Straßenkids aus Marokko, Todesfälle an der Grenze, islamistische Ghettos: Die spanische Exklave Melilla klingt nach Ärger. Mittendrin: UD Melilla. Und der Traum von der zweiten Liga.
Seit 1998 ist die Stadt von einem Zaun umschlossen. Zunächst war dieser kaum hüfthoch und sollte vor mit Cholera infizierten Tieren schützen. Doch nach und nach wurde der Zaun auf sechs Meter erhöht, ein zweiter und dritter kamen dazu. Außerdem: rasiermesserscharfer Stacheldraht, Wachtürme, Wärmebildkameras. Trotzdem versuchen Flüchtlinge, vor allem aus den Ländern südlich der Sahara, den Zaun zu überklettern.
Manche sterben bei dem Versuch, weil sie verbluten oder weil ihre Knochen brechen oder weil ihnen das Herz stehenbleibt. Andere werden, Angaben von Hilfsorganisationen zufolge, von der spanischen Polizei zurück nach Marokko geprügelt. Ohne die ihnen eigentlich rechtlich zustehende Chance zu bekommen, in Melilla Asyl zu beantragen. Die Bilder von abgekämpften Gestalten, die auf dem Zaun hocken und versuchen Europa zu erreichen, während Golfer auf der spanischen Seite des Zaunes unbeeindruckt davon abschlagen, gingen um die Welt. Was macht es mit den Menschen in Melilla, wenn direkt vor ihrer Tür Menschen auf grausame Weise umkommen? Wie lebt es sich in einem Käfig? Und wie bekommt man Fußballer hierher, die doch auch bei anderen Drittligateams in entspannten Städtchen wie Murcia oder Huelva oder Marbella ihr Geld verdienen könnten?
Zwei Tage vor dem Chaos am Checkpoint steht Andrès auf der Haupttribüne im wunderbar aus der Zeit gefallenen Estadio Alvarez Claro, dem Stadion seines Heimatvereins UD Melilla. „Wenn ihr ein verrücktes Spiel erleben wollt“, sagt er und deutet quer über den Platz, „dann geht ihr später auf die andere Seite. Die Jungs, die dort sitzen werden, sind irre. Sie saufen, rauchen Hasch und beleidigen den Gegner mit Worten, die es eigentlich gar nicht gibt!“ Andrès fängt jetzt, eine Stunde vor Anpfiff des Spitzenspiels gegen CD Badajoz, an zu schwärmen. Vom Team, von Trainer Luis Carrion und von dessen Philosophie. „Wir spielen Tiki-Taka, offensiv, immer nach vorne. Wir wollen den Ball.“
„Die Jungs, die dort sitzen, sind irre“
So habe man sich die Tabellenführung erspielt und so werde man auch in den Playoffs zur zweiten spanischen Liga erstmals überhaupt erfolgreich sein. UD Melilla in der zweiten Liga? „Plötzlich kämen Gästefans her, Touristen, positive Schlagzeilen. Es wäre der Wahnsinn!“ Andrès selber ist eigentlich Ingenieur, einer von nur vieren in Melilla. Aber bei Heimspielen macht er den Sound und die Durchsagen. „Ich bin ja eh hier.“ Er kenne sich außerdem super aus in der Stadt und könne Besuchern hier alles zeigen. Das beste Essen, die Grenze, den Zaun, die Strände, das angeblich zweitgefährlichste Viertel Europas namens „La Cañada“. „Nach dem Spiel. Oder morgen. Oder übermorgen. Abgemacht?“ Abgemacht.
Eine Stunde später, andere Stadionseite, bei den Irren. Das Spiel hat gerade erst angefangen, Melilla tut sich schwer mit den körperlich überlegenen Gästen. Zwar räumt Abwehrchef Soufiane Chakla, bis vor Kurzem marokkanischer U21-Nationalspieler, hinten alles weg. Und im Angriff wuselt Oscar Garcia, ein untersetzter Stürmer, der schon in Neuseeland, Norwegen und Kasachstan sein Geld verdient hat. Aber noch fehlt die zündende Idee.
Fast 3000 Zuschauer sind gekommen, zum ersten Mal überhaupt sogar eine Art Ultragruppe mit Trommeln und Trompete und Trikots. Die Irren sitzen abseits der Ultras, in Zivil, und machen ihr eigenes Ding. Rauchen, trinken, futtern Sonnenblumenkerne, fluchen. „Allez, allez Pepinho!“, schreit ein bäriger Kerl Rechtsverteidiger Pepe Romero zu, der jetzt mal etwas Dampf machen soll. „Chatarra“ – „Elektroschrott“ – brüllt ein anderer in Richtung eines Badajoz-Spielers, was die Sache mit den erfundenen Beleidigungen erklärt. Hinter den Brüllenden sitzt ein oberkörperfreier Trinker im mitgebrachten Campingstuhl, trägt einen Strohhut und brabbelt wirres Zeug. Daneben ein zahnloser Typ mit Knasttätowierungen, der alle zehn Minuten einen verklebten Plastikbeutel mit Hasch aus der Hosentasche fummelt, um dann in seiner Handfläche zigarrendicke Joints zu rollen. „Fumar?“