Heute vor einem Jahr starb Manfred Burgsmüller. Er war das größte Idol einer ganzen Generation von Dortmunder Fans. Unser Autor ist einer von ihnen.
Es gab eine Zeit, da hatte ich vielleicht nicht täglich, aber doch mehrmals in der Woche mit irgendwelchen prominenten Fußballern zu tun. Die Firma, für die ich arbeitete, war nämlich unangefochtener Marktführer in Sachen Homepages von Profikickern. Ich besuchte Michael Ballack in London, fuhr ins Mannschaftshotel der Bayern, um mit Lukas Podolski die Design-Entwürfe für seine Seite zu besprechen, sagte Bastian Schweinsteiger am Handy, was er in sein neues Auto tanken musste, und besuchte Geburtstagspartys, auf denen Sebastian Kehl oder Christoph Metzelder am Grill standen.
Nicht eine einzige Sekunde lang fand ich das besonders aufregend oder glamourös. Unsere Praktikanten fielen fast in Ohnmacht, wenn sie Benny Lauth sprechen durften oder Thomas Broich auf dem Flur begegneten. Für mich waren das alles Kunden, die mehr oder minder zufällig gut kicken konnten, vor denen man aber nun wirklich nicht in Ehrfurcht erstarren musste.
Überraschender Besuch
Und dann, eines Tages, saß ich im Besprechungsraum und schaufelte ein chinesisches Mittagessen in mich hinein, als jemand unsicheren Schrittes den Gang entlang kam. Es war ein schmaler Mann undefinierbaren Alters, der ein ganz klein wenig zerzaust wirkte, als hätte er auf dem Weg zu unserem Firmengebäude eine Abkürzung durchs Gebüsch genommen. Er stoppte, lehnte sich auf einen Stock und steckte den Kopf durch die Tür.
„Hallo!“, sagte er fröhlich.
Das einzige Geräusch, das von meiner Seite kam, wurde von der Gabel verursacht, die mir aus der Hand und auf den Teller fiel.
Der Mann runzelte die Stirn. „Hallo!“, wiederholte er mit einem leicht besorgten Unterton. Vermutlich glaubte er, ich wäre schwerhörig oder hätte soeben einen Schlaganfall erlitten.
„Oh mein Gott“, stammelte ich. „Manni Burgsmüller.“
„Ja, so heiße ich.“
„Ich glaube, ich falle vom Stuhl“, brachte ich irgendwie hervor.
„Mach sowas nicht, Junge,“ sagte er. „Was ist denn los?“
„Sie sind mein größter Held“, antwortete ich. Kaum waren die Worte raus, da kam ich mir völlig bescheuert vor. Was sollte Burgsmüller denn von uns denken?
„Ach Quatsch“, lachte er. „Nun übertreib mal nicht.“
Aber natürlich war das kein Stück übertrieben. Für jeden Dortmunder meiner Generation war, ist und bleibt Manni Burgsmüller der Größte von allen. Er ist zwar nicht, wie gerade in einigen Nachrufen zu lesen war, der Rekordtorschütze des BVB, denn Adi Preißler gelangen (in allen Wettbewerben) zehn Tore mehr und auch Michael Zorc liegt hauchdünn vor Manni. Doch Zorc spielte zehn Jahre länger für die Borussia als Burgsmüller – und durfte die Elfmeter schießen, wovon noch die Rede sein wird.
Adi Preißler gelangen seine Treffer für eine der besten Mannschaften des Landes, die zweimal Meister und einmal Vizemeister wurde. Er spielte außerdem in der Oberliga West, in der so mancher Gegner schwach auf der Brust war. Manni hingegen schoss 135 Bundesligatore für ein Mittelklasseteam, das sich in den sieben Jahren, die er in Dortmund verbrachte, nur einmal für Europa qualifizieren konnte, und das ohne ihn bald richtig abschmieren sollte. Dabei war Burgsmüller noch nicht mal Stürmer, sondern spielte im offensiven Mittelfeld! Eigentlich kaum zu glauben, dass selbst Stéphane Chapuisat, Robert Lewandowski oder Pierre-Emerick Aubameyang nie an Mannis Torausbeute herankamen.
