Deutschland gegen die Ukraine? War da nicht was? Genau: Die beiden größten Zitterspiele in der jüngeren Geschichte der Nationalelf.
Das Führungstor der Ukraine stürzte nicht nur die deutsche Werbewirtschaft sowie ARD und ZDF (plus möglicherweise 11Freunde) in eine existenzielle Krise, es warf auch den Matchplan der DFB-Elf über den Haufen. „Wir haben die beiden schnellsten Stürmer aufgestellt, die wir im Kader haben, um auf Konter spielen zu können“, hatte Co-Trainer Michael Skibbe vor dem Anpfiff gesagt und damit Gerald Asamoah und Alexander Zickler gemeint. Die etwas alberne Einblendung, mit der Sat.1 seine Übertragung begonnen hatte – eine kleine schwarz-rot-goldene Fahne mit einer stilisierten Hand und dem Motto „Daumen drücken“ links oben in der Ecke –, wirkte plötzlich gar nicht mehr so albern.
In der allergrößten Not besann sich die deutsche Elf auf ihre damals wichtigsten Tugenden. Nein, nicht Kampfkraft oder Entschlossenheit, sondern gute Standards und Kopfballstärke. Linke und Rehmer köpften zwei Ecken von Bernd Schneider innerhalb von einer Minute fast ins Netz, dann klappte es mit einem Freistoß besser: Zickler brachte die Stirn an die Flanke und lenkte den Ball an den langen Pfosten, wo Michael Ballack in der 31. Minute das Leder mit einem Spreizschritt über die Linie drückte. Viele Jahre später würde Völler über Ballack sagen, dass er „immer das 1:0 erzielte“. Dass ein 1:1 viel wichtiger sein kann, zeigte sich an diesem Herbsttag in Kiew. Denn weil Kahn noch zwei starke Paraden gegen den Horror zeigte, also Schewtschenko, reiste Deutschland mit einem guten Resultat in die Heimat. Am nächsten Tag titelte die „RevierSport“: „Schlappe Völlerei, aber Land des Lächelns winkt mit dem WM-Ticket.“
(Funfact am Rande: Die erste Meldung auf Seite zwei der Zeitschrift aus Essen hatte nichts mit dem Länderspiel zu tun. Sie lautete: „In der turnusmäßigen Sitzung am Freitag wurde Clemens Thönnies zum Vorsitzenden des Schalker Aufsichtsrates gewählt.“ In den nächsten neunzehn Jahren sollte man genügend Zeit bekommen, sich an die richtige Schreibweise des Namens zu gewöhnen.)
Im Rückspiel reichte vier Tage später nun schon ein 0:0, trotzdem ging man auf Nummer sicher – und spielte in Dortmund. Zehn Länderspiele hatte eine DFB-Auswahl zu diesem Zeitpunkt dort bestritten, und die Bilanz lautete: neun Siege, ein Unentschieden. Die stimmungsvolle Kulisse muss die Gäste beeindruckt haben, denn diesmal waren sie es, die konfus und nervös in die Partie starteten. Schon nach vier Minuten verlor der junge Andrij Nesmatschnyj am eigenen Strafraum den Ball, Schneider flankte wieder und Ballack traf erneut. Die Vorentscheidung fiel schon sieben Minuten später: Eine Ecke von – na, von wem wohl? – Schneider köpfte Rehmer aufs Tor, und obwohl Torwart Maxim Lewizki den Ball abwehren konnte, drückte Oliver Neuville den Abpraller ins Netz. Auch das 3:0 fiel nach einem Eckball, das 4:0 war wieder ein Kopfballtor, das 4:1 gelang Schewtschenko erst in der Nachspielzeit.
Nach dem Abpfiff hatte das Wort des Jahres noch einmal Hochkonjunktur. „So viel Druck habe ich in meiner Karriere noch nicht gespürt“, sagte Christian Ziege. „Die Erleichterung ist natürlich riesig“, erklärte Kahn. „Es war schon ein ziemlicher Druck.“ Und Ballack stellte fest: „Der Druck war enorm.“ Auch der Verband und das Trainergespann waren froh, dass alles glücklich überstanden worden war. Ein paar Wochen später saß Gerhard Mayer-Vorfelder, der Präsident des DFB, spät in der Nacht noch in der Bar eines Hotels am Frankfurter Rhein-Main-Flughafen und bestellte eine Flasche Champagner. Es gab etwas zu feiern, nämlich die Vertragsverlängerung des Teamchefs. Am nächsten Tag meldeten die Agenturen: „Bis 2006, also bis einschließlich der Weltmeisterschaft im eigenen Land, wird der 41 Jahre alte Rudi Völler seine Aufgabe erst einmal fortsetzen.“ Das aber wurde noch mal eine ganz andere Geschichte über Druck und seine Folgen.