Straßenkids aus Marokko, Todesfälle an der Grenze, islamistische Ghettos: Die spanische Exklave Melilla klingt nach Ärger. Mittendrin: UD Melilla. Und der Traum von der zweiten Liga.
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Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Heute: Ein Klub aus Marokko träumt von der 2. spanischen Liga.
Spätestens am Checkpoint von Farrakhan begreift man, dass Melilla auf dem Papier zwar zur Europäischen Union gehört, man den Leuten hier aber eher nicht mit Paragrafen, Richtlinien und Vorschriften aus Brüssel zu kommen braucht. Farrakhan ist einer von vier Grenzübergängen nach Marokko, und jetzt gerade, an einem stinknormalen Dienstagmittag im Mai, warten hunderte Autos mit hunderten aufgebrachten Marokkanern darauf, dass sie mit ihrer Schmuggelware, dem Alkohol, den Säften, den Energy Drinks, endlich raus aus Melilla und rein in die Heimat können.
Eigentlich sollen sie mit ihren verbeulten E‑Klassen – fast alle fahren verbeulte E‑Klassen – eine Schlange bilden. Doch die Menschen fahren kreuz und quer. Fahrzeuge verkannten sich, Männer stapfen wutentbrannt die Straße entlang, eine alte Frau versucht mit ihren Händen, ein Auto gegen den Willen des Fahrers aufzuhalten. Und wird einfach zur Seite geschoben. Andere stehen in der Tür und brüllen arabische Flüche in die Mittagshitze. Im Hintergrund thronen die sechs Meter hohen Grenzzäune, die Melilla von Marokko trennen und die die EU von den Flüchtlingen aus den südlichen Ländern Afrikas abschotten sollen. Im Vordergrund sieht man jetzt einen Marokkaner, der austickt.
„Für uns ist das ganz normal“
Er zieht sich fluchend einen Schuh aus, nimmt diesen schlagbereit in die Hand und stürmt auf einen anderen Kerl zu. Sofort bildet sich ein Menschenknäuel. Man sieht nicht genau, wer sich prügeln und wer schlichten will, doch nach wenigen Sekunden wird der Schuhschläger von einem jüngeren Mann am Hals, zurück zu seinem Auto gezerrt. „Hombre“, sagt Pablo, der aus Melilla kommt und der die Szene von einem kleinen Hügel aus beobachtet. „Hombre“, sagt Pablo also, „this is not Europe!“
Pablo ist heute mit dabei, weil er sich in den heiklen Ecken der Stadt gut auskennt. Und weil er ein Kumpel ist von Andrès Aragon Martinez. Der wiederum gibt für die Tage, in denen 11 FREUNDE Melilla besucht, so etwas wie den Reiseführer. Und ist unter anderem Stadionsprecher von UD Melilla. Von dem Klub also, der nächste Saison in der zweiten spanischen Liga spielen könnte, obwohl die Stadt eigentlich auf dem afrikanischen Kontinent liegt. „So ist das hier jeden Tag“, sagt er, 33 Jahre alt, drahtige Figur, dunkle Augen, feste Zahnspange. „Die Menschen, die mehr Geld an die marokkanische Mafia abdrücken, stehen weiter vorne und kommen schneller rein. Diejenigen, die weniger zahlen, versuchen sich vorzudrängeln. Die Polizisten beider Länder wissen Bescheid und kassieren mit. Es wirkt verrückt. Aber für uns ist das ganz normal.“
Dabei ist diese Stadt sicher vieles, aber ganz bestimmt nicht normal. Denn Melilla, das ist ein 13,5 Quadratkilometer kleines und 90 000 Einwohner volles Fleckchen Spanien im oberen Zipfel Afrikas. Zum Vergleich: Die Stadt Lucka in Thüringen ist etwa genau so groß. Dort leben 3700 Menschen. Im Osten wird Melilla begrenzt durch das Mittelmeer, in allen anderen Himmelsrichtungen durch das Königreich Marokko. 1497 eroberte die spanische Krone die Stadt, die fortan verteidigt und über die Jahrhunderte zu einem wichtigen Militärstützpunkt ausgebaut wurde.
Spaniens ehemaliger faschistischer Diktator Franco stieg hier zum General auf, von Melilla aus entfachte er 1936 den Spanischen Bürgerkrieg. Bis heute sind etwa 3000 Soldaten hier stationiert. Und bis heute gehört Melilla zu Spanien und zur EU. Weshalb Flüchtlinge aus aller Welt versuchen, über Melilla (oder die andere spanische Exklave Ceuta) die EU zu erreichen.
