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20 JAHRE 11FREUNDE!

Kommt mit uns auf eine wilde Fahrt durch 20 Jahre Fuß­ball­kultur: Am 23. März erschien​„DAS GROSSE 11FREUNDE BUCH“ mit den besten Geschichten, den ein­drucks­vollsten Bil­dern und skur­rilsten Anek­doten aus zwei Jahr­zehnten 11FREUNDE. In unserem Jubi­lä­ums­band erwarten euch eine opu­lente Werk­schau mit unzäh­ligen unver­öf­fent­lichten Fotos, humor­vollen Essays, Inter­views und Back­s­tages-Sto­ries aus der Redak­tion. Beson­deres Leckerli für unsere Dau­er­kar­ten­in­haber: Wenn ihr das Buch bei uns im 11FREUNDE SHOP bestellt, gibt’s ein 11FREUNDE Notiz­buch oben­drauf. Hier könnt ihr das Buch be­stellen.

Außerdem prä­sen­tieren wir euch an dieser Stelle in den kom­menden Wochen wei­tere spek­ta­ku­läre Repor­tagen, Inter­views und Bil­der­se­rien. Heute: Ein Klub aus Marokko träumt von der 2. spa­ni­schen Liga.

11 Freunde Das große 11 Freunde Buch Kopie

Spä­tes­tens am Check­point von Farr­akhan begreift man, dass Mel­illa auf dem Papier zwar zur Euro­päi­schen Union gehört, man den Leuten hier aber eher nicht mit Para­grafen, Richt­li­nien und Vor­schriften aus Brüssel zu kommen braucht. Farr­akhan ist einer von vier Grenz­über­gängen nach Marokko, und jetzt gerade, an einem stink­nor­malen Diens­tag­mittag im Mai, warten hun­derte Autos mit hun­derten auf­ge­brachten Marok­ka­nern darauf, dass sie mit ihrer Schmug­gel­ware, dem Alkohol, den Säften, den Energy Drinks, end­lich raus aus Mel­illa und rein in die Heimat können.

Eigent­lich sollen sie mit ihren ver­beulten E‑Klassen – fast alle fahren ver­beulte E‑Klassen – eine Schlange bilden. Doch die Men­schen fahren kreuz und quer. Fahr­zeuge ver­kannten sich, Männer stapfen wut­ent­brannt die Straße ent­lang, eine alte Frau ver­sucht mit ihren Händen, ein Auto gegen den Willen des Fah­rers auf­zu­halten. Und wird ein­fach zur Seite geschoben. Andere stehen in der Tür und brüllen ara­bi­sche Flüche in die Mit­tags­hitze. Im Hin­ter­grund thronen die sechs Meter hohen Grenz­zäune, die Mel­illa von Marokko trennen und die die EU von den Flücht­lingen aus den süd­li­chen Län­dern Afrikas abschotten sollen. Im Vor­der­grund sieht man jetzt einen Marok­kaner, der aus­tickt.

Für uns ist das ganz normal“

Er zieht sich flu­chend einen Schuh aus, nimmt diesen schlag­be­reit in die Hand und stürmt auf einen anderen Kerl zu. Sofort bildet sich ein Men­schen­knäuel. Man sieht nicht genau, wer sich prü­geln und wer schlichten will, doch nach wenigen Sekunden wird der Schuh­schläger von einem jün­geren Mann am Hals, zurück zu seinem Auto gezerrt. Hombre“, sagt Pablo, der aus Mel­illa kommt und der die Szene von einem kleinen Hügel aus beob­achtet. Hombre“, sagt Pablo also, this is not Europe!“

