Das Regelwerk des Fußballs gibt einem Schiedsrichter viel Ermessensspielraum. Wie die WM-Geschichte zeigt, erstreckt er sich sogar auf so etwas Unzweideutiges wie die Zeit.
In der vergangenen Woche entschied die FIFA, das WM-Qualifikationsspiel Südafrika gegen Senegal zu wiederholen, da der ghanaische Schiedsrichter Joseph Lamptey die ursprüngliche Partie erwiesenermaßen manipuliert hatte. Diese Begegnung war wahrlich nicht die einzige unter seiner Leitung, die seltsam verlief. Schon im März 2016 sorgte Lamptey für hochgezogene Augenbrauen, als er beim Duell DR Kongo gegen Angola mehr als neun Minuten nachspielen ließ – bis endlich das Tor fiel, auf das er offenbar gewartet hatte.
Allerdings muss nicht gleich Betrug im Spiel sein, wenn ein Schiedsrichter das Verstreichen von Zeit ganz anders wahrnimmt als alle anderen Beteiligten. Denken wir nur an eines der ersten WM-Spiele der Geschichte, ausgetragen am 15. Juli 1930 in Montevideo, Uruguay. Sechs Minuten vor dem Ende der Partie zwischen Argentinien und Frankreich strebte der französische Stürmer Marcel Langiller ungehindert dem gegnerischen Tor zu, um das 1:1 zu erzielen, da pfiff plötzlich der brasilianische Unparteiische Gilberto de Almeida Rego – und zwar die Partie ab. Zwar sah der gute Mann nach ausführlichen Diskussionen mit den zu Recht ungehaltenen Franzosen seinen Fehler ein und setzte das Spiel fort, aber das brachte Langiller seine Torchance nicht zurück. Argentinien gewann 1:0 und stand zwei Wochen später im Finale.
Erste Hälfte der Verlängerung: 23 Minuten
Ist dieser berühmte Fall ein gutes Beispiel dafür, dass Zeit schneller vergehen kann, sobald man in einer Schiedsrichterkluft steckt, so kennt die Geschichte der Weltmeisterschaften auch Spiele, in denen sich für die Referees die Sekunden zu Minuten dehnten.
Da wäre zum einen der Franzose Michel Vautrot. Unter seiner Leitung lief die erste Hälfte der Verlängerung im Halbfinale der WM 1990 zwischen Italien und Argentinien aus unerfindlichen Gründen (angeblich hatte Vautrot ganz einfach vergessen, auf die Uhr zu schauen!) bereits 19 Minuten, da ging Roberto Baggio zu Boden. Vautrot pfiff, beriet sich mit seinem Linienrichter und stellte Ricardo Giusti wegen Tätlichkeit vom Platz. Das führte zu so ausufernden Protesten, dass die erste Hälfte der Verlängerung am Ende 23 Minuten dauerte.
Auch Mister Leslie Mottram hatte es nicht eilig. Der Lehrer aus Wilsontown in Schottland quälte die Zuschauer der strunzlangweiligen Partie zwischen Bolivien und Südkorea bei der WM 1994 nämlich mit 8 Minuten und 36 Sekunden Nachspielzeit. Dabei war während der Partie nichts geschehen, was das nötig gemacht hätte – es war nicht einmal ein Tor gefallen.
Es gibt natürlich auch das gegensätzliche Phänomen. Das WM-Halbfinale 1982 zwischen Frankreich und Deutschland war Mitte der zweiten Hälfte lange unterbrochen, weil Toni Schumacher den eingewechselten Patrick Battiston auf seine ganz eigene Art im Spiel begrüßte. Trotzdem ließ der holländische Referee Charles Cover nur 3 Minuten und 30 Sekunden nachspielen, bevor es in die Verlängerung ging.
Pünktlichkeit ist eine Tugend
Neben der schneller und der langsamer verstreichenden Zeit gibt es im Universum der Unparteiischen auch noch eine dritte Zeitachse. Sie läuft parallel zu jener in der normalen Welt, und zwar so penibel und exakt, dass sie durch nichts, aber auch gar nichts beeinflusst werden kann. Am 3. Juni 1978 beendete der walisische Referee Clive Thomas das WM-Gruppenspiel zwischen Brasilien und Schweden auf die Sekunde genau nach 90 Minuten. Dabei war es ihm völlig egal, dass er den Brasilianern nur Momente vorher einen Eckball zugesprochen hatte und dass das Leder durch den Strafraum segelte, während er seine Pfeife in Gebrauch nahm. Zico köpfte den Ball prompt ins Tor, doch der Treffer galt nicht. Die Begegnung endete 1:1, weshalb Brasilien in der schwereren Zwischengruppe mit Gastgeber Argentinien landete.
Wer jetzt noch daran zweifelt, dass Fußball-Schiedsrichter Zeit anders empfinden, dem sei noch der polnische Referee Stanislaw Eksztajn in Erinnerung gerufen. Am 1. November 1972 leitete er das WM-Qualifikationsspiel zwischen Holland und Norwegen in Rotterdam. Als der norwegische Torwart Per Haftorsen einen Abstoß etwas gemächlich ausführte, blickte Eksztajn auf seine Uhr, eilte hinüber zum Keeper und zeigte ihm die Gelbe Karte wegen Spielverzögerung. Die Partie war noch keine fünf Minuten alt.