Seit 1998 ist die Stadt von einem Zaun umschlossen. Zunächst war dieser kaum hüfthoch und sollte vor mit Cholera infizierten Tieren schützen. Doch nach und nach wurde der Zaun auf sechs Meter erhöht, ein zweiter und dritter kamen dazu. Außerdem: rasiermesserscharfer Stacheldraht, Wachtürme, Wärmebildkameras. Trotzdem versuchen Flüchtlinge, vor allem aus den Ländern südlich der Sahara, den Zaun zu überklettern.
Manche sterben bei dem Versuch, weil sie verbluten oder weil ihre Knochen brechen oder weil ihnen das Herz stehenbleibt. Andere werden, Angaben von Hilfsorganisationen zufolge, von der spanischen Polizei zurück nach Marokko geprügelt. Ohne die ihnen eigentlich rechtlich zustehende Chance zu bekommen, in Melilla Asyl zu beantragen. Die Bilder von abgekämpften Gestalten, die auf dem Zaun hocken und versuchen Europa zu erreichen, während Golfer auf der spanischen Seite des Zaunes unbeeindruckt davon abschlagen, gingen um die Welt. Was macht es mit den Menschen in Melilla, wenn direkt vor ihrer Tür Menschen auf grausame Weise umkommen? Wie lebt es sich in einem Käfig? Und wie bekommt man Fußballer hierher, die doch auch bei anderen Drittligateams in entspannten Städtchen wie Murcia oder Huelva oder Marbella ihr Geld verdienen könnten?
Zwei Tage vor dem Chaos am Checkpoint steht Andrès auf der Haupttribüne im wunderbar aus der Zeit gefallenen Estadio Alvarez Claro, dem Stadion seines Heimatvereins UD Melilla. „Wenn ihr ein verrücktes Spiel erleben wollt“, sagt er und deutet quer über den Platz, „dann geht ihr später auf die andere Seite. Die Jungs, die dort sitzen werden, sind irre. Sie saufen, rauchen Hasch und beleidigen den Gegner mit Worten, die es eigentlich gar nicht gibt!“ Andrès fängt jetzt, eine Stunde vor Anpfiff des Spitzenspiels gegen CD Badajoz, an zu schwärmen. Vom Team, von Trainer Luis Carrion und von dessen Philosophie. „Wir spielen Tiki-Taka, offensiv, immer nach vorne. Wir wollen den Ball.“
„Die Jungs, die dort sitzen, sind irre“
So habe man sich die Tabellenführung erspielt und so werde man auch in den Playoffs zur zweiten spanischen Liga erstmals überhaupt erfolgreich sein. UD Melilla in der zweiten Liga? „Plötzlich kämen Gästefans her, Touristen, positive Schlagzeilen. Es wäre der Wahnsinn!“ Andrès selber ist eigentlich Ingenieur, einer von nur vieren in Melilla. Aber bei Heimspielen macht er den Sound und die Durchsagen. „Ich bin ja eh hier.“ Er kenne sich außerdem super aus in der Stadt und könne Besuchern hier alles zeigen. Das beste Essen, die Grenze, den Zaun, die Strände, das angeblich zweitgefährlichste Viertel Europas namens „La Cañada“. „Nach dem Spiel. Oder morgen. Oder übermorgen. Abgemacht?“ Abgemacht.
Eine Stunde später, andere Stadionseite, bei den Irren. Das Spiel hat gerade erst angefangen, Melilla tut sich schwer mit den körperlich überlegenen Gästen. Zwar räumt Abwehrchef Soufiane Chakla, bis vor Kurzem marokkanischer U21-Nationalspieler, hinten alles weg. Und im Angriff wuselt Oscar Garcia, ein untersetzter Stürmer, der schon in Neuseeland, Norwegen und Kasachstan sein Geld verdient hat. Aber noch fehlt die zündende Idee.