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Valentin Fischer

Pablo ist heute mit dabei, weil er sich in den heiklen Ecken der Stadt gut aus­kennt. Und weil er ein Kumpel ist von Andrès Aragon Mar­tinez. Der wie­derum gibt für die Tage, in denen 11 FREUNDE Mel­illa besucht, so etwas wie den Rei­se­führer. Und ist unter anderem Sta­di­on­spre­cher von UD Mel­illa. Von dem Klub also, der nächste Saison in der zweiten spa­ni­schen Liga spielen könnte, obwohl die Stadt eigent­lich auf dem afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent liegt. So ist das hier jeden Tag“, sagt er, 33 Jahre alt, drah­tige Figur, dunkle Augen, feste Zahn­spange. Die Men­schen, die mehr Geld an die marok­ka­ni­sche Mafia abdrü­cken, stehen weiter vorne und kommen schneller rein. Die­je­nigen, die weniger zahlen, ver­su­chen sich vor­zu­drän­geln. Die Poli­zisten beider Länder wissen Bescheid und kas­sieren mit. Es wirkt ver­rückt. Aber für uns ist das ganz normal.“

Flücht­linge aus aller Welt ver­su­chen, Mel­illa zu errei­chen

Dabei ist diese Stadt sicher vieles, aber ganz bestimmt nicht normal. Denn Mel­illa, das ist ein 13,5 Qua­drat­ki­lo­meter kleines und 90 000 Ein­wohner volles Fleck­chen Spa­nien im oberen Zipfel Afrikas. Zum Ver­gleich: Die Stadt Lucka in Thü­ringen ist etwa genau so groß. Dort leben 3700 Men­schen. Im Osten wird Mel­illa begrenzt durch das Mit­tel­meer, in allen anderen Him­mels­rich­tungen durch das König­reich Marokko. 1497 eroberte die spa­ni­sche Krone die Stadt, die fortan ver­tei­digt und über die Jahr­hun­derte zu einem wich­tigen Mili­tär­stütz­punkt aus­ge­baut wurde.

Spa­niens ehe­ma­liger faschis­ti­scher Dik­tator Franco stieg hier zum General auf, von Mel­illa aus ent­fachte er 1936 den Spa­ni­schen Bür­ger­krieg. Bis heute sind etwa 3000 Sol­daten hier sta­tio­niert. Und bis heute gehört Mel­illa zu Spa­nien und zur EU. Wes­halb Flücht­linge aus aller Welt ver­su­chen, über Mel­illa (oder die andere spa­ni­sche Exklave Ceuta) die EU zu errei­chen.

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Valentin Fischer

Seit 1998 ist die Stadt von einem Zaun umschlossen. Zunächst war dieser kaum hüft­hoch und sollte vor mit Cho­lera infi­zierten Tieren schützen. Doch nach und nach wurde der Zaun auf sechs Meter erhöht, ein zweiter und dritter kamen dazu. Außerdem: rasier­mes­ser­scharfer Sta­chel­draht, Wach­türme, Wär­me­bild­ka­meras. Trotzdem ver­su­chen Flücht­linge, vor allem aus den Län­dern süd­lich der Sahara, den Zaun zu über­klet­tern.

Manche sterben bei dem Ver­such, weil sie ver­bluten oder weil ihre Kno­chen bre­chen oder weil ihnen das Herz ste­hen­bleibt. Andere werden, Angaben von Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen zufolge, von der spa­ni­schen Polizei zurück nach Marokko geprü­gelt. Ohne die ihnen eigent­lich recht­lich zuste­hende Chance zu bekommen, in Mel­illa Asyl zu bean­tragen. Die Bilder von abge­kämpften Gestalten, die auf dem Zaun hocken und ver­su­chen Europa zu errei­chen, wäh­rend Golfer auf der spa­ni­schen Seite des Zaunes unbe­ein­druckt davon abschlagen, gingen um die Welt. Was macht es mit den Men­schen in Mel­illa, wenn direkt vor ihrer Tür Men­schen auf grau­same Weise umkommen? Wie lebt es sich in einem Käfig? Und wie bekommt man Fuß­baller hierher, die doch auch bei anderen Dritt­li­ga­teams in ent­spannten Städt­chen wie Murcia oder Huelva oder Mar­bella ihr Geld ver­dienen könnten?

