Udo Lattek war Rekordtrainer der Bundesliga. Manche Weggefährten sind überzeugt, dass er eine magische Anziehungskraft auf Titel ausübt. Andere glauben, dass er stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Für unsere Jubiläumsausgabe 11FREUNDE #138 „50 Jahre Bundesliga“ zeichnete Tim Jürgens das Leben des Kult-Trainers nach.
Michael Meier war schon besser drauf gewesen. Der Manager von Bayer Leverkusen verdaute im April 1989 gerade seine erste große Trainerentlassung: Rinus Michels, Erfinder des „Totaalvoetbal“, war beim Werksklub kolossal gescheitert. Am Ende hatte der „General“ dem traurigen Meier die Arbeit erleichtert und von sich aus den Rücktritt angeboten. Ein Freund erkundigte sich, wie es denn nun weitergehe. Als der Manager mit den Schultern zuckte, sagte er: „Michael, denk nach: Was Bayer 04 jetzt braucht, ist Erfolg und ein bisschen Glück. Und welcher Trainer hat mehr als genug davon?“ Meier überlegte. Auf wen passte so ein Schema? Der Freund half ihm auf die Sprünge: „Udo Lattek!“
Ein schlechter Scherz, dachte Meier. Schließlich hatte der graue Trainerwolf nach Jahren im Spitzenfußball gerade erst die Seiten gewechselt und sich als Chefreporter der „Sport-Bild“ neu erfunden. Statt auf morastigen Trainingsplätzen trieb sich Lattek neuerdings in VIP-Räumen und auf Pressetribünen herum. „Sport-Bild“-Chef Werner Köster wusste aus seiner Zusammenarbeit mit dem Erfolgscoach, der schon viele Jahre nebenbei Kolumnen für die Springer-Medien, verfasste, dass Lattek ein gutes Gespür für Geschichten hatte. Und: „Udo hatte den Mut, Texte zu schreiben“, so Köster, „mit denen er anecken konnte.“ Mediendienste errechneten, dass die Präsenz, die Latteks Verpflichtung dem Blatt zum Start im Februar 1988 einbrachte, einem Werbewert von rund zwei Millionen Mark entsprach. Und diesem Überläufer sollte Meier die Verantwortung für die schlingernde Werkself übergeben? Nie im Leben!
Lattek und seine Studierten
Schon als Student der Kölner Sporthochschule in den sechziger Jahren hatte Udo Lattek von einer Karriere als Sportreporter geträumt. Doch spätestens nachdem er im März 1970 auf der Bank des FC Bayern Platz genommen hatte, vergaß er diesen Wunsch und machte stattdessen das Sammeln von Fußballtrophäen zu seiner Profession. Der kumpelhafte Führungsstil des damals 35-Jährigen kam gut bei den Akteuren an. Und auch die Journalisten, die von Latteks Vorgänger Branko Zebec oft noch nicht mal ignoriert worden waren, freundeten sich mit ihm an. Es war, als würde mit dem Amtsantritt des gebürtigen Ostpreußen in Sachen Bundesligaberichterstattung der Schalter von Schwarzweiß auf Farbe umgelegt. Schon seine Verpflichtung inszenierte er wie ein Roadmovie: Der Marschbefehl des FC Bayern habe ihn in Köln um 4.30 Uhr am Morgen des 13. März 1970 erreicht. Am Nachmittag sei er im Trainingslager in Bad Wiessee aufgeschlagen, wo er „Kicker“-Redakteuren launig in die Notizblöcke diktierte: „Ich habe an einem 13. geheiratet und führe seit Jahren eine glückliche Ehe. Ich habe am Freitag, den 13. den FC Bayern übernommen und bin sicher, dass auch diese Ehe gut gehen wird.“
