielen. Makoto Hasebe war damals Kapitän der Japaner und hat als Sechser gespielt. Bei ihm habe ich in jeder Situation gesehen, wie unfassbar clever er ist. Er ist ein verhältnismäßig kleiner und schmächtiger Fußballer, spielt aber auf einer Position, auf der man Zweikämpfe gewinnen muss. Die Art, wie er das macht, ist beeindruckend.
Inwiefern?
Zum Beispiel hat er kein einziges Kopfballduell verloren. Der Mann ist gerade mal 1,80 Meter groß. Während unser Stürmer bei langen Bällen immer den Ball im Blick hatte, hat sich Hasebe gar nicht für ihn interessiert, sondern nur auf unseren Stürmer geguckt. Kurz bevor der hochgesprungen ist, hat Hasebe ihm einfach einen kleinen Rempler gegeben oder sich ihm in den Weg gestellt. Er hat keinen einzigen Zweikampf, kein einziges Luftduell verloren.
Wie sieht Ihr Karriereplan aktuell aus?
Ich bin im Moment wirklich glücklich bei Chennaiyin und freue mich auf die letzten Wochen hier. Ende Februar wird die Saison enden und mein Vertrag auslaufen, dann werde ich mich mit dem Verein zusammensetzten und schauen, wie es weitergeht. Die Saison lief bisher ganz gut für mich, nachdem ich zunächst wegen Visaproblemen einen Großteil der Vorbereitung verpasst hatte. Mittlerweile habe ich in sieben Spielen in der Startformation gestanden. Ich könnte mir vorstellen, hier zu bleiben, zunächst steht aber eine lange Pause an, die ich gerne auch überbrücken würde.
In Deutschland?
Nein, ich denke, ich werde in Asien bleiben und könnte mir auch vorstellen, noch einmal für ein paar Monate nach Bangladesch zurückzukehren. Ich bin keine 25 mehr, fünf Monate keinen Fußball zu spielen, ist für mich eigentlich keine Option.