Zwei Tage vor dem Chaos am Check­point steht Andrès auf der Haupt­tri­büne im wun­derbar aus der Zeit gefal­lenen Estadio Alvarez Claro, dem Sta­dion seines Hei­mat­ver­eins UD Mel­illa. Wenn ihr ein ver­rücktes Spiel erleben wollt“, sagt er und deutet quer über den Platz, dann geht ihr später auf die andere Seite. Die Jungs, die dort sitzen werden, sind irre. Sie saufen, rau­chen Hasch und belei­digen den Gegner mit Worten, die es eigent­lich gar nicht gibt!“ Andrès fängt jetzt, eine Stunde vor Anpfiff des Spit­zen­spiels gegen CD Bad­ajoz, an zu schwärmen. Vom Team, von Trainer Luis Car­rion und von dessen Phi­lo­so­phie. Wir spielen Tiki-Taka, offensiv, immer nach vorne. Wir wollen den Ball.“

Die Jungs, die dort sitzen, sind irre“

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Valentin Fischer

So habe man sich die Tabel­len­füh­rung erspielt und so werde man auch in den Play­offs zur zweiten spa­ni­schen Liga erst­mals über­haupt erfolg­reich sein. UD Mel­illa in der zweiten Liga? Plötz­lich kämen Gäs­te­fans her, Tou­risten, posi­tive Schlag­zeilen. Es wäre der Wahn­sinn!“ Andrès selber ist eigent­lich Inge­nieur, einer von nur vieren in Mel­illa. Aber bei Heim­spielen macht er den Sound und die Durch­sagen. Ich bin ja eh hier.“ Er kenne sich außerdem super aus in der Stadt und könne Besu­chern hier alles zeigen. Das beste Essen, die Grenze, den Zaun, die Strände, das angeb­lich zweit­ge­fähr­lichste Viertel Europas namens La Cañada“. Nach dem Spiel. Oder morgen. Oder über­morgen. Abge­macht?“ Abge­macht.

Eine Stunde später, andere Sta­di­on­seite, bei den Irren. Das Spiel hat gerade erst ange­fangen, Mel­illa tut sich schwer mit den kör­per­lich über­le­genen Gästen. Zwar räumt Abwehr­chef Sou­fiane Chakla, bis vor Kurzem marok­ka­ni­scher U21-Natio­nal­spieler, hinten alles weg. Und im Angriff wuselt Oscar Garcia, ein unter­setzter Stürmer, der schon in Neu­see­land, Nor­wegen und Kasach­stan sein Geld ver­dient hat. Aber noch fehlt die zün­dende Idee.

Fumar?

Fast 3000 Zuschauer sind gekommen, zum ersten Mal über­haupt sogar eine Art Ultra­gruppe mit Trom­meln und Trom­pete und Tri­kots. Die Irren sitzen abseits der Ultras, in Zivil, und machen ihr eigenes Ding. Rau­chen, trinken, fut­tern Son­nen­blu­men­kerne, flu­chen. Allez, allez Pepinho!“, schreit ein bäriger Kerl Rechts­ver­tei­diger Pepe Romero zu, der jetzt mal etwas Dampf machen soll. Chat­arra“ – Elek­tro­schrott“ – brüllt ein anderer in Rich­tung eines Bad­ajoz-Spie­lers, was die Sache mit den erfun­denen Belei­di­gungen erklärt. Hinter den Brül­lenden sitzt ein ober­kör­per­freier Trinker im mit­ge­brachten Cam­ping­stuhl, trägt einen Strohhut und brab­belt wirres Zeug. Daneben ein zahn­loser Typ mit Knast­tä­to­wie­rungen, der alle zehn Minuten einen ver­klebten Plas­tik­beutel mit Hasch aus der Hosen­ta­sche fum­melt, um dann in seiner Hand­fläche zigar­ren­dicke Joints zu rollen. Fumar?“

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Valentin Fischer

Hört man sich hier oder bei Andrès oder bei Spie­lern von UD Mel­illa um, wie es sich denn lebt in einer Stadt wie dieser, ein­ge­pfercht auf wenige Kilo­meter, umgeben von huma­ni­tären Krisen, dann folgt oft eine Gegen­frage: Wie gefällt es denn euch?“ Und dann wird darauf ver­wiesen, dass Mel­illa ja eigent­lich eine Stadt des Mit­ein­an­ders sei. Seit fünf Jahr­hun­derten leben hier Mus­lime, Christen, Hindus und Juden auf engstem Raum zusammen.

