Werder und seine „Wunder von der Weser“. Kein anderer deutscher Klub identifiziert sich so sehr mit legendären Aufholjagden im Europapokal wie Werder Bremen. Heute vor 20 Jahren machten die Bremer aus einem 0:3 gegen den RSC Anderlecht in den letzten 24 Minuten noch ein 5:3. Protokoll des grün-weißen Wahnsinns.
Ein Anruf bei Rune Bratseth. Ob er Zeit habe, sich an ein Spiel zu erinnern, das 20 Jahre zurück liegt? „Klar“, sagt Rune Bratseth, „versuchen wir es.“
Mit Erinnerungen ist es so eine Sache, gerade bei Fußballern. Wie soll das auch gehen? Sich haargenau an ein einziges Spiel zu erinnern, wenn man 15 Jahre lang Profi war und an die 400 Partien absolviert hat?
Uli Borowka hat über die legendäre Aufholjagd von Werder am 8. Dezember 1993 gegen den RSC Anderlecht jedenfalls behauptet: „In der Halbzeit hatte Rune Bratseth seinen berühmten Anfall. Der ›Elch‹, sonst schweigsam wie ein Grab, immer besonnen, immer freundlich, immer höflich, griff sich einen vollen Getränkebecher und schmiss ihn wutentbrannt gegen die Wand. Nur wenige Zentimeter neben den Kopf von Otto Rehhagel. Ich war regelrecht schockiert!“ Dieser Vorfall in Verbindung mit der anschließenden Ansage von Rehhagel sei der nötige „Arschtritt“ gewesen, den die Mannschaft gebraucht habe.
„Da bin ich mal kurz ausgerastet“
Stimmt das, Rune Bratseth? „Ich glaube nicht“, antwortet der Norweger vorsichtig. Immer besonnen, immer höflich. „Das muss in der Halbzeit unseres Gruppenspiels gegen den FC Porto gewesen sein.“ In jener Champions-League-Saison 1993/94. Gastgeber Bremen lag zur Pause mit 0:2 zurück. „Da bin ich mal kurz ausgerastet“, sagt Bratseth. „Hat nur leider nichts genützt.“ Werder verlor die Partie mit 0:5 und schied damit aus.
Doch auch ohne die Legende vom Wüterich Bratseth strahlt jene Partie gegen Anderlecht bis heute Magie aus. Gerade in grauen Werder-Zeiten wie diesen greift der gemeine Bremer zum Rettungsstrohhalm Erinnerung und denkt an eines dieser „Wunder von der Weser“. Und wunderlich war es in der Tat, was sich am 8. Dezember 1993 im Weserstadion abspielte.
Es regnete, es war kalt, es war so ungemütlich, wie es sich anhört. Und Werder bekam die Hucke voll. Ein Reck-Patzer, ein Abwehrfehler, ein Traumtor von Anderlechts Linksfuß Danny Boffin. 0:3. Als die erste Halbzeit endlich beendet war, konnte Werder froh sein, nicht noch mehr Gegentore kassiert zu haben.
Rehhagel musste reagieren, was blieb ihm auch anderes übrig. Also wechselte er Thomas Wolter für den desolaten Andreas Herzog ein und schob Mario Basler auf die Spielmacherposition. Wolter sollte die Drecksarbeit für Basler übernehmen. Was die ersten 20 Minuten „gar nicht klappte“, wie Rehhagel anschließend zugeben musste. Der große Taktiker war mit seinem Latein am Ende. Nach 65 Minuten stand es noch immer 0:3. Jetzt musste schon ein Wunder her.
Wunderbar, wie Dieter Eilts dann in der 66. Minute zwei Gegenspieler mit den Hüften auswackelte und mit einem Maradonaesken Steilpass das 1:3 durch Wynton Rufer einleitete. Verwunderlich, dass Anderlechts Torwart Filip de Wilde eine von Didi Beiersdorfer ziellos in den Strafraum geschlagene Flanke unterlief und Rune Bratseth einköpfen ließ.
„Freut euch lieber, dass der Fußball so ist!“
„Was genau spielt sich in Körper und Geist eines Fußballprofis ab, wenn das Ziel des Spiels erreicht, wenn ein Tor gefallen ist?“, fragte sich der Journalist Peter Hess in einem Nachbericht des Spiels für die „FAZ“. „Wieso löst eine an sich unbedeutende Ergebniskorrektur in der einen Mannschaft eine Euphorie und in der anderen eine Hysterie aus, der sich kein Spieler entziehen kann?“ Anders gefragt: Wie entsteht eigentlich so ein Fußball-Wunder?
„Freunde“, sprach Otto Rehhagel nach dem Spiel, „was sucht ihr nach Erklärungen? Freut euch doch lieber, dass der Fußball so ist.“
80. Minute: Flanke Rufer, Kopfball Hobsch – 3:3.
83. Minute: Pass von Hobsch, Schuss Bode – 3:4.
85. Minute: Wundersame Glanzparade von Oliver Reck, kein Tor.
89. Minute: Abwehrfehler Anderlecht, Flanke Wiedener, Abstauber Rufer – 3:5.
Abpfiff.
Fünf Tore in 23 Minuten. „Wir werden Tage brauchen, bis wir verstanden haben, was sich da abgespielt hat“, bilanzierte Oliver Reck. „Es war ein Alptraum“, sprach der völlig verdatterte RSC-Trainer Johan Boskamp.
Dass Werder in dieser Viertelfinalrunde ausschied, ist den Bremern heute ziemlich wurst. Das Wunder gegen Anderlecht ist geblieben. Schmückt Geschichtsbücher, hält Legenden am Leben und wärmt in Zeiten wie diesen.
Rune Bratseth kehrt zurück aus den Gedanken an den 8. Dezember 1993. Dann wird es ruhig am anderen Ende der Leitung, die sich in Trondheim befindet. Hallo?
„Mist“, sagt der „Elch“. „Hätte ich die Becherwurf-Story mal lieber nicht aufgeklärt. Die Geschichte klang in Ulis Version doch viel viel besser!“