Werder war grau, trist und mittelmäßig. Dann kam Johan Micoud. Auftakt zu unserer Serie über unsere Lieblingstransfers.
Nur noch wenige Tage, dann schließt das Transferfenster. Höchste Zeit, zurückzublicken auf die absoluten Lieblingstransfers unserer (ehemaligen) Redakteure.
Ich bin in den späten neunziger Jahren zum Werder-Fan geworden. Also genau rechtzeitig, um die erfolgsverwöhnten späten Achtziger und frühen Neunziger verpasst zu haben. Die Wundertaten von Andy Herzog, Uli Borowka und Wynton Rufer kannte ich nur vom Hörensagen. Dass Werder Bremen jahrelang der heißeste Scheiß der Bundesliga war, musste ich mir erst anlesen. Meine Gegenwart hieß Juri Maximov, Andree Wiedener und Rade Bogdanovic. Feinstes Mittelmaß. Mausgrauer Nieselregenfußball.
Neue Kicker brauchte die Hansestadt!
Thomas Schaaf und Klaus Allofs, die Wunderheiler, hatten zwar schon 1999 ihre Arbeit in Bremen aufgenommen, aber Werder lag nach den großen Otto-Zeiten und dem anschließenden de Mos/Magath/Dixie/Sidka-Kollaps sportlich wie finanziell am Boden, einem tüchtig vermöbelten Kirmesboxer nicht unähnlich. Und mit der bestehenden Werder-Mannschaft zum Jahrtausendwechsel war auch kein Blumenpott zu gewinnen. Neue Buffer brauchte die Hansestadt! Nur, wen sollte man mit dem schmalen Transferbudget nach Bremen locken?
Schaaf und Allofs machten sich an die Arbeit. Entwarfen sich ihr Traumhaus und suchten dann nach bezahlbarem Baumaterial. Zur Saison 2000/01 verpflichtete das Duo den beim HSV vergeblich auf den Durchbruch hoffenden Fabian Ernst und einen bis dato relativ unbekannten Verteidiger namens Mladen Krstajic. Aus der Reservemannschaft wurden Paul Stalteri und Tim Borowski befördert. Kostenpunkt für diese in der Meistersaison 2003/04 tragenden Säulen: 2,25 Millionen Euro.
3,75 Millionen Euro für sechs Spieler der Meistersaison
Ein Jahr später folgten mit Krisztián Lisztes und Ivan Klasnic zwei weitere solcher Säulen für 1,5 Millionen Euro. Insgesamt 3,75 Millionen Euro für sechs spätere Stammspieler der Double-Saison. Daran sollten Werder-Fans denken, wenn sie im Frühjahr 2013 Klaus Allofs die Pest an den Hals wünschen.
Ich will nicht verhehlen, dass daneben auch Rohrkrepierer den Weg nach Bremen fanden. Dong-Gook Lee etwa, ein südkoreanischer Stürmer, der beim Warmlaufen zwar stets frenetisch von der Ostkurve besungen wurde (des drolligen Namens wegen), aber vermutlich als ungefährlichster Stürmer der Werder-Geschichte gelten muss (sieben Spiele, kein Tor). Oder Ivica Banovic, der 2000 mehr kostete als Paul Stalteri, Tim Borowski, Fabian Ernst und Ivan Klasnic zusammen. Oder Roberto Silva, von dem ich heute gar nicht mehr sagen kann, wer das eigentlich genau war. (Laut Internet angeblich ein peruanischer Nationalstürmer, der 2001 1,35 Millionen Euro kostete und in sechs Spielen torlos blieb.)
Dennoch: Als die Transferperiode für die Saison 2002/03 begann, hatten die Architekten Schaaf und Allofs bereits ein gutes Fundament für ihr Traumhaus beisammen. Aber irgendetwas fehlte noch. Das besondere Etwas. Ein Element, um aus stinknormalen Häuslebauern echte Stararchitekten zu machen. Eben eine echte Überraschung. Einer wie Johan Micoud.
Johan, wer? Johan Micoud, 29 Jahre alt, Mittelfeld. Spiele und Tore für AS Cannes, Girondins Bordeaux, AC Parma. Französischer Nationalspieler. WM-Teilnehmer 2002. Mir ging es trotzdem wie den meisten Werder-Fans: der Mann sagte mir nicht viel. Und als weitere Infos über den möglichen Neuzugang bekannt wurden, kamen schnell Zweifel: beim AC Parma saß Micoud nur noch auf der Bank, in der Nationalmannschaft war er ebenfalls nur Ersatz (und hatte Frankreich – mit Micoud! – nicht 2002 das Kunststück vollbracht, als amtierender Weltmeister sieglos in der Gruppenphase auszuscheiden?). Außerdem, und das ging ja nun mal gar nicht in Bremen, sollte der Kerl eine echte Diva sein. Und wie der aussah! So eine Mischung aus heroinchic, Straßenköter und französischer Landschaftsmaler. Na ja.
Das erste Spiel. 10. September 2002, 4. Spieltag. Werder gegen Nürnberg. 4:1. Ein Tor von Micoud, ein Elfmeter an den Pfosten, ein Schlag in die Fresse aller Zweifler. Was. Für. Ein. Fußballer! Ein Zehner, ein echter Spielmacher, ein Techniker, vielleicht ja sogar ein Genie! Mir ging es wie vielen anderen Zuschauern im Weserstadion: Ich war verknallt. Liebe auf den ersten Blick. Du siehst einen Fußballer das erste Mal gegen den Ball treten und weißt: der Typ wird dein Leben verändern! Oder zumindest deinen gewohnten Gang zu Werder-Spielen.
Plötzlich machte alles einen Sinn. Sogar Dong-Gook Lee!
Im Mai 2004 stand ich dann mit tausenden anderen glücksbesoffenen Bremern im Münchener Olympiastadion und verstand die Welt nicht mehr. Werder hatte die Bayern mit 3:1 gedemütigt, angeführt von „Jo“ Micoud, dem Zehner, dem Spielmacher, unserem Genie! Plötzlich ergab alles einen Sinn. Juri Maximov. Rade Bogdanovic. Ja, sogar Dong-Gook Lee!
Wir sangen ein Lied. Sein Lied. Den Abspann des Beatles-Klassikers „Hey Jude“. „Sha-la-la-la-lalala-lalalala-Micouuuuuud…!“ Für mich noch immer der schönste Fangesang aller Zeiten. „Diesen Song“, hat Johan Micoud mal gesagt, „also Hey Jude, den habe ich ja ohnehin schon immer geliebt. Aber jetzt, wo die Fans mich damit auch noch besingen, bekomme ich jedes Mal eine Gänsehaut.“
Ach, Johan Micoud, Danke für alles.