Kinder mit Kippa auf dem Kopf spielen abends auf den sehr spa­ni­schen Plazas der Innen­stadt Fuß­ball. Fliegt ein Ball aus dem Spiel­feld, rollen ihn Frauen in Kopf­tü­chern zurück. Wer die größte Syn­agoge besu­chen will, muss zunächst durch eine von einem mus­li­mi­schen Wirt geführte Bar laufen. In der selbst­ver­ständ­lich Bier getrunken wird. Was Andrès und die Spieler aller­dings nicht sagen: Mel­illa ist auch eine zutiefst wider­sprüch­liche Ange­le­gen­heit, poli­tisch geht längst ein tiefer Riss durch die Stadt.

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Valentin Fischer

Trotz des auf den Straßen wirk­lich sicht­baren Mit­ein­an­ders ist die stramm rechte VOX-Partei, das spa­ni­sche Pen­dant zur AfD, hier so stark wie fast nir­gendwo sonst in Spa­nien. Das Ver­hältnis zwi­schen Mus­limen, die mitt­ler­weile die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung stellen, und alt­ein­ge­ses­senen Spa­niern und Mili­tärs, die den Ein­fluss Marokkos fürchten und eine isla­mis­ti­sche Ver­schwö­rung wit­tern, wird immer schlechter. Mel­illa ist außerdem die ein­zige Stadt des Landes, in der noch immer eine Franco-Statue steht.

Und schlen­dert man durch das kleine, euro­pä­isch wir­kende Stadt­zen­trum mit seinen Jugend­stil­bauten und dem Parque Her­nandez, schlen­dert man am kleinen Hafen ent­lang und hört die Musik aus den schi­cken Bars dröhnen, in denen die Mel­illa-Profis nach Siegen in Son­nen­brillen und weißen Hosen ihre drei Punkte feiern, dann kann man schnell ver­gessen, dass nur einige hun­dert Meter weiter marok­ka­ni­sche Stra­ßen­kids in Höhlen am Strand leben. Und dass nur wenige Kilo­meter Luft­linie ent­fernt von hier, im marok­ka­ni­schen Hin­ter­land, knapp 5000 Men­schen aus­harren.

Wie zum Teufel seid ihr auf uns gekommen?“

Auf dem Monte Gurugu, einem von überall in der Stadt gut sicht­baren Berg, leben sie in wilden Camps, auf­ge­teilt nach Her­kunfts­na­tionen. Und warten auf eine Chance, den Zaun zu bezwingen. Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen wurde der Zutritt zu den Camps unter­sagt, die huma­ni­täre Lage ist kata­stro­phal. Ent­de­cken marok­ka­ni­sche Sicher­heits­kräfte in den Wäl­dern eines der Lager, wird es nie­der­ge­brannt. 100 Mil­lionen Euro ließ sich die EU diese Art von Grenz­si­che­rung allein in den ver­gan­genen zehn Jahren kosten.

Nach der Pause spielt Mel­illa groß­ar­tigen Fuß­ball. Das Team, gespickt mit Leih­spie­lern und Wan­der­vö­geln, kom­bi­niert sich mehr und mehr nach vorne und trifft nach einer Stunde zur erlö­senden Füh­rung. Die Ultras singen, die Irren lachen beschwipst. Mel­illas Pres­se­spre­cher sprintet mit rudernden Armen vor der Haupt­tri­büne ent­lang, die Men­schen klat­schen und jubeln, das Bier, das laut den spa­ni­schen Liga­re­geln gar nicht aus­ge­schenkt werden dürfte, fließt in Strömen. Zehn Minuten später trifft Menudo, ein trick­rei­cher Zehner, zum zweiten Mal, und die Sache ist durch. Noch zwei ver­dammte Spiele“, macht Kapitän Mohamed Mahanan seine Jungs direkt nach Abpfiff in der Kabine schon wieder heiß. Nur noch zwei Siege – und Mel­illa spielt die so lange ersehnte Auf­stiegs­re­le­ga­tion.

