Schalke hat mit Christian Gross einen neuen Trainer und mit Sead Kolasinac einen neuen Wahnsinnigen, aber nur vage Aussichten auf weitere Verstärkungen. Die ersten Fans beginnen schon mit der Trauerarbeit.
In einer Woche, in der es mal wieder nicht leicht war, Anhänger des FC Schalke 04 zu sein, hat unser Leser Holger Brinschwitz eine lange Mail geschrieben. Der passionierte Schalke-Fan hat darin aufgelistet, welche Vereine wie oft abgestiegen sind, wie schnell sie im Schnitt in die Bundesliga zurückkehrten (vier Jahre). Er unterschied zwischen Fahrstuhlmannschaften wie dem FC St. Pauli, der in vier seiner sieben Bundesligaspielzeiten abstieg und Klubs wie Bremen, Dortmund oder Mainz, bei denen Abstiege bislang einmalige Betriebsunfälle waren. Im Rahmen seiner Trauerarbeit schaute er auf die ehemaligen Bundesligisten, die schon ewig lange in unteren Ligen festhängen. Dann schloss er: „Welchen Weg Schalke einschlagen wird, kann man nur mutmaßen. Man muss auch als Schalker so ehrlich sein, dass beide Szenarien zumindest denkbar wären.“
Um die Seelenlage von Fans wie Brinschwitz zu verstehen, hilft es, auf die fünf Phasen der Trauer zu schauen. Die erste Phase ist das Leugnen, dass das alles doch nicht wahr sein kann, die in den Zorn auf jene übergeht, die dafür verantwortlich sind. Auf den aussichtslosen Versuch, die Dinge wieder gut zu machen, folgt Depression über das Unabwendbare, und zuletzt akzeptiert man sein Schicksal. Typischerweise beschreiben diese fünf Phasen der Trauer zwar die Reaktion auf Todesfälle, aber bei anderen traumatisch erlebten Schicksalsschlägen läuft es ganz ähnlich ab, bei Trennungen etwa, bei Entlassungen – oder für Fußballfans eben auch bei Abstiegen.
Nun mag man es für verfrüht halten, Schalkes Gang in die Zweite Liga bereits zu akzeptieren, denn noch kein Bundesligist ist nach 14 Spieltagen abgestiegen. Dennoch muss man inzwischen eine wild wuchernde Phantasie haben, um sich vorstellen zu können, wie diese Mannschaft einen spektakulären Turnaround schaffen sollte. Das erste Spiel unter dem vierten Trainer der Saison, Christian Gross, war baugleich mit denen zuvor: ordentlicher Start, blitzartig sinkender Mut nach Gegentor, am Ende mit einem 0:3 bei Hertha BSC noch gut bedient. Gross wirkte anschließend beängstigend aus der Zeit gefallen und innerlich beteiligt wie ein zufällig vorbeigekommener Passant.
Die abwegige Idee, den zwar stets bemühten aber für diese Position viel zu langsamen Benjamin Stambouli gegen Herthas raketenschnelle Außenbahnspieler als Rechtsverteidiger aufzubieten, war nicht gerade vertrauensbildend. Der erneute Torwartwechsel kam auch wie ein Taschenspielertrick rüber, um einen Neuanfang zu signalisieren. Sportlich schlüssig ist er auch nicht. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinen Heydays beim FC Basel inszeniert sich Gross immer noch als Metaphernschmied. Man kann nur hoffen, dass er seinen Spielern weder den Haifischzahn gezeigt hat, den er um den Hals trägt, noch von seiner Mutter erzählt hat, die ihn Mut lehrte, weil sie Turmspringerin war.
Um den unguten Eindruck abzurunden forderte Gross in aller Öffentlichkeit gleich mal neue Spieler. Das sah seine Mannschaft auch so. „Es fehlen Qualität, Energie, Spielfreude“, stellte Alessandro Schöpf einen Totalschaden fest. Mark Uth sagte: „Wir brauchen jetzt Spieler, die uns sofort weiterhelfen.“ Die soll der zutiefst bemitleidenswerte Jochen Schneider heranschaffen. Ein sympathischer Mann, aber auch ein Manager von enorm trauriger Gestalt. Zumindest emotional gelungen ist Schneider etwas mit der Ausleihe von Sead Kolasinac. Mike Büskens, zuletzt Co-Trainer unter Interimscoach Huub Stevens, schrieb bei Instagram völlig aus dem Häuschen: „Endlich sehe ich den personifizierten Wahnsinn wieder im richtigen Trikot. In den letzten Wochen waren alle davon beseelt, Seo zurück an die Emscher zu holen.“
Kolasinac, in der Schalker Jugend ausgebildet, ist Fan des Klubs. Er machte eine Mottofahrt der Ultras Gelsenkirchen mit und sah 2017 das Spiel in Ingolstadt, bei dem er gesperrt war, aus dem Gästeblock. So ein Spieler würde überall geliebt. Nur soll der wilde Linksverteidiger fast schon im Alleingang die Schalker Verzagtheit vertreiben. Das ist vermutlich etwas viel verlangt von einem Spieler, der in dieser Saison beim kriselnden FC Arsenal gerade mal 727 Minuten eingesetzt wurde und das nur in nachrangigen Wettbewerben. In der Premier League machte er exakt ein Spiel. Die Abwehr ist zudem zwar einer der Brennpunkte bei Schalke, aber eigentlich fehlt vor allem ein Rechts- und kein Linksverteidiger. Und noch mehr fehlt es an Qualität im Angriff. Bei vielen Werten für ein erfolgreiches Offensivspiel steht Schalke auf einem Abstiegsplatz, ob bei den Pässen ins letzte Drittel oder der Zahl der Schüsse aufs Tor – von denen ins Tor (sieben) ganz zu schweigen.
Am Donnerstag wurde klar, dass der Klub bei möglichen Verstärkungen nicht auf Geld von Clemens Tönnies zurückgreifen wird, um mögliche Neueinkäufe wie auch immer zu finanzieren. Für den inneren Frieden des zerrissenen Klubs ist das sicherlich richtig, auf dem Transfermarkt wird es nun aber noch schwieriger. Ablösefreie Spieler oder Leihprofis der Kategorie „Soforthelfer“ zu finden, wäre ein Wunder. Dass sich der ausleihwillige Mitchell Weiser von Bayer Leverkusen gleich mal verletzte, passt ins Bild. Ob der formschwache Ozan Kabak mitten in einer Pandemie-Saison die bislang geforderten 25 Millionen Euro Ablöse bringt, ist mehr als fraglich. Der AC Mailand ist zwar schon länger interessiert, will aber nicht mehr als 15 Millionen bezahlen. Immerhin ist erst einmal Rabbi Matondo von der Payroll, der einst für neun Millionen Euro verpflichtet Spieler wurde zum englischen Zweitligisten Stoke City verliehen.
Die Aussichten von Schalke jedenfalls sind so düster, dass es für die Fans des Klubs vielleicht wirklich das beste ist, Holger Brinschwitz auf seinen Gedankenwegen zu folgen. „Ein wenig Hoffnung macht, dass nach fast einem Drittel aller Abstiege nach ein oder zwei Jahren direkt der Wiederaufstieg folgte“, macht er sich Mut. Denn selbst wenn es gerade nicht so aussieht: Auch für Schalke werden wieder bessere Tage kommen. Wann auch immer.