Da stand plötzlich ein Trainerjungspund mit hoher Stirn, der nicht nur auf Nachfrage Einwortsätze sprach, sondern bereitwillig und zumeist druckreif Auskunft erteilte. Raimund Hinko, damals Bayern-Reporter der „Bild“, sagt: „Er repräsentierte eine neue Dimension von Trainer, er ging auf jede Reporterfrage ein und bügelte nicht, wie viele Kollegen damals, nur drüber.“ Aufgrund seiner Nähe zu den jungen Wilden, zu Uli Hoeneß, Paul Breitner und Rainer Zobel, war er vielen Altvorderen beim FC Bayern verdächtig. „Lattek und seine Studierten“, hieß es abschätzig. Der Trainer wusste, dass er Verbündete bei der Presse gut gebrauchen konnte. Er ging also auf die Bedürfnisse der Zeitungsleute ein, beichtete ihnen sogar Sorgen und Nöte, wenn es sein musste, und zog sie sukzessiv auf seine Seite.„Er haute ab und zu Dinger raus“, sagt Raimund Hinko, „die sich jeder andere vorher erst zwei, drei Mal überlegt hätte.“
Die Journalisten kapierten schnell: Wenn sie sich gut mit ihm stellten, war er nie um eine gute Geschichte verlegen. Und wenn doch mal etwas erschien, was ihm nicht passte, nahm Lattek sich den Autoren donnernd zur Brust – und lud ihn anschließend auf ein Herrengedeck ein. „Wenn die Zeitungen mal richtig drauf gehauen haben, überzog ich sie mit einem Boykott“, erinnert sich Udo Lattek im März 2013 bei einem Kölsch in seiner Kölner Stammkneipe, „und der dauerte dann genau einen halben Tag.“
„Ich gehöre ja auch zu den Großen“
Viel konnten sie ihm in seiner Münchner Zeit ohnehin nicht vorwerfen. Lattek trainierte zwischen 1970 und ’75 eine Mannschaft, die wie ein Sektkorken auf den Wogen der Zeit tänzelte. Und versagte die Elf ausnahmsweise mal, bat er am Sonntagmorgen nicht zum strapaziösen „Auslaufen“, sondern öfter auch mal zum „Aussaufen“. Stark am Brett zu sein, gehörte zu seinem Habitus. „Die großen Trainer haben alle gesoffen: Weisweiler, Happel, Zebec“, konterte Lattek den Vorwurf des unverbesserlichen Partylöwen, „und ich gehöre ja auch zu den Großen.“
Selbst Misserfolgen nahm er die Melancholie, indem er sie öffentlich mit einer gut formulierten Pointe versah. Als er im Januar 1975 in München entlassen wurde, begründete er seinen Abgang damit, ihm sei beim Terminstress das Kerngeschäft abhandengekommen: „Wir haben so viel gespielt, dass wir nur noch auf den Flügeln der Flugzeuge trainiert haben.“ Versatzstücke aus dem rhetorischen Baukasten a là „Ja gut, ich sach mal …“ waren Latteks Sache nie.
Wo er seinen Platz im Pantheon der Bundesliga sah, hatte er seinem Studienfreund Erich Ribbeck schon während der gemeinsamen Zeit an der Uni prophezeit: „Erich, du wirst der schönste Trainer. Aber ich, ich werde der größte.“ Bei Erlangung dieses Ziels war ihm sein feines Gespür für Timing sehr hilfreich. Lattek war fast immer zur richtigen Zeit am rechten Ort. In München trainierte er die weltbeste Mannschaft dieser Zeit. Dann wurde er Nachfolger von Hennes Weisweiler in Mönchengladbach, wo die Borussia mit Spielern wie Jupp Heynckes und Alan Simonsen ebenfalls im Zenit ihrer Schaffenskraft stand. Der langjährige Physiotherapeut der Borussia, „Charly“ Stock, ist bis heute überzeugt, dass der Coach eine magische Anziehungskraft auf das Glück ausübte: „Udo konnte die Zeit nach vorne drehen. Wenn es in Spielen bei ihm mal eng wurde, hatte man das Gefühl, die Uhr würde nicht langsamer, sondern schneller laufen.“ Und so gelang es Lattek bis 1987 – neben Ottmar Hitzfeld – zum erfolgreichsten deutschen Trainer aller Zeiten zu werden: Acht Meistertitel und vier Pokalsiege zieren seine Bilanz, dazu drei Europacupsiege mit dem FC Bayern, Borussia Mönchengladbach und dem FC Barcelona.