Am Tag nach dem Spiel sitzt Luis Manuel Rincon in seinem Sta­dion. Er ist seit drei Jahren der Prä­si­dent von UD Mel­illa und hat in diesen Tagen oft gute Laune. Immerhin legt sein Team die beste Saison seit mehr als 30 Jahren hin. Seit 1987 spielt Mel­illa unun­ter­bro­chen in der dritt­klas­sigen Segunda Divi­sion B, länger als jedes andere Team. Trotzdem sagt Rincon: Bevor ich kam, war Mel­illa ein Cha­os­klub. Gehälter wurden nicht bezahlt, der Verein war hoch ver­schuldet, Funk­tio­näre machten sich die Taschen voll. Ich brauchte meine Erfah­rung als IT-Unter­nehmer, um die Situa­tion in den Griff zu bekommen.“ Rincon, 43 Jahre alt, seit seiner Kind­heit Mel­il­lense, bräuchte nicht extra auf seinen Unter­nehmer-Back­ground zu ver­weisen. Schließ­lich trägt er schwarze Slipper, kha­ki­far­bene Hosen, ein kariertes Hemd, dar­über ein dun­kel­grünes Jackett und eine rah­men­lose Brille.

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Mel­illa-Prä­si­dent Luis Manuel Rincon

Valentin Fischer

Und erzählt jetzt von den vier Säulen der Ent­wick­lung. Finan­zi­elle Sta­bi­lität ermög­licht das Zusam­men­stellen einer schlag­kräf­tigen Mann­schaft. Diese zieht Fans an, und durch gute Kom­mu­ni­ka­tion macht sich der Verein einen Namen.“ 1,5 Mil­lionen Euro Schulden habe der Verein vor drei Jahren gehabt, als er anfing. Jetzt seien es nur noch 400 000 Euro. Ob es nicht schwer sei, Profis in eine Stadt wie Mel­illa zu bekommen? Nein, sagt Rincon. Wir zahlen ja pünkt­lich. Das spricht sich rum.“ Man habe jetzt, in seinem dritten Jahr, den rich­tigen Mix aus jungen und erfah­renen Spie­lern, die Chemie stimme. Außerdem sei Trainer Car­rion mit seiner mutigen Spiel­weise der rich­tige Mann zur rich­tigen Zeit. Umso mehr freut sich Rincon, wie alle hier, über die Auf­merk­sam­keit eines deut­schen Maga­zins. Bezie­hungs­weise fragt er das, was alle fragen: Wie zum Teufel seid ihr auf uns gekommen?“ 

Dass es bei man­chen Fuß­ball­fans beim Namen UD Mel­illa klin­gelt, hat vor allem mit Real Madrid zu tun. Denn im ver­gan­genen Oktober mussten die Stars des gla­mou­rö­sesten Klubs der Welt in eine kleine Pro­pel­ler­ma­schine steigen, die sie dann zum nicht wesent­lich grö­ßeren Flug­platz von Mel­illa flog, auf dem die Piloten noch auf Sicht landen müssen. Copa del Rey, Runde der letzten 32.

Als Madrid der Mann­schaft zuge­lost wurde, rich­tete einer der Mit­ar­beiter von Luis Manuel Rincon gerade eine Kamera auf seinen Chef. Und El Pre­si­dente drehte in seinem Büro, das eigent­lich eher ein Kabuff ist, vor Freude durch. Hüpfte auf und ab, umarmte seine Mit­ar­beiter, raufte sich ungläubig die Haare. Das Video wurde zum Renner in der Exklave. Vor meinem Arbeits­an­tritt habe ich zu den Leuten gesagt: Irgend­wann werde ich in diesem Sta­dion neben dem Prä­si­denten von Real Madrid, neben Señor Flo­ren­tino Perez sitzen. Das habe ich jetzt immerhin schon geschafft.“ Das Spiel ging zwar mit 0:4 ver­loren, an das Erlebnis denken aber alle gerne zurück. Vor allem Kapitän Mohamed Mahanan.

