Das WM-Finale 1974 machte aus der sportlichen Rivalität zwischen Holland und Deutschland einen endlosen Konflikt von gesellschaftlicher Tragweite.
Die gesellschaftlichen Parallelen, um diese Rivalität aufzuladen, lagen auf der Hand. Der Zweite Weltkrieg lag noch keine dreißig Jahre zurück. Die Repressalien durch Nazi-Deutschland waren den Niederländern noch genauestens in Erinnerung. Die Zerstörung von Rotterdam im Mai 1940. Fünf Jahre Besatzung durch eine Großmacht, die mit unerbittlicher Härte gegen die Bevölkerung vorging. Die Vorbehalte, die Holländer gegenüber Deutschen hegten, waren zwangsläufig sehr ausgeprägt. Doch die tiefe Abneigung war oft nur unterschwellig zu spüren. Die alten Leute wollten das Grauen der Vergangenheit vergessen.
Leerplan Nederland
Und so gab es im Fußball vor 1974 zahlreiche Grenzgänger, die positiv beim Nachbarn aufgenommen wurden. Helmut Rahn, ein Held von Bern, spielte ab 1960 in Enschede und war vorübergehend sogar Mannschaftskapitän. Horst Blankenburg gewann an der Seite von Johan Cruyff mit Ajax Amsterdam dreimal den Landesmeistercup. In der Amsterdamer Wohnung des Heidenheimers kümmerte sich ein älteres Ehepaar um den Haushalt. Obwohl der Mann im KZ gewesen war, kam man bestens miteinander aus. Für Blankenburgs Kinder waren die Haushälter „Oma“ und „Opa“. Mit Georg Kessler war ein deutscher Übungsleiter mitverantwortlich, dass der niederländische Fußballverband (KNVB) seine Nachwuchsarbeit Ende der sechziger Jahre reformierte. Die verbesserte Talentsichtung („Leerplan Nederland“) unter Kesslers Leitung wurde ein wichtiger Baustein für die Erfolge von Feyenoord und Ajax in den Siebzigern.
Die Sympathien waren beiderseitig: Frans Munck, seit 1950 Keeper in Diensten des 1. FC Köln, war so beliebt, dass er eine Rolle in einem deutschen Heimatfilm bekam. Fred Röhrig aus Den Haag führte Rot-Weiss Essen 1955 zur letzten Meisterschaft der Klubgeschichte. Und doch hatte die jüngere Geschichte eine tiefe Kluft zwischen den Nachbarstaaten gerissen. Als Georg Kessler vorübergehend Bondscoach wurde und die Ergebnisse schuldig blieb, verunglimpften ihn Zuschauer als „Judenmörder“. Willi Lippens, Sohn eines Niederländers, war am Niederrhein geboren und hatte die Wahl, ob er für DFB oder KNVB auflaufen wolle. Sein Vater aber verbot ihm schlichtweg, das Jersey des DFB überzustreifen: „Wenn du das machst, brauchst du nicht mehr nach Hause zu kommen.“
Die Kriegserklärung
Und so lag auch über dem Finale 1974 der unsichtbare Schatten der Vergangenheit. Im Mittelfeld spielte Willem van Hanegem aus Breskens, der bei einem deutschen Luftangriff im September 1944 den Vater, zwei Brüder und eine Schwester verloren hatte. Van Hanegem war der einzige Akteur, der aus seiner Antipathie keinen Hehl machte. Vor Anpfiff hatte er gesagt: „Ich könnte es bis an mein Lebensende nicht verwinden, wenn wir es nicht verhindern, dass sie später grölen, sie seien Weltmeister – und wir nicht.“ Doch genau so kam es. Der 7. Juli 1974 ging als „Schwarzer Sonntag“ in die holländische Geschichte ein. Das Gefühl der Überlegenheit schlug bei einigen im Oranje-Team schlagartig in die Gewissheit um, der Erfolg der Deutschen sei mit unfairen Mitteln errungen worden. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte!
Der schüchterne Bernd Hölzenbein wurde zum Symbol des deutschen Tricksers, weil das Foul an ihm, das zum Elfmeter führte, als Schwalbe identifiziert wurde. Bondscoach Rinus Michels, der Urheber des Spruchs „Fußball ist Krieg“, witterte Sabotage, weil vorm letzten Zwischenrundenspiel gegen Brasilien eine Skandalstory in der „Bild“ erschienen war. Ein Boulevardreporter hatte sich ins holländische Quartier in Hiltrup geschlichen und Johan Cruyff, Rob Rensenbrink, Piet Schrijvers und Pleun Strik Champagner schlürfend im Hotelpool fotografiert, derweil auch einige Damen zugegen waren. Die Geschichte erschien unter dem Titel „Cruyff, Sekt, nackte Mädchen und ein kühles Bad“ und sorgte für nachvollziehbaren Unmut bei einigen Spielerfrauen. Michels antwortete daraufhin bei den WM-Pressekonferenzen nicht mehr auf Deutsch und stilisierte die Schlagzeile zur medialen „Kriegserklärung“ an sein Team.