Hannovers Alleinherrscher hat einen „Scheißverein“ zum modernen Dienstleistungsunternehmen gemacht, bezeichnet Anhänger als „Arschlöcher“ und ist auch sonst ein absoluter Fußballromantiker.
1.
Zuerst die Fakten: Martin Kind ist 74 Jahre alt, hat neben der deutschen auch die Schweizer Staatsbürgerschaft und ist nicht nur Präsident von Hannover 96 sowie Geschäftsführer und Eigentümer der Kind Gruppe, sondern gehört ebenfalls zur Hannoveraner Lokalprominenz. Könnte unter anderem daran liegen, dass sein geschätztes Vermögen 650 Millionen Euro beträgt. Ein klassischer Fall von „Selfmade-Millionär“ – Kind ist gelernter Hörgeräteakustikermeister. Eine kompliziertere Berufsbezeichnung hatte vermutlich nur der Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän.
2.
In seiner Rolle als Lokalprominenter Hannoveraner bekam Kind 2006 erst die Stadtplakette von Hannover und 2018 dann die Niedersächsische Landesmedaille verliehen. Andere Träger der letztgenannten sind zum Beispiel Gerhard Schröder und Ferdinand Piëch. Als wäre die Ehre dadurch noch nicht zweifelhaft genug, wurde Kind für „seine Verdienste im Sport ausgezeichnet.“ Denn: „Er hat den Verein organisatorisch und finanziell neu aufgestellt und zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen umstrukturiert.“ Das Fußballromantiker-Herz macht Freudensprünge.
3.
Zugegebenermaßen hat Kind den Verein tatsächlich auf Vordermann gebracht. Erstmals wurde Kind am 26. September 1997 Präsident von 96, nachdem sein Vorgänger Utz Claassen (legendärer Vorname) nach nur 74 Tagen quasi aus dem Amt gejagt worden war. Sowohl sportlich (dritte Liga) als auch finanziell (quasi insolvent) lief damals wenig bis gar nichts zusammen. Unter seiner Ägide stieg Hannover in die Bundesliga auf, das Niedersachsenstadion wurde zur AWD-Arena aus- und umgebaut, sowie der ganze Verein finanziell konsolidiert.
4.
2005 trat Kind nach fast acht Jahren im Amt zurück. Er befand, er habe den Verein ausreichend gut für eine erfolgreiche Zukunft aufgestellt. Die Verantwortung verteilte er anschließend auf mehrere Schultern. Das ging allerdings nur ein Jahr lang gut, dann gab die Vereinsführung wegen Querelen mit den Geldgebern auf. Aufsichtsrat und Fans wollten Kind zurück – und der gnädige Herrscher erhörte sie. Noch am selben Tag übernahm er erneut die Geschicke des Vereins.
5.
Seitdem regiert König Kind ununterbrochen und wie zuvor mit harter Hand. Der Unterschied: Heutzutage würde wohl kaum eine Mehrheit der Fans im Ernstfall nach ihm rufen. Mit jedem Jahr der Regentschaft ist die Beziehung von Volk und Herrscher weiter zerrüttet. Bislang kam Kind zwar noch nicht wie sein Vorgänger Claassen mit Personenschützern ins Stadion, von Zuneigung ist aber nur selten etwas zu spüren. Im Gegenteil. An einem vorläufigen Tiefpunkt im September 2012 bezeichnete Kind einen Teil der Fans als „Arschlöcher“. Die hatten vorher den Ex-Hannoveraner in Diensten des VfL Wolfsburg, Emanuel Pogatetz beleidigt.
6.
Aber wie allgemein bekannt ist, war das nicht das Ende der Querelen, sondern im Gegenteil nur der Anfang. Im Frühjahr 2013 ließ Kind mal eben verlauten: „96 ist ein Scheißverein gewesen, der in über 100 Jahren nichts geschaffen hat.“ Der Mann hat einfach ein untrügliches Gespür dafür, wie man die Fans befriedet.
7.
Ungefähr zeitgleich waren im Hannoveraner Stadion und bei Auswärtsspielen vermehrt „Kind muss weg“-Rufe aus den Fanblöcken zu vernehmen. Die hängen nicht nur mit Kinds Äußerungen über Verein und Fans zusammen, sondern auch mit seinem Kampf gegen die 50+1‑Regel und für eine komplette Übernahme des Stimmrechts in der ausgelagerten Fußballabteilung von 96. 2017 stellte er auch offiziell einen Ausnahmeantrag bei der DFL. Anfang 2018 berichteten verschiedene Medien, dass die DFL plane, den Antrag abzulehnen. Daraufhin ließ Kind seinen Antrag vorerst ruhen, nur um ihn im Mai wieder zu aktivieren. Im Juli gab die DFL dann bekannt, dass sie den Antrag abgelehnt habe. Kind bezeichnete die Entscheidung als „Armutszeugnis“ und läutete den Rechtsstreit ein, Ausgang unbekannt.
8.
Das einzige, was Kind noch auf seiner Seite hat, ist der Erfolg. Seit seiner Amtsübernahme ist der Klub mit Ausnahme der Saison 2015/2016 nur auf‑, nie abgestiegen. Trotzdem hat Hannover, oder besser, hat Kind in seiner insgesamt 20-jährigen Amtszeit 17 verschiedene Trainer gehabt. Dazu gesellen sich weitere 11 Manager. Die hannoversche Halbwertszeit auf diesen Posten sucht liga- oder gar landesweit ihresgleichen. Immerhin: Das Trainer-Manager-Duo Andre Breitenreiter und Horst Heldt ist schon seit anderthalb Jahren im Amt. Scheinbar genug für Heldt, um von einem „Vater-Sohn-Verhältnis“ zum Boss der Bosse zu sprechen.
9.
Allerdings, das muss man zum Leidwesen von Heldt und Breitenreiter sagen, wird Kind das einigermaßen egal sein. Und die Ära der Quasi-Zwillinge bei 96 vielleicht schon bald vorbei sein. Denn Kind sah „seinen“ Verein vor Saisonbeginn wohl so gut aufgestellt, dass er ankündigte, nach fünf Spieltagen sollten schon elf Punkte auf der Habenseite stehen. Tatsächlich sind es zwei. Wie die Vergangenheit zeigt, ist Kind nicht gerade zimperlich, wenn seine Vorstellungen und die Realität etwas auseinanderklaffen. Er hält es dann lieber mit dem ehemaligen Mäzen von Fortuna Köln, Jean Löring, der nach der legendären Halbzeitentlassung von Toni Schumacher sagte: „Ich als Verein musste reagieren.“
10.
Nochmal zurück zum Vermögen. 650 Millionen Euro sind zwar ungefähr 650 Millionen mal so viel, wie der Kontostand des durchschnittlichen 11FREUNDE-Redakteurs am Monatsende. Im Vergleich zu anderen Bundesliga-Mäzenen liegt Kind damit aber abgeschlagen auf einem bemitleidenswerten dritten Platz – hinter Dietrich Mateschitz und Dietmar Hopp. Schwach.