Er ist einer von nur drei Spie­lern, die in Mel­illa geboren wurden, mitt­ler­weile 35 Jahre alt und, man kann das sehen, wenn man ihn beim Trai­ning beob­achtet, nicht ganz auf dem tech­ni­schen Level seiner jün­geren Mit­spieler. Bei den Auf­wärm­spiel­chen ver­springen ihm Bälle, er bekommt dann von der Gruppe kum­pel­hafte Nacken­klat­scher. Wer zu doll zuschlägt, muss mit einem Tritt in den Hin­tern rechnen. Ent­kommen kann diesen keiner. Mahanan mag zwar älter sein als die anderen, aber er ist nach wie vor fast unver­schämt gut aus­trai­niert. Und ein her­vor­ra­gender Geschich­ten­er­zähler.

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Kapitän Mohamed Mahanan wurde in Mel­illa geboren und sagt: Diese Stadt stand stets für Tole­ranz.“

Valentin Fischer

We are just the fucking door!“

Karim Ben­zema, den kennen Sie, oder?“ Schon als er die Anek­dote anreißt, bre­chen die anderen Jungs, die seine Söhne sein könnten und jetzt, nach dem Trai­ning, um ihn her­um­stehen, in Gelächter aus. Sie wissen, was folgt. Mahanan steht auf und stellt die Szene, seine viel­leicht größte jemals, mög­lichst ori­gi­nal­ge­treu nach. Wie er, der doch eigent­lich recht hüft­steife Innen­ver­tei­diger, den fran­zö­si­schen Super­stürmer ein­fach ins Leere hatte laufen lassen. Sehen Sie“, sagt er und lässt den ima­gi­nären Ben­zema mit einem leichten Wackler alt aus­sehen, ein­fach so“.

Mahanan kennt den Verein und die Stadt wie kein Zweiter, seit 2005 spielt er für die erste Mann­schaft, über einen Wechsel habe er nie nach­ge­dacht. Ich trage den Klub im Herzen“, sagt er. Wie er das mit dem Käfig wahr­nimmt? Er kenne es ja nicht mehr anders. Außerdem habe er alles, was er brauche, hier in Mel­illa. Und der Zaun, die Flücht­linge, all das Leid? Wenn Men­schen sich die Arme auf­schlitzen, weil sie im Zaun hän­gen­bleiben, dann lässt mich das nicht kalt. Über­haupt nicht, es tut mir weh. Aber: Dass Mel­illa nur des­wegen wahr­ge­nommen wird, ist ärger­lich. Diese Stadt stand stets für Tole­ranz. Ich bin Moslem, unsere Phy­sio­the­ra­peuten sind jüdisch. Wir leben hier alle zusammen.“

Außerdem, sagt er, sei es leicht, mit dem Finger auf Mel­illa zu zeigen. Dabei sei die Sache mit den Flücht­lingen eine Her­aus­for­de­rung, die alle in Europa gemeinsam zu lösen hätten. Der Pres­se­spre­cher ergänzt aus dem Hin­ter­grund: We are just the fucking door!“ Mahanan sagt: Wir in Mel­illa können das nicht allein regeln.“