Fast 3000 Zuschauer sind gekommen, zum ersten Mal überhaupt sogar eine Art Ultragruppe mit Trommeln und Trompete und Trikots. Die Irren sitzen abseits der Ultras, in Zivil, und machen ihr eigenes Ding. Rauchen, trinken, futtern Sonnenblumenkerne, fluchen. „Allez, allez Pepinho!“, schreit ein bäriger Kerl Rechtsverteidiger Pepe Romero zu, der jetzt mal etwas Dampf machen soll. „Chatarra“ – „Elektroschrott“ – brüllt ein anderer in Richtung eines Badajoz-Spielers, was die Sache mit den erfundenen Beleidigungen erklärt. Hinter den Brüllenden sitzt ein oberkörperfreier Trinker im mitgebrachten Campingstuhl, trägt einen Strohhut und brabbelt wirres Zeug. Daneben ein zahnloser Typ mit Knasttätowierungen, der alle zehn Minuten einen verklebten Plastikbeutel mit Hasch aus der Hosentasche fummelt, um dann in seiner Handfläche zigarrendicke Joints zu rollen. „Fumar?“
Hört man sich hier oder bei Andrès oder bei Spielern von UD Melilla um, wie es sich denn lebt in einer Stadt wie dieser, eingepfercht auf wenige Kilometer, umgeben von humanitären Krisen, dann folgt oft eine Gegenfrage: „Wie gefällt es denn euch?“ Und dann wird darauf verwiesen, dass Melilla ja eigentlich eine Stadt des Miteinanders sei. Seit fünf Jahrhunderten leben hier Muslime, Christen, Hindus und Juden auf engstem Raum zusammen.
Kinder mit Kippa auf dem Kopf spielen abends auf den sehr spanischen Plazas der Innenstadt Fußball. Fliegt ein Ball aus dem Spielfeld, rollen ihn Frauen in Kopftüchern zurück. Wer die größte Synagoge besuchen will, muss zunächst durch eine von einem muslimischen Wirt geführte Bar laufen. In der selbstverständlich Bier getrunken wird. Was Andrès und die Spieler allerdings nicht sagen: Melilla ist auch eine zutiefst widersprüchliche Angelegenheit, politisch geht längst ein tiefer Riss durch die Stadt.
Trotz des auf den Straßen wirklich sichtbaren Miteinanders ist die stramm rechte VOX-Partei, das spanische Pendant zur AfD, hier so stark wie fast nirgendwo sonst in Spanien. Das Verhältnis zwischen Muslimen, die mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung stellen, und alteingesessenen Spaniern und Militärs, die den Einfluss Marokkos fürchten und eine islamistische Verschwörung wittern, wird immer schlechter. Melilla ist außerdem die einzige Stadt des Landes, in der noch immer eine Franco-Statue steht.
Und schlendert man durch das kleine, europäisch wirkende Stadtzentrum mit seinen Jugendstilbauten und dem Parque Hernandez, schlendert man am kleinen Hafen entlang und hört die Musik aus den schicken Bars dröhnen, in denen die Melilla-Profis nach Siegen in Sonnenbrillen und weißen Hosen ihre drei Punkte feiern, dann kann man schnell vergessen, dass nur einige hundert Meter weiter marokkanische Straßenkids in Höhlen am Strand leben. Und dass nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt von hier, im marokkanischen Hinterland, knapp 5000 Menschen ausharren.
„Wie zum Teufel seid ihr auf uns gekommen?“
Auf dem Monte Gurugu, einem von überall in der Stadt gut sichtbaren Berg, leben sie in wilden Camps, aufgeteilt nach Herkunftsnationen. Und warten auf eine Chance, den Zaun zu bezwingen. Hilfsorganisationen wurde der Zutritt zu den Camps untersagt, die humanitäre Lage ist katastrophal. Entdecken marokkanische Sicherheitskräfte in den Wäldern eines der Lager, wird es niedergebrannt. 100 Millionen Euro ließ sich die EU diese Art von Grenzsicherung allein in den vergangenen zehn Jahren kosten.
Nach der Pause spielt Melilla großartigen Fußball. Das Team, gespickt mit Leihspielern und Wandervögeln, kombiniert sich mehr und mehr nach vorne und trifft nach einer Stunde zur erlösenden Führung. Die Ultras singen, die Irren lachen beschwipst. Melillas Pressesprecher sprintet mit rudernden Armen vor der Haupttribüne entlang, die Menschen klatschen und jubeln, das Bier, das laut den spanischen Ligaregeln gar nicht ausgeschenkt werden dürfte, fließt in Strömen. Zehn Minuten später trifft Menudo, ein trickreicher Zehner, zum zweiten Mal, und die Sache ist durch. „Noch zwei verdammte Spiele“, macht Kapitän Mohamed Mahanan seine Jungs direkt nach Abpfiff in der Kabine schon wieder heiß. Nur noch zwei Siege – und Melilla spielt die so lange ersehnte Aufstiegsrelegation.