Verdammt cooler Typ
Aber Tore allein machen noch keinen Helden. Manni war das Idol aller Fans, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern auf der Südtribüne standen, weil er einfach ein verdammt cooler Typ war. Heute reduziert man ihn gerne auf seine fast schon sprichwörtliche Schlitzohrigkeit. Das ist nicht völlig falsch, so erinnere ich mich gerne an ein Abendspiel gegen Werder Bremen im Frühjahr 1982. Kurz vor dem Ende bekam der BVB beim Stand von 0:0 eine Ecke. Manni trabte mit seinem typischen, leicht schlurfenden Laufstil in Richtung Strafraum, wo ihn ein Bremer Manndecker in Empfang nahm. Plötzlich kniete sich Manni nieder und nestelte an seinem Schuh herum. Offenbar war ihm ein Schnürband aufgegangen. Der Verteidiger stand etwas ratlos daneben. Wie deckt man jemanden, der am Boden hockt? Da kam die Ecke herein, Manni sprang auf, machte zwei Schritte nach vorne und köpfte den Ball ins Netz.
Wegen solcher Anekdoten vergisst man manchmal, dass Burgsmüller ein kompletter Spieler war. Vielleicht wie später Andreas Möller, natürlich nicht ganz so schnell, dafür kopfballstärker und kaltblütiger vor dem Tor. Außerdem sah Manni – mit seinen langen Haaren und dem Trikot, das immer aus der Hose hing – einfach geil aus, wenn er kickte. Wären die Haare nicht blond gewesen, hätte man ihn fast für einen dieser eleganten, saucoolen Italiener halten können. Das heißt, bis er den Mund aufmachte und mit seiner Essener Kodderschnauze einen Spruch raushaute.
Angeblich kostete ihn sein Mundwerk die Teilnahme an der WM 1978. Ob der berühmte Dialog zwischen ihm und Bundestrainer Helmut Schön – „Burgsmüller, bleiben Sie auf dem Teppich!“ – „Ich dachte, wir spielen auf Rasen?“ – wirklich so stattgefunden hat, ist nicht belegt. Manche meinen auch, dass Schön den viertbesten Torschützen der Bundesliga nicht mit nach Argentinien nahm, weil Manni die Kritik von Amnesty International am Austragungsort insgeheim zu teilen schien.
Fünf Tore gegen Bielefeld
Wie auch immer, für die Fans war das bloß ein Grund, noch lauter „Manni für Deutschland“ zu rufen. Oder das berühmte „Hey, Manni, Manni“ anzustimmen – ein Gesang, der mir noch dreißig Jahre später so im Ohr klang, dass ich wie besessen recherchierte, um den obskuren Schlager von Michael Holm zu finden, auf dem er basierte.
Tja, und dann stand dieser Held meiner Kindheit und Jugend plötzlich vor mir und meinem Huhn Süß-Sauer. Bevor er zur Geschäftsführung entschwand, musste ich ihn etwas fragen, das mich seit Jahren beschäftigte. Es ging um das legendäre 11:1 gegen Arminia Bielefeld im November 1982. Manni hatte bereits fünf Tore erzielt, als Borussia in der 86. Minute einen Elfmeter bekam. Burgsmüller, der Kapitän, wies Lothar Huber an, den Strafstoß auszuführen, der zum letzten Tor des Tages führte.
Seltsame Frage
„Warum,“ fragte ich Burgsmüller, „haben Sie nicht selbst geschossen? Nur ein einziger Spieler, Dieter Müller, hat jemals sechs Tore in einem Bundesligaspiel gemacht. Sie hätten Geschichte geschrieben!“
Manni blickte mich an, als wäre das eine sehr seltsame Frage. „Lothar war unser Mann für die Elfmeter“, sagte er, „also habe ich ihn gerufen.“
Da fiel mir wieder ein, dass Burgsmüller nach dem Spiel sogar eine Einladung ins „Aktuelle Sportstudio“ des ZDF abgesagt hatte, weil er lieber auf eine Familienfeier ging.
Es war ihm halt alles nicht so wichtig. Und außerdem hatte er ja für uns schon längst Geschichte geschrieben.