Zumal die kleine Stadt noch eine Reihe wei­terer Pro­bleme hat. Zum Bei­spiel die Situa­tion der unbe­glei­teten Jugend­li­chen, die auf der Straße leben. Es sind vor allem Marok­kaner, die durch ein Abkommen zwi­schen beiden Län­dern relativ leicht nach Mel­illa ein­reisen können. Man sieht manche von ihnen in den Klippen unter­halb der alten Fes­tung, wo sie in kleinen Höhlen über­nachten und tags­über umher­klet­tern und Steine ins Mit­tel­meer schmeißen. Oder in Brach­flä­chen in der Nähe des Hafens, wo sie rum­hängen, Hasch rau­chen und auf die nächste Gele­gen­heit zur Über­fahrt warten. Bei Nacht ver­su­chen sie dann, auf eine der großen Fähren zu klet­tern, die von Mel­illa aus das spa­ni­sche Fest­land ansteuern. Meis­tens klappt das nicht. Etwa 50 leben der­zeit auf den Straßen Mel­illas, sagt eine Ärztin, die ver­sucht, die Jugend­li­chen medi­zi­nisch so gut es geht zu ver­sorgen. Viele seien auf Drogen, manche bewaffnet. Die Stim­mung ihnen gegen­über ist auf­ge­heizt in der Stadt.

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Abwehr­chef Sou­fiane Chakla ist Marok­kaner. Manchmal kauft er den Stra­ßen­jungs eine Klei­nig­keit zu essen.

Valentin Fischer

Es schmerzt mich“, sagt Sou­fiane Chakla und klopft sich aufs Herz. Mel­illas Abwehr­chef ist selber in Marokko geboren. Sie rufen nach mir auf der Straße, sie rufen: Souf, gib uns etwas Geld oder etwas zu essen. Ich gehe dann in einen Shop und besorge ihnen eine Klei­nig­keit. Aber das ist keine Lösung. Marokko muss dafür sorgen, dass sie gar nicht erst abhauen wollen.“ 

Um ein anderes Pro­blem zu ver­stehen, braucht man Frem­den­führer Andrès. Und seinen Kumpel Pablo. Und ein Auto. Denn durch La Cañada, das durch isla­mis­ti­schen Terror zu zwei­fel­hafter Berühmt­heit gekom­mene Armen­viertel nahe der marok­ka­ni­schen Grenze, geht man als Fremder lieber nicht zu Fuß. Hier gibt es alles“, sagt Andrès, Knarren, Messer, Drogen.“

Je näher man dem Viertel kommt, das eigent­lich nur ein kleiner Hügel mit etwa 12 000 Ein­woh­nern ist (so genau weiß das nie­mand), desto stau­biger werden die Straßen. Bunte Plas­tik­tüten hängen zer­fetzt in ver­trock­neten Pflanzen, ver­hüllte Frauen huschen über Tram­pel­pfade. Alle 30 Sekunden fährt die Staats­ge­walt vorbei, ent­weder in Form der Policia Local, der Policia National oder in Person von Camou­flage-Sol­daten auf kleinen Motor­rä­dern.

Sie beob­achten genau, wer her­kommt“

Das hat aller­dings weniger mit La Cañada zu tun, son­dern mehr mit der nahe­lie­genden Grenze und den großen Kasernen dort. Auch der Hügel von La Cañada gehört eigent­lich dem Militär. Doch irgend­wann fingen marok­ka­ni­sche Ein­wan­derer an, auf der brach­lie­genden Fläche zu bauen. Andere taten es ihnen gleich. Wasser und Strom wurden ange­zapft, mitt­ler­weile führen nur noch enge Gassen und kleine Fuß­wege in das zuge­baute Zen­trum des Vier­tels, das von außen mit den in Pas­tell­farben gestri­chenen Häu­sern längst aus­sieht wie Marokko. Die Polizei, so heißt es, traue sich nur noch mit meh­reren Ein­satz­wagen her, wenn über­haupt. Spa­nien habe die Kon­trolle über La Cañada ver­loren, schreiben Zei­tungen.

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La Canada gilt als heißes Pflaster.