Am Tag nach dem Spiel sitzt Luis Manuel Rincon in seinem Stadion. Er ist seit drei Jahren der Präsident von UD Melilla und hat in diesen Tagen oft gute Laune. Immerhin legt sein Team die beste Saison seit mehr als 30 Jahren hin. Seit 1987 spielt Melilla ununterbrochen in der drittklassigen Segunda Division B, länger als jedes andere Team. Trotzdem sagt Rincon: „Bevor ich kam, war Melilla ein Chaosklub. Gehälter wurden nicht bezahlt, der Verein war hoch verschuldet, Funktionäre machten sich die Taschen voll. Ich brauchte meine Erfahrung als IT-Unternehmer, um die Situation in den Griff zu bekommen.“ Rincon, 43 Jahre alt, seit seiner Kindheit Melillense, bräuchte nicht extra auf seinen Unternehmer-Background zu verweisen. Schließlich trägt er schwarze Slipper, khakifarbene Hosen, ein kariertes Hemd, darüber ein dunkelgrünes Jackett und eine rahmenlose Brille.
Und erzählt jetzt von den vier Säulen der Entwicklung. „Finanzielle Stabilität ermöglicht das Zusammenstellen einer schlagkräftigen Mannschaft. Diese zieht Fans an, und durch gute Kommunikation macht sich der Verein einen Namen.“ 1,5 Millionen Euro Schulden habe der Verein vor drei Jahren gehabt, als er anfing. Jetzt seien es nur noch 400 000 Euro. Ob es nicht schwer sei, Profis in eine Stadt wie Melilla zu bekommen? Nein, sagt Rincon. „Wir zahlen ja pünktlich. Das spricht sich rum.“ Man habe jetzt, in seinem dritten Jahr, den richtigen Mix aus jungen und erfahrenen Spielern, die Chemie stimme. Außerdem sei Trainer Carrion mit seiner mutigen Spielweise der richtige Mann zur richtigen Zeit. Umso mehr freut sich Rincon, wie alle hier, über die Aufmerksamkeit eines deutschen Magazins. Beziehungsweise fragt er das, was alle fragen: „Wie zum Teufel seid ihr auf uns gekommen?“
Dass es bei manchen Fußballfans beim Namen UD Melilla klingelt, hat vor allem mit Real Madrid zu tun. Denn im vergangenen Oktober mussten die Stars des glamourösesten Klubs der Welt in eine kleine Propellermaschine steigen, die sie dann zum nicht wesentlich größeren Flugplatz von Melilla flog, auf dem die Piloten noch auf Sicht landen müssen. Copa del Rey, Runde der letzten 32.
Als Madrid der Mannschaft zugelost wurde, richtete einer der Mitarbeiter von Luis Manuel Rincon gerade eine Kamera auf seinen Chef. Und El Presidente drehte in seinem Büro, das eigentlich eher ein Kabuff ist, vor Freude durch. Hüpfte auf und ab, umarmte seine Mitarbeiter, raufte sich ungläubig die Haare. Das Video wurde zum Renner in der Exklave. „Vor meinem Arbeitsantritt habe ich zu den Leuten gesagt: Irgendwann werde ich in diesem Stadion neben dem Präsidenten von Real Madrid, neben Señor Florentino Perez sitzen. Das habe ich jetzt immerhin schon geschafft.“ Das Spiel ging zwar mit 0:4 verloren, an das Erlebnis denken aber alle gerne zurück. Vor allem Kapitän Mohamed Mahanan.
Er ist einer von nur drei Spielern, die in Melilla geboren wurden, mittlerweile 35 Jahre alt und, man kann das sehen, wenn man ihn beim Training beobachtet, nicht ganz auf dem technischen Level seiner jüngeren Mitspieler. Bei den Aufwärmspielchen verspringen ihm Bälle, er bekommt dann von der Gruppe kumpelhafte Nackenklatscher. Wer zu doll zuschlägt, muss mit einem Tritt in den Hintern rechnen. Entkommen kann diesen keiner. Mahanan mag zwar älter sein als die anderen, aber er ist nach wie vor fast unverschämt gut austrainiert. Und ein hervorragender Geschichtenerzähler.