Die Bundesliga: eine Entertainmentbranche
Doch 17 Jahre lang stetig aufs Neue um höchste Weihen des Profifußballs zu ringen, zerrt mächtig am Nervenkostüm. 1987 verabschiedete sich Lattek vorläufig von der Trainerbank. Als Eigentümer eines Bungalows im Kölner Stadtteil Löwenich signalisierte der 52-Jährige dem ortsansässigen FC, er habe zwar genug davon, bei Wind und Wetter auf Trainingsplätzen herumzukrakeelen. Für einen Job als Sportdirektor aber stehe er jederzeit zur Verfügung. Das Kölner Präsidium ließ sich nicht lange bitten. Bald setzte sich der Coach a. D. in weißen Tennissocken und einem blauen Wollpulli auf die Tribüne – und der FC gewann. Und weil das grelle Oberteil auffiel und der Geißbockklub 15 Mal in Folge den Platz nicht als Verlierer verließ, war für die Presse bald klar, dass allein Latteks wachender Blick und sein drolliges Strickteil, das er aus Angst vor Dieben angeblich im Tresor aufbewahrte, für die Erfolge verantwortlich waren. Nicht etwa Trainer Christoph Daum, der damals noch als ruhiger Zeitgenosse galt. „Wenn Udo damals nicht diese unglaubliche Wahrnehmung wegen des Pullovers gehabt hätte“, bilanziert Michael Meier, „wäre Daum nie zum ›Cassius Clay vom Rhein‹ mutiert.“
Wie ein gelehriger Schüler machte sich der manische Schnauzbartträger Daum Latteks bildhafte Sprache und den Hang zur Symbolik zu eigen. Und so fügte es sich, dass Lattek im Mai 1989 an Daums Seite erneut zum Hauptakteur einer weiteren medialen Bundesligasternstunde wurde. Im „Sportstudio“-Streitgespräch mit Uli Hoeneß und Jupp Heynckes trat er gewissermaßen als Daums Anwalt auf. Während der Coach verbal auf die Bayern-Granden eindrosch, nutzte Lattek die Bühne, um Werbung für sein „Sport-Bild“-Engagement zu machen. Und stellte öffentlich klar, was die Bundesliga für ihn in erster Linie sei: eine Entertainmentbranche. Der von Daum heraufbeschworene Konflikt, so konstatierte Lattek, sei langfristig als Werbung und nicht als Skandal für die Liga zu bewerten. So wie er Anfang der Siebziger ein Paradiesvogel gewesen war, der den vom militärischen Drill geprägten Trainerstil reformierte, nutzte nun sein Epigone die Medien mit reichlich Verve, um seine Botschaft bekanntzumachen. Dennoch oblag es dem PR-Dino Lattek, das „Sportstudio“-Theater schließlich mit der Frage an seinen einstigen Spieler Uli Hoeneß als große Show zu entlarven: „Ist es nicht legitim, dass ein Trainer versucht, den anderen zu verunsichern?“
Dann wollte er es doch noch mal wissen. Sein Engagement bei Schalke 04 in der Saison 1992/93 endete zwar schon nach sechs Monaten. Doch die Zeit reichte Lattek, um sich nochmals ins kollektive Langzeitgedächtnis einzubrennen. Am ersten Spieltag ging er, gelabelt wie ein Formel-1-Pilot, mit hochrotem Kopf und einer eckigen Sponsorenkappe bei Moderator Reinhold Beckmann in den verbalen Infight. Lattek polterte wie ein Rentner, den die Kinder aus dem Nachbargarten mit Kirschkernen beschießen – und wieder stimmte sein Timing. Denn die erste „Ran“-Sendung, in der Beckmann das Interview führte, war für Deutschland so was wie die Geburtsstunde des modernen Fußballs. Und Lattek avancierte ungewollt zum in die Jahre gekommenen Kastellan, der im kreischigen Outfit die Pforte zu diesem neuen Zeitalter öffnete.