Valentin Fischer

Fährt man die Straße ent­lang, die einmal um den Hügel her­um­führt, sieht man aus­ge­brannte Autos, auf­ein­an­der­ge­sta­peltes Gerümpel und Graf­fiti an den Wänden. Seht ihr das gelbe Haus“, fragt Andrès und zeigt auf einen unauf­fällig wir­kenden Bau. Das ist die Salam-Moschee.“ Die Salam-Moschee wurde in den ver­gan­genen Jahren zu einem der dschi­ha­dis­ti­schen Hot­spots Europas. Der mut­maß­liche Bom­ben­bauer der kata­la­ni­schen Ter­ro­risten, die 2017 in Bar­ce­lona und in Cam­brils 15 Men­schen töteten und 120 ver­letzten, radi­ka­li­sierte sich hier.

Foto­gra­fieren dürft ihr nicht, wir können auch nicht anhalten“, sagt Andrès. Zu gefähr­lich.“ Er deutet mit einer kurzen Hand­be­we­gung auf Männer in Kaf­tanen, die auf Cam­ping­stühlen am Stra­ßen­rand sitzen, böse gucken, aber scheinbar nichts zu tun haben. Sie beob­achten genau, wer her­kommt. Sehen sie, dass jemand aus dem Auto heraus foto­gra­fiert, bekommen Pablo und ich in Zukunft Pro­bleme.“ Und Pro­bleme kann Andrès, der Sta­di­on­spre­cher und Inge­nieur und Rei­se­führer, wirk­lich nicht gebrau­chen.

In Mel­illa werden Tränen ver­gossen

Ist man mit ihm unter­wegs, erzählt er viel von großen Plänen und Pro­jekten. Ehe man sich ver­sieht, zeichnet er dann auf einem Blatt Papier Skizzen der aktu­ellen Sitz­platz­ver­tei­lung im Stadt­par­la­ment auf. 25 Sitze hat das, aktuell reagiert die kon­ser­va­tive PP mit abso­luter Mehr­heit. Noch. Denn längst grabe die VOX-Partei den Kon­ser­va­tiven das Wasser ab. Bei den kom­menden Wahlen könnten sie 6000 Stimmen bekommen.“

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Valentin Fischer

Andrès steht, sagt er, mit allen wich­tigen Poli­ti­kern der Stadt in Kon­takt. Hört sich an, was wer an Pro­jekten für ihn zu bieten hat. Denn, wenn alles gut läuft, das hat zumin­dest der mus­li­mi­sche Kan­didat ihm ver­spro­chen, dann hat er bald viel­leicht einen dicken Fisch an der Angel. Steigt Mel­illa auf, muss das Sta­dion eine Reihe von Auf­lagen erfüllen. So dass es eigent­lich sinn­voller wäre, ein neues zu bauen.“ Dafür gibt es in der Stadt aber keinen Platz. Die Lösung: Andrès baut mit Geld, dass ihm die mus­li­mi­sche Partei bereit­stellt, einen neuen Flug­hafen. Ins Meer. Zumin­dest für Andrès lässt sich mit der Begrenzt­heit Mel­illas gutes Geld ver­dienen. 

Zurück im Estadio Alvarez Claro, zurück bei Prä­si­dent Luis Manuel Rincon. Ob es einem hier gefalle, fragt auch er. Es ist, nun ja, sehr inter­es­sant. Es gibt ein Sprich­wort“, sagt Rincon dann. Wenn du in Mel­illa ankommst, musst du weinen. Und wenn du Mel­illa wieder ver­lassen musst, weinst du auch.“ Was unter dem Strich bedeutet: In Mel­illa, am Tor zu Europa, werden jede Menge Tränen ver­gossen. 

Anmer­kung: UD Mel­illa been­dete die Saison mit zwei unnö­tigen Nie­der­lagen und lan­dete schluss­end­lich nur auf Platz Drei der Tabelle. Trotzdem wurden die Play­offs erreicht. In der ersten Runde setzte sich das Team aus der Exklave gegen die zweite Mann­schaft von Vil­lar­real durch. Wenig später war der Traum von der zweiten Liga trotzdem geplatzt. Gegen Atle­tico Baleares verlor Mel­illa nach einem 0:0 im Hin­spiel aus­wärts denkbar knapp mit 0:1 – und ver­passte so die dritte und ent­schei­dende Playoff-Runde.