„Karim Benzema, den kennen Sie, oder?“ Schon als er die Anekdote anreißt, brechen die anderen Jungs, die seine Söhne sein könnten und jetzt, nach dem Training, um ihn herumstehen, in Gelächter aus. Sie wissen, was folgt. Mahanan steht auf und stellt die Szene, seine vielleicht größte jemals, möglichst originalgetreu nach. Wie er, der doch eigentlich recht hüftsteife Innenverteidiger, den französischen Superstürmer einfach ins Leere hatte laufen lassen. „Sehen Sie“, sagt er und lässt den imaginären Benzema mit einem leichten Wackler alt aussehen, „einfach so“.
Mahanan kennt den Verein und die Stadt wie kein Zweiter, seit 2005 spielt er für die erste Mannschaft, über einen Wechsel habe er nie nachgedacht. „Ich trage den Klub im Herzen“, sagt er. Wie er das mit dem Käfig wahrnimmt? Er kenne es ja nicht mehr anders. Außerdem habe er alles, was er brauche, hier in Melilla. Und der Zaun, die Flüchtlinge, all das Leid? „Wenn Menschen sich die Arme aufschlitzen, weil sie im Zaun hängenbleiben, dann lässt mich das nicht kalt. Überhaupt nicht, es tut mir weh. Aber: Dass Melilla nur deswegen wahrgenommen wird, ist ärgerlich. Diese Stadt stand stets für Toleranz. Ich bin Moslem, unsere Physiotherapeuten sind jüdisch. Wir leben hier alle zusammen.“
Außerdem, sagt er, sei es leicht, mit dem Finger auf Melilla zu zeigen. Dabei sei die Sache mit den Flüchtlingen eine Herausforderung, die alle in Europa gemeinsam zu lösen hätten. Der Pressesprecher ergänzt aus dem Hintergrund: „We are just the fucking door!“ Mahanan sagt: „Wir in Melilla können das nicht allein regeln.“
Zumal die kleine Stadt noch eine Reihe weiterer Probleme hat. Zum Beispiel die Situation der unbegleiteten Jugendlichen, die auf der Straße leben. Es sind vor allem Marokkaner, die durch ein Abkommen zwischen beiden Ländern relativ leicht nach Melilla einreisen können. Man sieht manche von ihnen in den Klippen unterhalb der alten Festung, wo sie in kleinen Höhlen übernachten und tagsüber umherklettern und Steine ins Mittelmeer schmeißen. Oder in Brachflächen in der Nähe des Hafens, wo sie rumhängen, Hasch rauchen und auf die nächste Gelegenheit zur Überfahrt warten. Bei Nacht versuchen sie dann, auf eine der großen Fähren zu klettern, die von Melilla aus das spanische Festland ansteuern. Meistens klappt das nicht. Etwa 50 leben derzeit auf den Straßen Melillas, sagt eine Ärztin, die versucht, die Jugendlichen medizinisch so gut es geht zu versorgen. Viele seien auf Drogen, manche bewaffnet. Die Stimmung ihnen gegenüber ist aufgeheizt in der Stadt.
„Es schmerzt mich“, sagt Soufiane Chakla und klopft sich aufs Herz. Melillas Abwehrchef ist selber in Marokko geboren. „Sie rufen nach mir auf der Straße, sie rufen: Souf, gib uns etwas Geld oder etwas zu essen. Ich gehe dann in einen Shop und besorge ihnen eine Kleinigkeit. Aber das ist keine Lösung. Marokko muss dafür sorgen, dass sie gar nicht erst abhauen wollen.“
Um ein anderes Problem zu verstehen, braucht man Fremdenführer Andrès. Und seinen Kumpel Pablo. Und ein Auto. Denn durch La Cañada, das durch islamistischen Terror zu zweifelhafter Berühmtheit gekommene Armenviertel nahe der marokkanischen Grenze, geht man als Fremder lieber nicht zu Fuß. „Hier gibt es alles“, sagt Andrès, „Knarren, Messer, Drogen.“
Je näher man dem Viertel kommt, das eigentlich nur ein kleiner Hügel mit etwa 12 000 Einwohnern ist (so genau weiß das niemand), desto staubiger werden die Straßen. Bunte Plastiktüten hängen zerfetzt in vertrockneten Pflanzen, verhüllte Frauen huschen über Trampelpfade. Alle 30 Sekunden fährt die Staatsgewalt vorbei, entweder in Form der Policia Local, der Policia National oder in Person von Camouflage-Soldaten auf kleinen Motorrädern.
