Mit Leon Goretzka bleibt der kompletteste deutsche Fußballer langfristig beim FC Bayern. Für den Klub selbst eine hervorragende Entwicklung. Doch es gibt auch einen großen Verlierer.
Rund neun Jahre ist es her, dass Leon Goretzka mit einem blauen Edding die Worte „Madrid, Manchester, Bayern, Schalke, Dortmund, Milan, Juve“ untereinander auf ein weißes Blatt Papier schrieb – und dann mit einem großen X durchstrich. Daneben kritzelte Goretzka das Logo des VfL Bochum, lächelte verschmitzt in die Kamera und lief aus dem Bild dieses mehr oder minder witzigen TV-Sketches, in dem zwei ältere Herren über die Zukunft des Bochumer Wunderknaben mutmaßten, der sich da gerade seine ersten Sporen in der 2. Bundesliga verdiente. Tenor: Alle sind sie hinter ihm her, der ist doch eh nicht mehr zu halten.
Sie sollten Recht behalten. 2013 wechselte Goretzka innerhalb des Ruhrgebiets zum FC Schalke 04 und 2018, unter großer Empörung des königsblauen Anhangs, ablösefrei weiter nach München. Dort, beim FC Bayern, hat der 26-Jährige nun nach drei guten Spielzeiten seinen Arbeitsvertrag bis 2026 verlängert. Leon Goretzka soll ein Herzstück der Mannschaft sein und bleiben, er soll sie über die nächsten Jahre hinweg mit anführen. Dadurch wird ihm die wichtige Rolle zuteil, die er sich durch sein Spiel längst verdient: Denn Leon Goretzka ist der kompletteste Fußballer Deutschlands. „Er ist ein Gesicht unseres Vereins geworden“, sagt Hasan Salihamidzic.
Erarbeitet hat sich Goretzka diesen Status mit seiner Spielweise, die in Sachen Anforderungsprofil an einen zentralen Mittelfeldspieler keine Wünsche übrig zu lassen scheint. Der Bochumer, während seinen ersten Profispielen für den VfL noch als schlaksiger Dribbler unterwegs, ist spätestens in München zu dem Paradebeispiel eines Box-to-Box-Spielers gereift. Rund 15 Kilogramm Muskelmasse soll Goretzka in den letzten anderthalb Jahren zugelegt haben, gepaart mit seiner Körpergröße von 1,89 Metern verleiht ihm das eine spektakuläre Dynamik.
Goretzka ist im Zweikampf extrem robust, schnell auf den Beinen und dazu stark im Kopfball. Mit dem Ball am Fuß kann er das Tempo des Spiels kontrollieren. Goretzka hat ein ausgeprägtes Gespür dafür, wann der einfache Querpass hilft und wann der Tiefenlauf mit Ball. Er ist zu einem Spieler geworden, der den ganzen Platz im Griff hat, der schier auf jeden Spielsituation, egal wo auf dem Rasen sie stattfindet, Einfluss nehmen kann. In 118 Spielen für die Bayern kommt er auf 25 Tore und 26 Vorlagen, längst ist er zu einem der torgefährlichsten Mittelfeldspieler Europas geworden. „Leon ist ein Beispiel dafür, wie sich Spieler hier in München entwickeln können“, sagt Oliver Kahn.
Dass Goretzka das gelungen ist, liegt auch an seinem Freund und Kollegen Joshua Kimmich. Auch der verlängerte unlängst seinen Vertrag, zusammen sollen sie über Jahre unter Julian Nagelsmann laut Salihamidzic „Herz und Seele“ der Bayern-Mannschaft sein. Beide kennen sich schon seit ihren Jugendtagen, auch aus den U‑Nationalmannschaften, zuletzt gründeten sie zusammen die Initiative „We kick Corona“. „Wir haben hier eine außergewöhnliche Mannschaft zusammen, geprägt auch von meinem 95er-Jahrgang. Diese Spieler kenne ich alle schon sehr lange“, sagt Goretzka. Neben ihm und Kimmich gehören auch Serge Gnabry und Niklas Süle dem Jahrgang an, alle vier verbindet eine enge Freundschaft. „Unter Freunden ein solches Niveau zu haben, dass man in jedem Jahr eigentlich jeden Titel gewinnen kann – ich glaube, dass es das nicht nochmal gibt in Europa“, sagt Goretzka.
2020 gewannen Goretzka und Kimmich zusammen die Champions League, hinzu kommen drei gemeinsame Meisterschaften und zwei Pokalsiege. Kimmich ist der statistisch laufstärkste Spieler der Bundesliga, pro Spiel spult er in der Bundesliga durchschnittlich 12,5 Kilometern ab, läuft extrem viele Räume zu und sichert hinter Goretzka ab. So kann der sich immer wieder unbehelligt am gegnerischen Sechzehner ins Offensivspiel einschalten.
Eine Aufgabenteilung, die im Sinne des Spielverlaufs auch immer wieder angepasst werden kann und in der sich die beiden augenscheinlich sehr wohl fühlen: „Es war schon unser Plan, dass wir die nächsten Jahre hier zusammen spielen“, sagt Goretzka. „Joshua ist für mich auch außerhalb des Platzes eine wichtige Bezugsperson geworden, mit der ich mich über alle Themen austausche. Wir fühlen uns nebeneinander auf dem Platz sehr wohl, das passt sehr gut zusammen.“ Und der FC Bayern? Der hat den Wert dieser Mittelfeldachse erkannt und nun für sich geltend gemacht. Zugegeben, sonderlich schwer dürfte den Verantwortlichen diese Entscheidung nicht gefallen sein, und doch sind beide Vertragsverlängerungen ein Ausrufezeichen in Zeiten von Spielerstreiks und einem völlig überhitzten Transfermarkt.
Freuen dürfte das auch Hansi Flick, der nun weiter die Gewissheit hat, zu jedem Nationalmannschaftslehrgang eine hervorragend eingespielte Doppelsechs empfangen zu können. Als Verlierer geht aus der Geschichte hingegen die nationale Konkurrenz hervor. Denn der FC Bayern befindet sich, mal wieder, in der ziemlich luxuriösen Position, die Zukunft von Spielern formen zu lassen, die ihn bereits in der Gegenwart auf ein Niveau heben, das außer Reichweite für die Dortmunds und Leipzigs des Landes liegt. Und der VfL Bochum, für den Goretzka fast sein halbes Leben spielte? Der tritt am Samstag bei den Bayern an und wird, unabhängig vom Ergebnis, mit der Gewissheit nach Hause fahren können, dass er den Weg mitgeebnet hat, den Goretzka nun in München geht. Und das ist immerhin mehr als manch anderer Klub aus der bayrischen Landeshauptstadt mit nach Hause nimmt.