Der Experte am TV-Stammtisch
Den Wechsel in die Altersteilzeit hatte er sich redlich verdient. Einst hatten sich Journalisten nach Spielen zu ihm an den Tresen geschummelt, um andächtig seinen Anekdoten zu lauschen. Irgendwann soll er sogar mal angeschickert mit einem Reporter die Fresken in einer Hotellobby zur Zielscheibe umfunktioniert und mit Obst beworfen haben. Was lag da näher, als ab 1995 den feuchtfröhlichen Fußballtalk mit Lattek zu institutionalisieren und ihn zum Experten am TV-Stammtisch im „Doppelpass“ zu machen, an dem er bis 2011 in 786 Sendungen den Ton angeben sollte? Und wenn sich dort die Journalisten mal wieder die Köpfe heiß geredet hatten, setzte sich der weise Häuptling im Sessel auf, fuhr den Zeigefinger aus und beendete den Halbwissenskongress mit Sätzen wie: „Also, ich habe grade noch mit Ottmar gesprochen, und er hat gesagt …“
Die Pointe seiner Laufbahn als Pendler zwischen sportlicher und medialer Fußballwelt aber sollte noch folgen. Im April 2000 schob Michael Meier, nun Manager bei Borussia Dortmund, wieder mal Frust. Unter Bernd Krauss hatte der BVB elf Mal in Folge nicht gewonnen. Abstiegsangst paralysierte die Millionentruppe. Das Profil des Retters, der Meier vorschwebte, lautete: Ein Mann, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, für Erfolg steht und auf das Glück vertraut. Da fiel ihm der Tipp des Freundes aus Leverkusener Zeit wieder ein. Und diesmal rief er Udo Lattek an. Er konnte die Galionsfigur sein, die mit dem akribischen Matthias Sammer an der Seite die Borussia vor dem Schlimmsten bewahrte.
Als Latteks Comeback allmählich ruchbar wurde, glaubten viele Journalisten, die Dortmunder Führung habe endgültig den Verstand verloren. Doch der schlohweiße Veteran hatte nichts von seinem Gespür für mediale Bedürfnisse eingebüßt. Am ersten Tag rauschte er in die Umkleide der Profis, von denen viele 1997 noch die Champions League gewonnen hatten. Er riss alle Türen und Fenster auf und brüllte: „Hier muss dringend gelüftet werden!“ Dann nahm er sich die Leitwölfe Jürgen Kohler und Andreas Möller zur Brust. „Wie viele Titel habt ihr?“ Ehe einer von beiden antworten konnte, schnauzte er: „Vergesst die Frage: Ich habe sowieso mehr!“ Lattek drohte, wer sich nicht reinhänge solle daran denken, dass seine Mission nur wenige Wochen dauere. „Dann bin ich wieder Journalist und mache jeden platt, der hier nicht spurt.“
Das Glück als treuer Gefährte
Während Sammer dem Team beim Training Beine machte, empfing Lattek die Journalisten im Hotel „Lennhof“ und lieferte ein minutiöses Protokoll seiner Arbeit für den Klassenerhalt. Mit viel Detailliebe schilderte er Abendessen mit Präsident Gerd Niebaum („Gab Spargel und Schinken“) oder Michael Meier („Wieder Spargel, aber diesmal mit Ei. Als Meier kam, war er platt wie ein Blatt – als er ging, passte er nicht mehr durch die Tür.“) Lattek verkündete, ulkte und schlagzeilte. Und die Journalisten schrieben munter ihre Aufmacher, derweil die Mannschaft geräuscharm zurück in die Spur fand. Latteks Metamorphose des medienkompatiblen Trainers zum coachenden PR-Attaché war vollendet. Und der Beweis erbracht, dass im modernen Fußball, wo alles ständig nach neuen Überschriften giert, sportliche Faktoren allein nicht mehr ausreichen, um ein Team zum Erfolg zu führen.
Als die BVB-Elf schließlich doch noch dem Abstieg entronnen war, stand der 65-Jährige bis aufs Unterhemd nassgeschwitzt vor einem Wald aus Mikrofonen und ließ die Reporter wieder mal an seinem Seelenleben teilhaben. „Manchmal habe ich gedacht, mir wird schwarz vor Augen“, sprach er, „und ich falle von der Bank.“ Lattek war ganz in seinem Element. Der furiose Schlussakkord einer großen Karriere. Und das Glück war ihm einmal mehr ein treuer Gefährte gewesen.