„Sie beobachten genau, wer herkommt“
Das hat allerdings weniger mit La Cañada zu tun, sondern mehr mit der naheliegenden Grenze und den großen Kasernen dort. Auch der Hügel von La Cañada gehört eigentlich dem Militär. Doch irgendwann fingen marokkanische Einwanderer an, auf der brachliegenden Fläche zu bauen. Andere taten es ihnen gleich. Wasser und Strom wurden angezapft, mittlerweile führen nur noch enge Gassen und kleine Fußwege in das zugebaute Zentrum des Viertels, das von außen mit den in Pastellfarben gestrichenen Häusern längst aussieht wie Marokko. Die Polizei, so heißt es, traue sich nur noch mit mehreren Einsatzwagen her, wenn überhaupt. Spanien habe die Kontrolle über La Cañada verloren, schreiben Zeitungen.
Fährt man die Straße entlang, die einmal um den Hügel herumführt, sieht man ausgebrannte Autos, aufeinandergestapeltes Gerümpel und Graffiti an den Wänden. „Seht ihr das gelbe Haus“, fragt Andrès und zeigt auf einen unauffällig wirkenden Bau. „Das ist die Salam-Moschee.“ Die Salam-Moschee wurde in den vergangenen Jahren zu einem der dschihadistischen Hotspots Europas. Der mutmaßliche Bombenbauer der katalanischen Terroristen, die 2017 in Barcelona und in Cambrils 15 Menschen töteten und 120 verletzten, radikalisierte sich hier.
„Fotografieren dürft ihr nicht, wir können auch nicht anhalten“, sagt Andrès. „Zu gefährlich.“ Er deutet mit einer kurzen Handbewegung auf Männer in Kaftanen, die auf Campingstühlen am Straßenrand sitzen, böse gucken, aber scheinbar nichts zu tun haben. „Sie beobachten genau, wer herkommt. Sehen sie, dass jemand aus dem Auto heraus fotografiert, bekommen Pablo und ich in Zukunft Probleme.“ Und Probleme kann Andrès, der Stadionsprecher und Ingenieur und Reiseführer, wirklich nicht gebrauchen.
Ist man mit ihm unterwegs, erzählt er viel von großen Plänen und Projekten. Ehe man sich versieht, zeichnet er dann auf einem Blatt Papier Skizzen der aktuellen Sitzplatzverteilung im Stadtparlament auf. 25 Sitze hat das, aktuell reagiert die konservative PP mit absoluter Mehrheit. Noch. Denn längst grabe die VOX-Partei den Konservativen das Wasser ab. „Bei den kommenden Wahlen könnten sie 6000 Stimmen bekommen.“
Andrès steht, sagt er, mit allen wichtigen Politikern der Stadt in Kontakt. Hört sich an, was wer an Projekten für ihn zu bieten hat. Denn, wenn alles gut läuft, das hat zumindest der muslimische Kandidat ihm versprochen, dann hat er bald vielleicht einen dicken Fisch an der Angel. „Steigt Melilla auf, muss das Stadion eine Reihe von Auflagen erfüllen. So dass es eigentlich sinnvoller wäre, ein neues zu bauen.“ Dafür gibt es in der Stadt aber keinen Platz. Die Lösung: Andrès baut mit Geld, dass ihm die muslimische Partei bereitstellt, einen neuen Flughafen. Ins Meer. Zumindest für Andrès lässt sich mit der Begrenztheit Melillas gutes Geld verdienen.
Zurück im Estadio Alvarez Claro, zurück bei Präsident Luis Manuel Rincon. Ob es einem hier gefalle, fragt auch er. Es ist, nun ja, sehr interessant. „Es gibt ein Sprichwort“, sagt Rincon dann. „Wenn du in Melilla ankommst, musst du weinen. Und wenn du Melilla wieder verlassen musst, weinst du auch.“ Was unter dem Strich bedeutet: In Melilla, am Tor zu Europa, werden jede Menge Tränen vergossen.
Anmerkung: UD Melilla beendete die Saison mit zwei unnötigen Niederlagen und landete schlussendlich nur auf Platz Drei der Tabelle. Trotzdem wurden die Playoffs erreicht. In der ersten Runde setzte sich das Team aus der Exklave gegen die zweite Mannschaft von Villarreal durch. Wenig später war der Traum von der zweiten Liga trotzdem geplatzt. Gegen Atletico Baleares verlor Melilla nach einem 0:0 im Hinspiel auswärts denkbar knapp mit 0:1 – und verpasste so die dritte und entscheidende Playoff-Runde.