Am 5. April 1902 starben bei einer Stadionkatastrophe im Glasgower „Ibrox Park“ 26 Menschen, mehr als 500 wurden verletzt. Ein Tag des Horrors zwischen brechendem Holz, Stützpfeilern aus Eisen und einem Architekten als Rettungssanitäter.
Wie hört sich Holz an, das bricht? Wie das Geräusch von Menschen, die zehn Meter in die Tiefe fallen? Wie das Geschrei von Verwundeten, die zwischen zerborstenen Holzplanken eingeklemmt sind und doch eigentlich nur ein Fußballspiel sehen wollten?
Der 5. April 1902 ist ein Samstag. Im Glasgower Stadtteil Ibrox feiert sich der Fußball selbst. Schottland empfängt den Erzrivalen aus England. Kann es dafür eine bessere Bühne geben, als den „Ibrox Park“, die Heimstätte der Glasgow Rangers? 12.000 Pfund hat der Umbau des Architekten und Rangers-Fan Archibald Leitch gekostet, seit 1899 passen nun sagenhafte 75.000 Menschen in dieses Ungetüm aus Eisen und Holz. 75.000 Menschen! 21 Jahre bevor in London das Wembleystadion errichtet wird, ist Ibrox der Nabel der Fußballwelt. Zum Prestigeduell Schottland gegen England soll der „Ibrox Park“ erstmals seit dem Umbau komplett ausverkauft sein.
Unter dem Gewicht der Masse ächzt und stöhnt das Holz der Tribünen
Die Massen drängen auf die weitläufigen Tribünen. Inzwischen ist es 14.30 Uhr, noch eine Stunde bis zum Spielbeginn. Wie viele Menschen sich bereits ins Stadion gezwängt haben, kann niemand sagen. Den Ordnern und Polizisten vor den Eingängen ist der Menschenstrom nicht geheuer, sie versperren die Zugänge. In der Ehrenloge sitzt Archibald Leitch und beobachtet das Treiben. Der „Ibrox Park“ ist sein erstes Stadion. Leitch schätzt die Anzahl der Zuschauer auf etwa 80.000 Menschen, wie viele es wirklich sind, weiß bis heute niemand. Unter dem Gewicht der Masse ächzt und stöhnt das Holz der Tribünen. Leitch begibt sich auf einen letzten Kontrollgang.
Auf der Westseite beobachtet er zwei Bauarbeiter, die mit Hammer und Nagel zwei der breiten Stützpfeiler bearbeiten. Die mächtigen Teile haben sich bereits bedrohlich gebogen. Holz splittert, die Pfeiler brechen langsam weg. Zum Glück hat sich die Menge auf der Tribüne rechtzeitig aus der Gefahrenzone entfernt. Leitch atmet durch. Ein Missgeschick, wie es nun einmal vorkommen kann. Die restlichen Pfeiler, die meisten von ihnen aus Eisen, werden das Spiel ohne Probleme überstehen.
Wie Hefeteig in der Backform
15.30 Uhr: Das 31. Duell zwischen Schottland und England beginnt. Immer noch drängen Menschen auf die Tribüne auf der Westseite. Sie quellen aus den Eingängen wie Hefeteig in der Backform und drücken die Masse immer weiter zusammen.
16.41 Uhr: Einer der eisernen Stützpfeiler gibt nach. Die erste Planke, ganz oben auf der Tribüne, bricht. Noch eine. Und noch eine. In einer Kettenreaktion reißt das Gewicht der unkontrollierten Zuschauermasse ein 18 Meter langes und drei Meter breites Loch in die Holzkonstruktion. Immer mehr Menschen stürzen in diesen Krater, fallen zehn Meter tief und schlagen mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Körper fallen auf Körper oder werden zwischen zerknickten Holzpfeilern eingeklemmt. Eine Katastrophe.
Dutzende sind bereits abgestürzt, überrascht von Holz, dass ohne Vorwarnung unter ihren Füßen zerbrach. Hunderte stürmen nun panisch zu den Ausgängen, viele werden eingequetscht und bei den hilflosen Rettungsversuchen verletzt oder sogar erstickt. Archibald Leitch ist zur Westtribüne geeilt, notdürftig versucht der Achitekt Erste Hilfe zu leisten.
Währenddessen läuft das Spiel weiter. Erst Minuten nachdem die ersten Zuschauer vom Loch verschluckt worden sind, bricht der Schiedsrichter die Partie ab und führt die Mannschaften in die Katakomben. Rettungskräfte versuchen zur Unfallstelle vorzudringen und werden von Fußballfans auf der Flucht daran gehindert. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis alle Verletzten und Toten gerettet oder geborgen sind. Ein Pfiff ertönt, das Spiel geht weiter. Die Zuschauer jubeln. Die Partie endet 1:1.
Einen Tag später. In der Polizeistation von Govan, ein zu diesem Zeitpunkt von Glasgow unabhängiger Stadtteil, in dem knapp 40 Jahre später Alex Ferguson geboren wird, hängen Listen aus. Darauf vermerkt sind Namen, Adressen und Berufe derer, die bei dem Unglück getötet, oder so schwer verletzt worden sind, dass sie noch immer in den umliegenden Krankenhäusern behandelt werden. Die Bilanz eines Nachmittags: 26 Tote. 587 Verletzte. Ein gebrochener Stützpfeiler aus Eisen. 54 Quadratmeter gebrochenes Holz.
Das Spiel vom 5. April 1902 wird nicht gewertet
Das Spiel zwischen Schottland und England am 5. April 1902 wird nach Absprache beider Verbände aus Respekt vor den Toten nicht gewertet und am 3. Mai 1902 im Villa Park von Birmingham nachgeholt. Es endet Unentschieden, 2:2. Sämtliche Einnahmen werden den Hinterbliebenen der Opfer vom 5. April gespendet.
Jahre später steht Archibald Leitch gemeinsam mit dem für den Umbau des „Ibrox Park“ verantwortlichen Bauunternehmer vor Gericht. Leitch und der Bauherr, so die Anklage, hätten bewusst billiges Baumaterial benutzt, um so Kosten einzusparen. Beide Männer werden von allen Vorwürfen frei gesprochen. Die schier unberechenbare Masse der Zuschauer, die wellenartigen Bewegungen der immer massiver auf die Tribüne drängenden Menschen, habe den Pfeiler und schließlich den Holzboden einknicken lassen wie trockene Streichhölzer, so die Richter. Für die Reparatur der Schäden am Stadion, Kostenpunkt: immerhin 4000 Pfund, kommen die Glasgow Rangers auf. Zunächst auf 25.000 Zuschauer begrenzt, wird der „Ibrox Park“ anschließend in ein ovales Stadion für rund 63.000 Menschen umgebaut. Der Architekt heißt Archibald Leitch.
Leitch beginnt in der Folge eine faszinierende Karriere. Nacheinander entwirft er Anfield Road, Celtic Park, Craven Cottage, Highbury, Old Trafford, Stamford Brigde und 13 weitere britische Spielstätten. Noch bei der WM 1966 in England sind sechs der acht Stadien exakt nach den Plänen von Leitch gebaut.
Und nie wieder werden Eisen oder Holz als tragende Elemente eines Fußballstadions verwendet.