Deutschland gegen die Ukraine? War da nicht was? Genau: Die beiden größten Zitterspiele in der jüngeren Geschichte der Nationalelf.
In den Wochen vor dem ersten Spiel gegen die Ukraine bewegten zwei Fragen die Nation. Erstens: Wie konnte man die totale Katastrophe abwenden? Immer wieder wurde der Name Ulf Kirsten genannt, obwohl der Stürmer stramm auf die 36 zuging und im Trikot mit dem Adler noch nie Bäume ausgerissen hatte. Zweitens: Was würde passieren, wenn die Sache schiefging? ARD und ZDF hatten für die Exklusivrechte an 24 Spielen der WM in Japan und Südkorea schlanke 220 Millionen Mark bezahlt. Aber würden sich die Menschen zwischen Flensburg und München auch um halb zwei mittags vor den Fernseher setzen, um Saudi-Arabien gegen die Ukraine zu sehen?
Selbst ein sympathisches kleines Familienmagazin musste für die Untergangs-Szenarien der Medien herhalten. So meldete die „Welt am Sonntag“ im November 2001: „Die ARD möchte nächstes Jahr in der Fanzeitschrift 11Freunde sechs Doppelseiten mit Anzeigen belegen. Gegenwert: vielleicht 40.000 Mark. Scheitert Deutschland an der WM-Qualifikation, wird der Auftrag storniert – sofort.“ Doch es ging um viel mehr als nur Geld. Oliver Kahn bezeichnet die beiden Partien gegen die Ukraine bis heute als die schlimmsten Spiele seiner illustren und langen Laufbahn, weil ihm die historische Dimensionen nur zu bewusst war. „Man kann so viel verlieren: Als erste deutsche Mannschaft nicht bei einer WM dabei sein – das sind schon sehr unangenehme Vorzeichen, da möchte man nicht schuld sein“, sagte der Titan vor einigen Jahren der Boulevardzeitung „tz“ aus München. „Das hat man immer im Kopf. Der Druck war damals fast unmenschlich.“
Dass alle im Team so dachten, wurde spätestens drei Tage vor dem Spiel in Kiew offenbar. Denn da gab Völler eine Pressekonferenz und konnte anscheinend keinen Satz vollenden, ohne das D‑Wort zu benutzen. „Der Druck ist enorm, und er wird bis zum Spiel stetig anwachsen“, sagte der Teamchef. Er fügte an: „Wir spüren das, aber wir brauchen diesen Druck auch.“ Dann forderte Völler: „Jeder muss sich dem Druck stellen.“ Schließlich gab er zu: „Die Spieler kennen alle gewisse Drucksituationen, aber in dieser Konstellation ist es eben etwas intensiver.“ Und am Ende stellte er fest: „Wenn man bei der Nationalmannschaft ist, dann ist der Druck eben noch eine Stufe höher.“
Nicht alle, die bei der Nationalmannschaft waren, konnten damit umgehen. Das bewiesen die ersten Minuten des Hinspiels in Kiew. Keine zwei Minuten waren gespielt, als Dietmar Hamann am Ball vorbeitrat und Thomas Linke falsch stand. Andrij Worobej von Schachtar Donezk kam im deutschen Strafraum völlig frei vor Kahn zum Schuss – und traf den linken Pfosten. Eine Viertelstunde später wurde Worobej von Jens Nowotny 25 Meter vor dem Tor gefoult. Andrij Schewtschenko führte den Freistoß aus. Der Superstar des AC Mailand wollte dreist unter der hochspringenden Mauer durchschießen, traf aber den einzigen Spieler der stehenblieb: Marko Rehmer. Von dessen Füßen prallte der Ball direkt in den Lauf des kleinen Gennadi Subow, der aus acht Metern zum 1:0 traf. Um 18.18 Uhr stand die Erde am 10. November 2001 für einen kurzen Moment still.
Trotz der frühen Uhrzeit rief der übertragende Sender – Sat.1 – Rekordpreise für die Werbeeinblendungen auf und hatte sogar eine Neuigkeit zu bieten, den sogenannten „Split-Kick“. Dabei sah man auf einem kleinen Teil des Bildschirms Infos zum Spiel, während auf dem größeren ein Werbespot lief. Der Privatsender hatte einen zweistelligen Millionenbetrag für die Rechte an diesem Spiel bezahlt, weshalb dreißig Sekunden „Split-Kick“ nun satte 200.000 Mark kosteten. Das aber schreckte niemanden ab. Alle Werbeplätze waren ausgebucht, als Subow den Ball ins deutsche Tor schoss. Diese Gelegenheit musste man schließlich nutzen, wer konnte schon sagen, ob es im Sommer 2002 noch Gelegenheit geben würde, im Umfeld von Länderspielen zu werben?